Aktuelle Rheumatologie 2022; 47(01): 48-55
DOI: 10.1055/a-1626-9331
Übersichtsarbeit

Digitalisierung in der Rehabilitation von rheumatischen Erkrankungen: Was ist sinnvoll, was ist bewiesen, welche Perspektiven gibt es?

Digitisation in the Rehabilitation of Rheumatic Diseases: What is Useful, What is Proven, What are the Perspectives?
Christian Sturm
1   Klinik für Rehabilitationsmedizin, MH Hannover, Hannover, Deutschland
,
Jörg Schiller
1   Klinik für Rehabilitationsmedizin, MH Hannover, Hannover, Deutschland
,
Christoph Korallus
1   Klinik für Rehabilitationsmedizin, MH Hannover, Hannover, Deutschland
,
Christina Lemhöfer
2   Institut für Physiotherapie, Universitätsklinikum Jena, Jena, Deutschland
,
Christoph Egen
1   Klinik für Rehabilitationsmedizin, MH Hannover, Hannover, Deutschland
,
Christoph Gutenbrunner
3   Institut für Balneologie und Med. Klimatologie, Med. Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

In Deutschland besteht ein deutlicher Mangel an internistischen Rheumatologen. Um diese Versorgungslücke zu reduzieren, können verschiedene technische Anwendungen genutzt werden. Dies reicht von der Hilfe bei der Früherkennung und Diagnostik für Hausärzte, über Konsilsysteme mit Telemedizin, bis hin zur Videosprechstunde mit den Patienten nach Koordination in einem entsprechenden Netzwerk, das stufenförmig aufgebaut ist, um die vorhandenen Spezialisten möglichst effektiv einzusetzen. Auch Apps für die Nutzung am Smartphone oder Tablet können sowohl Ärzte in Diagnostik und Therapie unterstützen, aber auch vielfältig Patienten bei den jeweiligen Krankheitsbewältigungen helfen. Eine Sonderform sind dabei „Digitale Gesundheitsanwendungen“ (DiGAs), die geprüft wurden und als Medizinprodukte zugelassen und verordnungsfähig sind. Für die Unterstützung von Bewegungsübungen, wie sie bei rheumatischen Erkrankungen so wichtig sind, kommen auch Telemedizinische Assistenzsysteme in Betracht, bei denen über 3D-Kamera und Computeranalyse zu Hause ein individuelles Übungsprogramm angeleitet und kontrolliert wird. Studien zu Anwendungen und Bewertungsoptionen für Apps liegen bereits einige vor, hier besteht aber noch hoher Nachholbedarf.


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Abstract

Among doctors for internal medicine, there is a clear shortage of rheumatologists in Germany. To reduce this unmet need, various technological applications can be used, ranging from tools for early detection and diagnostic investigation for general practitioners through to telemedical consultation systems or video consultation hours with patients based on prior coordination in an appropriate network that is built up in stages in order to use existing specialists as effectively as possible. Apps for use on smartphones or tablets can support doctors in diagnostic evaluation and treatment, but also help patients cope with illnesses in a variety of ways. A special form of these applications is called “digital health applications” (DiGAs). These have been tested and are approved as medical products and can be prescribed by doctors. Telemedical assistance systems can be considered for the support of movement exercises, which are so important in rheumatic diseases. These systems can be used for an individual exercise program instructed and controlled at home using a 3D camera and computer analysis. A few studies on applications and evaluation options for apps are already available, but high pent-up demand continues to exist.


