Einleitung
Der bisherige Verlauf der COVID-19-Pandemie hat Public Health in den Blickpunkt der
öffentlichen und politischen Diskussion in Deutschland gerückt und
zugleich vielfältige Herausforderungen offenbart beziehungsweise
verstärkt. Hierzu gehören Mängel in den politischen
Abstimmungsprozessen im föderalen Krisenmanagement ebenso wie strukturelle
Schwierigkeiten in Form personeller und finanzieller Engpässe, sowohl im
deutschen Gesundheitswesen allgemein als auch speziell im Öffentlichen
Gesundheitsdienst (ÖGD) [1 ]. Die
letztgenannten Herausforderungen werden in der Public-Health-Gemeinschaft
Deutschlands bereits seit einigen Jahren diskutiert [2 ]
[3 ]
[4 ] und waren mehrfach Inhalt verschiedener
Reformbestrebungen [5 ]
[6 ]. Dennoch ist es erst im Zuge der
COVID-19-Pandemie gelungen, diese Aspekte zum Gegenstand tatsächlicher
politischer Reformprozesse zu machen [7 ]. So
haben sich Bund und Länder mit dem zweiten Bevölkerungsschutzgesetz
vom 22.05.2020 und dem Pakt für den ÖGD [8 ] im Jahr 2020 auf zwei umfangreiche
Maßnahmenpakete zur strukturellen Stärkung des ÖGD auf
finanzieller und personeller Ebene geeinigt.
Weit über den ÖGD hinaus wird in jüngsten Reformdebatten
vermehrt kritisch auf die (wahrgenommene) thematische Engführung auf den
Infektionsschutz hingewiesen [9 ], welche in
diesem Beitrag zugunsten einer interdisziplinären und -professionellen
Sichtweise aufgebrochen wird. Dafür wird der Blick auf erste Lehren aus der
COVID-19-Pandemie geworfen, wie sie Mitglieder des Nachwuchsnetzwerkes
Öffentliche Gesundheit (NÖG) in der Anfangsphase der zweiten
Pandemiewelle formuliert haben. Eine solche Perspektive ist von großer
Bedeutung, da Vertreter:innen dieser Gruppe die Entwicklung in den kommenden
Jahrzehnten maßgeblich mitgestalten werden – sowohl hinsichtlich der
konkreten Ausgestaltung der Aufgaben von Public Health und des ÖGD auf
unterschiedlichen Ebenen, als auch in der aktiven Diskussion um die Entwicklung
zukunftsfähiger Lösungsansätze zur Verbesserung der
öffentlichen Gesundheit. Zudem sind es die genannten Herausforderungen, die
Public-Health-Nachwuchskräfte besonders in ihrer Ausbildung und ihrem
beruflichen Werdegang betreffen und die umfassend thematisierten Nachwuchsprobleme
im ÖGD weiter verschärfen [10 ].
Den Herausforderungen der COVID-19-Pandemie für den Schutz und die
Förderung der öffentlichen Gesundheit folgten disruptive
Veränderungen auf politischer sowie gesellschaftlicher Ebene, da kurzfristig
reagiert werden musste. Zugleich bietet die Pandemie jedoch – trotz oder
auch aufgrund der durch sie hervorgerufenen gesamtgesellschaftlichen Krise –
ein Gelegenheitsfenster für eine langfristig wirksame Transformation der
Public-Health-Landschaft in Deutschland. Daher sollen die im Folgenden
präsentierten Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie aus Sicht der
Mitglieder des NÖG und die daraus abgeleiteten Desiderate zielgerichtete und
konkrete Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung von Public Health und die
Förderung der öffentlichen Gesundheit geben.
Methodik
Das Nachwuchsnetzwerk Öffentliche Gesundheit (NÖG) ist ein
informelles Netzwerk von Nachwuchsfachkräften und -wissenschaftler:innen,
Studierenden und Personen mit einem Interesse an Public Health in Deutschland,
welches dem Austausch, der Vernetzung und gemeinsamer Projektarbeit dient
(https:// noeg.org ). In der Zeit zwischen dem 22.10. und
13.11.2020 wurde eine online-basierte Umfrage mittels SoSci Survey zu den
Erkenntnissen aus der COVID-19-Pandemie durchgeführt. Dazu wurden die (zum
Zeitpunkt der Befragung) 416 Mitglieder des NÖG über den
E-Mail-Verteiler des Netzwerks kontaktiert. Das Vorhaben erhielt eine
Unbedenklichkeitsbescheinigung der Ethikkommission der
Ludwig-Maximilians-Universität München (KB 20/006).
Basierend auf vorangegangenen Studien zu COVID-19 und einem diskursiven Prozess unter
den Autor:innen dieses Beitrags wurde ein Fragebogen für die Datenerhebung
entwickelt. Dieser bestand aus sieben qualitativ ausgerichteten
Freitextantwortfeldern, ergänzt um vier quantitative Fragen. Der Fragebogen
behandelte i) die Herausforderungen für Public-Health-Fachkräfte in
der aktuellen Pandemie, ii) persönliche Lehren aus der COVID-19-Pandemie,
iii) Stärken und Schwächen von Public-Health-Fachkräften
sowie iv) den Einfluss der Pandemie auf die Entwicklung von
Public-Health-Fachkräften in Deutschland. Public-Health-Fachkräfte
wurden dabei definiert als Personen, deren primäres berufliches
Aufgabengebiet die öffentliche Gesundheit ist [11 ]. Zudem erfolgte mithilfe eines Rankings
eine Priorisierung von zehn (globalen) Herausforderungen für Public Health,
die über eine narrative, nicht-systematische Literaturrecherche
identifiziert und von den Autor:innen ausgewählt worden waren.
Inferenzstatistische Auswertungen wurden nicht vorgenommen.
Die Freitextantworten wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring
[12 ] für jede Frage getrennt
ausgewertet. Antworten wurden line-by-line kodiert, wobei jede Sinneinheit einer
oder mehrerer bereits vorhandenen Kategorien – basierend auf der
vorangegangenen Literaturrecherche – zugeordnet oder eine neue Kategorie
erstellt wurde. Dieses deduktiv-induktive Vorgehen mündete in ein
Kategoriensystem, in welchem übergreifende Themen ebenso sichtbar wurden wie
Inhalte, die nur von einzelnen Befragten angebracht worden waren. Die hier
vorgestellten Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf mehrfach genannte
Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie. Die Kodierung erfolgte durch jeweils zwei
Personen, divergierende Coding-Ergebnisse wurden daran anschließend in
diesen Teams diskutiert [13 ]. Basierend auf
der Auswertung und unter Rekurs auf jüngere Reformbestrebungen im
öffentlichen Gesundheitswesen formulierten die Autor:innen zehn Desiderate
für zukünftige Entwicklungsprozesse für Public Health in
Deutschland.
Lehren aus der COVID-19-Pandemie
Hohe Aufmerksamkeit für Public Health bei gleichzeitiger thematischer
Engführung auf Infektionsschutz
Viele Befragte berichteten von gestiegener Wertschätzung und Anerkennung
für Public Health und den ÖGD. Die hohe Aufmerksamkeit
für Gesundheitsthemen verstanden die Teilnehmer:innen als
„Momentum“ und „eine historische Chance […], das
Thema Gesundheit besser politisch zu verankern“. Zugleich wurde die
Befürchtung geäußert, dass diese Stärkung nur
ein vorübergehender „politischer Aktionismus“ sein
könnte.
Die verstärkte Aufmerksamkeit wurde jedoch auch ambivalent bewertet, da
eine inhaltliche Einengung auf den Infektionsschutz wahrgenommen wurde. Die
Befragten gaben an, dass aktuell nahezu alle Ressourcen in die
Eindämmung der COVID-19-Pandemie flössen, und somit andere
Themen vernachlässigt würden. Prinzipiell sahen die
Teilnehmer:innen jedoch auch die Möglichkeit einer Erweiterung des
Public-Health-Blickwinkels und bewerteten die aktuelle Situation somit als
Chance, eine Perspektive „über den Tellerrand der Pandemie
hinaus“ einzunehmen. So wurde explizit gefordert, Gesundheit holistisch
und auch im Sinne planetarer Gesundheit zu denken. Die Bekämpfung der
Pandemie sollte nicht nur Maßnahmen zur Reduktion der Fallzahlen
umfassen, sondern auch Maßnahmen, welche die psychische Gesundheit und
die sozialen Determinanten von Gesundheit adressieren. Diese Beispiele zeigen
den Stellenwert einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik (Health in
All Policies ) auf. Diese verlangt koordinierte Aktivitäten, um
systematisch die potentiellen kurz- und langfristigen Auswirkungen von
Maßnahmen verschiedener Akteure und Sektoren auf die öffentliche
Gesundheit zu berücksichtigen [9 ].
Die Etablierung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik ist zwar im
Präventionsgesetz von 2015 angelegt, bislang jedoch nur lücken-
und modellhaft in Deutschland umgesetzt [14 ].
Die Bedeutung weiterer Themen zeigt sich auch in der Priorisierung der
größten globalen Herausforderungen für die Gesundheit
durch die Befragten. Hier nahmen neu auftretende Infektionskrankheiten
(z. B. COVID-19) aufgrund der aktuellen Situation ein hohes Gewicht ein.
Jedoch waren weitere globale Herausforderungen für die Gesundheit, wie
der Klimawandel und der Anstieg nicht-übertragbarer Krankheiten, von
mindestens ebenso großer Bedeutung für die Befragten ([Abb. 1 ]).
Abb. 1 Bewertung globaler Herausforderungen für die
Gesundheit (n =48). Teilnehmende konnten die Themen der
Wichtigkeit nach werten. Angegeben sind jeweils der mediane Rang und die
25. sowie 75. Perzentile, wobei 1 die höchste Priorität
darstellt und 10 die niedrigste.
Desiderate
Die wahrgenommene gesteigerte Aufmerksamkeit und initiierte Stärkung
von Public Health und dem ÖGD spiegeln sich in den jüngsten
Bestrebungen in Gesundheitswesen, Wissenschaft und Politik wider [14 ]
[15 ]. Dennoch sollte die durch die COVID-19-Pandemie begonnene und
geplante Stärkung von Public Health und dem ÖGD aus Sicht
der Nachwuchsfachkräfte
nicht auf den Infektionsschutz beschränkt werden, sondern auf
einem holistischen Verständnis von Gesundheit und
Gesundheitsdeterminanten aufbauen, und daher
eine ressortübergreifende Stärkung von
Gesundheitsförderung und Gesundheitsthemen in allen
Politikbereichen anstreben (Health in all Policies ) sowie die
entsprechenden finanziellen und personellen Kapazitäten
dafür sicherstellen,
die gemeinsame Betrachtung von gesundheitlichen Herausforderungen
für Mensch, Tier und Umwelt im Sinne planetarer Gesundheit
einschließen, und so
zu einer nachhaltigen Stärkung von Public-Health-Lehre,
-Forschung und -Praxis auch über die aktuelle Pandemie
hinaus beitragen.
Verortung und Stellenwert von Public Health in Deutschland
Eng mit dem Thema der öffentlichen Aufmerksamkeit für Public
Health verknüpft ist die Frage nach der Verortung – und damit
auch dem politischen Stellenwert – von Public Health in Deutschland.
Die befragten Mitglieder des NÖG erwähnten wiederholt, dass
Public Health in Deutschland allgemein eine geringe Wertschätzung
erfahre. Dies zeige sich bspw. daran, dass eine nationale
Public-Health-Strategie immer noch fehlt. Dieses Anliegen sowie die Forderung
eines stärkeren Health in all Policies- Ansatz findet sich nicht
nur in der Umfrage, sondern auch in den jüngst veröffentlichten
Eckpunkten für eine Public-Health-Strategie des Zukunftsforums Public
Health [16 ]. Über die nationale
Bestandsaufnahme des Zukunftsforums hinausgehend wurde in der Befragung der
NÖG-Mitglieder deutlich, dass Public Health kommunal, regional,
national, international sowie global (neu) zu denken ist. Neben der Bezugnahme
auf die Rolle der Gesundheitsämter und damit des dezentralen ÖGD
in Deutschland während der Pandemie wurde gleichbedeutend die globale
Perspektive eingebracht. Hierbei wurden insbesondere die durch die Pandemie
entstandenen oder gestärkten Kollaborationen von Public-Health-Akteuren
als große Chance für den Umgang mit globalen Gesundheitskrisen
im Allgemeinen hervorgehoben und gefordert, dass diese auch post-pandemisch
aufrechterhalten werden sollen.
Die Einschätzungen der Befragten hinsichtlich der verschiedenen
Zuständigkeitsebenen für Public Health in der föderalen
Struktur Deutschlands und ihre Bedeutung für die Antwort auf die
COVID-19-Pandemie divergierten dabei jedoch: Von mehreren Befragten wurden die
bürokratischen Ebenen im Gesundheitswesen als starr empfunden und
insbesondere Amtsstrukturen im ÖGD als hierarchisch und innovationsarm
beschrieben. Außerdem wurden fehlende bundesweit einheitliche Regelungen
in den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eher negativ
wahrgenommen. Demgegenüber bewerteten einzelne Teilnehmer:innen die
kleinteilige, lokal angepasste Reaktion durch kommunale Gesundheitsämter
und die Länder als positiv.
Eine weitere Beobachtung der Befragten war, dass Public-Health-Forschung nur
einen begrenzten Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse und
gesellschaftliche (Fehl-)Informationsprozesse hat (siehe hierzu auch [17 ]). Insbesondere Gesundheits- und
Wissenschaftskommunikation wurden jedoch als entscheidende Instrumente
angesehen, um gesundheitsbezogene Themen in der Bevölkerung zu
verankern. Transparenz politischer Entscheidungen und kontinuierliche
Aufklärung über relevante Gesundheitsthemen wurden hier von den
Befragten als entscheidende Eckpfeiler gesehen, um ein stärkeres
Bewusstsein für die Bedeutung von Public Health auch in die breite
Bevölkerung zu tragen.
Desiderate
Aus dem in der Befragung wiederholt thematisierten bislang untergeordneten
Stellenwert von Public Health folgt angesichts der aktuellen sowie
zukünftiger globaler Gesundheitskrisen:
Public Health ist übergreifend zu denken, indem auf
kommunaler Ebene (inter-) nationale sowie regionale Aspekte mit zu
berücksichtigen sind. Zudem dürfen
Überlegungen im globalen Kontext nicht losgelöst von
Auswirkungen auf Kommunen, Regionen und Nationen erfolgen.
Verbesserte Kommunikationsstrukturen und -prozesse sind entscheidend,
damit die Public-Health-Perspektive in der allgemeinen Diskussion zu
gesundheitsbezogenen Themen zum Tragen kommt.
Die Public-Health-Gemeinschaft sollte die Sichtbarkeit in der
Pandemie nutzen, um langfristig als starke Stimme für
Gesundheit in Deutschland wahrgenommen zu werden. Dazu
gehört die Herausbildung einer gemeinsamen
Identität.
Public Health: Strukturen und Fachkräfte
Die Umfrageergebnisse zeigen besonders, wie sich bestimmte Aspekte der
Public-Health-Strukturen in Deutschland auf die Arbeit von
Public-Health-(Nachwuchs-)Fachkräften während der
COVID-19-Pandemie auswirkten.
Ein großes Augenmerk der Befragten lag auf dem ÖGD sowie dessen
jahrelanger Unterfinanzierung und den damit verbundenen Engpässen in der
personellen Ausstattung und der digitalen Infrastruktur, welche als
große Defizite und Herausforderungen beschrieben wurden. Während
eine positive Bewertung der aktuellen finanziellen und personellen
Stärkung des ÖGD erfolgte, wurde auch Unklarheit dahingehend zum
Ausdruck gebracht, wie nachhaltig und flächendeckend diese ist. Die
Befragten, die sich hierzu äußerten, einte jedoch die Hoffnung
auf ein größeres Stellenangebot und weitergehende Finanzierung
für Global Health und Public Health (Forschung) in den kommenden
Jahren.
Neben den fehlenden Ressourcen im ÖGD wurde in der Befragung ein Defizit
an Innovationskraft und positiver Außenwahrnehmung des Berufsbildes
problematisiert. Speziell für den ÖGD gingen diese Defizite mit
hoher Arbeitsbelastung und damit zusammenhängendem Zeitmangel einher.
Dies bremse Innovationen und erschwere notwendige, auch über das akute
Krisenmanagement hinausgehende Tätigkeiten (z. B.
Öffentlichkeitsarbeit).
Als kurzfristige Strategien, um die genannten Defizite auszugleichen, wurde ein
hohes Maß an intrinsischer Motivation unter den Fachkräften
sowie die Bereitschaft zur „schnellen Reaktion und ständigen
Anpassung an die aktuelle Lage“ angeführt. Auch die rasche
Mobilisierung personeller Ressourcen im ÖGD, wie etwa durch Initiativen
von (Medizin-)Studierenden [18 ], wurde
positiv bewertet, stelle jedoch nur eine kurzfristige
Überbrückungsstrategie dar.
Zwei weitere, in der Befragung dominierende Punkte erfordern einen
längerfristigen Ansatz: die Förderung interdisziplinärer
Zusammenarbeit sowie die Qualität der Ausbildung.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung der Expert:innen im
öffentlichen Gesundheitswesen wurde als aktuell unzureichend kritisiert.
Eine breite interdisziplinäre Zusammensetzung auch über
„klassische“ medizinische und
Public-Health-Studienabschlüsse hinaus wurde als wertvoll und notwendig
für die Bewältigung aktueller und zukünftiger
Herausforderungen angesehen. Dementsprechend wurde die Dominanz einzelner
Fachdisziplinen in der öffentlichen Gesundheit als problematisch und
innovationshemmend eingeschätzt. Darüber hinaus verwiesen die
Befragten auf fehlende professionelle Netzwerke der
Public-Health-Fachkräfte. Der Austausch auf Augenhöhe zwischen
verschiedenen Public-Health-Akteuren im Kontext der Pandemie wurde daher als
positiver Faktor bewertet und eine Intensivierung dieser Kooperationen (auch
über Deutschland hinausgehend) gewünscht.
Schließlich wurde die Qualität der Aus- und Weiterbildung von
Public-Health-Fachkräften in der Umfrage mehrfach angeführt. Die
Antworten der Befragten bildeten dabei ein breites Spektrum an
Eindrücken ab, das von einem „guten“ Ausbildungsstand
der Public-Health-Fachkräfte bis zu deutlichen Defiziten reicht[1 ]. Während speziell medizinisches
Wissen und die Erfahrung von in Public Health tätigen Ärzt:innen
für bestimmte klinische Einschätzungen in der Pandemie als
wertvoll erachtet wurden, kritisierten die Befragten gleichzeitig eine mangelnde
epidemiologische Ausbildung des (ärztlichen) Personals. Dieses Defizit
an wissenschaftlicher und epidemiologischer Expertise werde auch durch den zu
geringen Anteil an spezialisierten Epidemiolog:innen und
Public-Health-Fachkräften im öffentlichen Gesundheitswesen
verschärft. Neben der mangelnden Bekanntheit von Public Health als
Disziplin schließt sich hier der Kreis zu der allgemeinen strukturellen
Schwäche des öffentlichen Gesundheitswesens und besonders des
ÖGDs: den fehlenden personellen Ressourcen. In der Zusammenschau
führt dies vor allem im ÖGD dazu, dass häufig –
und insbesondere angesichts des Ausmaßes der aktuellen COVID-19-Pandemie
– viele Fachkräfte Aufgabenbereiche übernommen haben,
für die sie nicht oder (anfangs) nur unzureichend qualifiziert
waren.
Im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen der Fachkräftesituation
in Public Health wurden die Zunahme des Bekanntheitsgrades sowie eine positive
„Image“-Veränderung des Berufsbildes von
Public-Health-Fachkräften als potentielle positive Entwicklungen
genannt.
Die Aussagen der Teilnehmenden decken sich mit verschiedenen Problemanalysen, die
Public Health in Deutschland im Gesamten sowie dem ÖGD im Speziellen
wesentliche strukturelle Defizite im Umgang mit der Pandemie [16 ] und darüber hinaus anhaltenden
Fachkräftemangel [19 ] attestieren.
Die COVID-19-Pandemie hat aufgezeigt, dass eine Reform der
Public-Health-Strukturen überfällig ist, und sie verdeutlicht
die Dringlichkeit eines systematischen Reformprozesses inklusive zielgerichteter
Bedarfs- und Problemanalysen. Dabei ist es wichtig, das Public-Health-System
Deutschlands über den ÖGD hinaus in den Blick zu nehmen.
Vorrangiger Dreh- und Angelpunkt sind dabei Fragen nach Ressourcen, aber auch
eine Steigerung von Bekanntheit, Attraktivität und Transparenz des
Berufsbildes als Public-Health-Fachkraft [10 ] und der Vielseitigkeit der deutschen
Public-Health-Landschaft.
Desiderate
Aus den Einschätzungen hinsichtlich der
Public-Health-Fachkräfte und -Strukturen resultieren die folgenden
Desiderate:
Personelle Ressourcen im ÖGD aber auch im weiteren
Public-Health-System in Deutschland müssen langfristig
quantitativ und qualitativ gestärkt werden.
Nachwuchsprobleme können adressiert werden, indem in
gesundheits- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen,
einschließlich der Medizin, frühzeitig auf eine
praktische Tätigkeit in Public Health aufmerksam gemacht
wird, z. B. über:
eine stärkere Vernetzung und Austausch zwischen
Hochschulen und Public-Health-Praxis mit wechselseitiger
Anerkennung von Ausbildungsinhalten und
-tätigkeiten, und
verbesserte Möglichkeiten zur internationalen Aus-
und Weiterbildung.
Conclusio
Die dargestellten Lehren aus der COVID-19-Pandemie machen deutlich, dass
Public-Health-Nachwuchskräfte in Deutschland eine Steigerung der
Aufmerksamkeit für Public Health wahrnehmen, die sowohl mit Problemen
– wie einer thematischen Engführung auf den Infektionsschutz
– verknüpft ist als auch große Chancen für eine
Reform des Public-Health-Systems in Deutschland bietet. Diese Wahrnehmung spiegelt
sich in der medialen Berichterstattung über Public Health während
der Pandemie und in der Vielzahl politischer Äußerungen und
Handlungen relevanter Public-Health-Akteure in Deutschland wider. Während in
der Öffentlichkeit jedoch aktuell vorrangig der disruptive Charakter der
Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch die COVID-19-Pandemie
thematisiert wird, gilt es, aus den aktuellen Anstrengungen und Herausforderungen
für Public-Health-Fachkräfte Lehren zu ziehen und diese in positive
Entwicklungen für Public Health als Disziplin und Berufsfeld zu lenken.
Die diesem Diskussionsbeitrag zugrunde liegende Untersuchung war nicht
repräsentativ und hatte mit n =58 (Response: 13,9%)
eine vergleichsweise geringe Zahl an Teilnehmer:innen, was durch das kurze
Zeitfenster der Befragung und zum anderen durch die dynamische Situation und
Belastungen in der Pandemie bedingt gewesen sein mag. Jedoch zeigen insbesondere die
Freitextantworten vielfältige Perspektiven und Erkenntnisse auf, die hier
als Desiderate aufgegriffen wurden.
Diese Desiderate sind dabei nicht ‚für die Zeit nach der
Pandemie‘ gedacht. Ihre Verwirklichung sollte bereits jetzt vorbereitet, in
einem gemeinsamen Prozess kritisch diskutiert und mit konkreten Maßnahmen
umgesetzt werden. Angesichts der vielfältigen und vielschichtigen globalen
Gesundheitskrisen, insbesondere im Kontext planetarer Gesundheit, aber auch im
Angesicht sich ankündigender weiterer Pandemien, sind Public-Health-Systeme
vonnöten, welche die Spannweite von globaler zu lokaler Ebene
berücksichtigen und die Komplexität gesundheitlicher
Zusammenhänge über einzelne Sektoren hinweg erfassen (Health in
all Policies ). Während Public-Health-(Nachwuchs-)Fachkräfte
und -Wissenschaftler:innen durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und
breites Fachwissen die Expertise haben, die transformativen Prozesse in Public
Health mitzugestalten, braucht dieser Prozess ebenso politischen Willen und
Tatkraft.
Reformbedarfe des Public-Health-Systems in Deutschland wurden auf mehreren Ebenen
identifiziert. Auf der Ebene der Fach-Community in Public Health sind professionelle
Vernetzung und interdisziplinärer Austausch unter Einbindung von
Nachwuchsfachkräften zu verstärken. Die Förderung
interdisziplinärer Zusammensetzung und Zusammenarbeit im
öffentlichen Gesundheitswesen Deutschlands sind dabei nicht nur eine
notwendige Maßnahme im Angesicht vielfältiger
Gesundheitsherausforderungen, sondern auch eine wichtige Chance zur
Attraktivitätssteigerung des Berufsfeldes sowie zu inhaltlich breiter und
gleichzeitig fachspezifischer Stärkung der personellen Ressourcen und
Innovationskraft. Insbesondere die interdisziplinäre Stärkung muss
auf allen politischen Ebenen des föderalen Systems mit langfristiger
personeller und finanzieller Stärkung einhergehen – im ÖGD,
wie auch im weiteren Public-Health-System. Auf den politischen Ebenen sollte
darüber hinaus mit der Umsetzung einer gesundheitsfördernden
Gesamtpolitik eine holistische Public-Health-Perspektive Anwendung finden.
Die im Rahmen der Pandemie initiierten Prozesse zur Stärkung von ÖGD
und Public Health können einen Anstoß für zukünftige
Reformen geben, sind aber selbst nicht ausreichend und nachhaltig. Die auf
Initiative des Zukunftsforums Public Health entwickelten und Anfang dieses Jahres
veröffentlichten Eckpunkte für eine Public-Health-Strategie
für Deutschland stellen mögliche Leitplanken für einen
nachhaltigen Reformprozess dar. Für eine nachhaltige Neustrukturierung gilt
es nun, das Momentum der transformativen Kraft der COVID-19-Pandemie für
Public Health zu nutzen und den Problemanalysen Taten folgen zu lassen.
Erratum
Im oben genannten Artikel wurde die geteilte Erstautorinnenschaft
ergänzt: *geteilte Erstautorinnenschaft und der Name
einer Autorin korrigiert. Richtig ist: Sophie Gepp