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Einleitung

Rheumatoide Erkrankungen sind sehr vielfältig in ihrer Ausprägung und auch im Pathomechanismus. Daher ist eine hohe Spezialisierung in der Diagnostik und Therapie erforderlich. Leider gibt es viel zu wenige der entsprechend spezialisierten Kolleginnen und Kollegen, um der hohen Nachfragen nachzukommen. Dies gilt besonders auch in den ländlichen Regionen. Laut Deutscher Gesellschaft für Rheumatologie ist nicht mal die Hälfte des rechnerischen Bedarfes an internistischen Rheumatologen in der Versorgung gedeckt [1] Da ein rascher Therapiestart bei vielen der rheumatoiden Erkrankungen aber nach Beginn der Beschwerden sehr wichtig für die Vermeidung von Gelenkerosionen ist, kann der Mangel an schneller Diagnostik und gezielter Therapie den weiteren Verlauf wesentlich beeinflussen [2]. Eine frühe korrekte Diagnose und medikamentöse Einstellung kann dabei über eine mögliche vollständige Remission mitentscheiden.

Um dieses Missverhältnis aus Angebot und Nachfrage zu reduzieren, wurden bereits Koordinations- und Kooperationsmodelle getestet, um die Versorgungsqualität zu verbessern [3]. Um dabei die Personen im ländlichen Bereich ebenfalls zu erreichen, wurde sogar eine „Rheuma-Bus-Tour“ unternommen, um Primärdiagnostik vor Ort zu erleichtern [4].


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Videosprechstunde

Ein anderer Ansatz dazu ist die Telemedizin in ihrem Spektrum von Befundaustausch, Konsilen, bis hin zu Diagnostik und therapeutischer Begleitung bspw. als Video-Sprechstunde. Dieser Ansatz hat unter den Bedingungen der Corona-Pandemie viel Aufwind erfahren, da nahezu alle medizinischen Bereiche hiervon Gebrauch machten und es zum Erhalt der Versorgung, aber auch zur Vermeidung von Ansteckungen sogar gewünscht und gefördert wurde. Es wurden bspw. zum zweiten Quartal 2020 die Beschränkungen aufgehoben, dass nur maximal jeder fünfte Patient ausschließlich per Videosprechstunde betreut werden darf und nur maximal 20% der Leistungen per Video durchgeführt werden dürfen [5].


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Technische Anforderungen

Die technischen Anforderungen für die Nutzung von Videodiensten in der Praxis sind in der Anlage 31b zum Bundesmantelvertrag-Ärzte zwischen der kassenärztlichen Bundesvereinigung, und dem GKV-Spitzenverband geregelt. Eine aktualisierte Fassung ist zum 20. März 2021 in Kraft getreten. Insbesondere die Anforderungen an IT-Sicherheit und Datenschutz sind hier Schwerpunkt mit der entsprechenden Pflicht zum Nachweis [5]. Bezüglich der Videodienstanbieter wird eine Liste der zertifizierten Anbieter immer wieder aktualisiert angeboten [6].


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Durchführung einer Videosprechstunde

Nach Auswahl eines zertifizierten Videodienstanbieters und Registrierung können Termine entweder über die Praxis oder den jeweiligen Dienstanbieter den Patienten angeboten werden. Der jeweilige Patient muss vor der ersten Videosprechstunde seine Einwilligung zu dieser Form der Kommunikation geben. Dies kann ebenfalls über die Praxis oder den Videodienstanbieter erfolgen. Zur Sprechstunde loggen sich der Patient und der Arzt beim jeweiligen Videodienstanbieter ein. Der Patient wartet je nach Software in einer Art Online-Wartezimmer, bis er zur Sprechstunde frei geschaltet wird. Nach der Konsultation melden sich beide Seiten aus dem Anbieterportal ab. Der Arzt dokumentiert das Gespräch in der eigenen Praxissoftware.

Dies ist auch bei Patienten möglich, die bisher nicht in der Praxis bekannt sind. Dazu hält er zu Beginn der Videosprechstunde seine elektronische Gesundheitskarte in die Kamera. So kann die Identität geprüft und die notwendigen Daten vom Personal der Praxis erfasst werden. Der Patient muss zudem mündlich bestätigen, dass ein Versicherungsschutz besteht. Für die Identitätsprüfung ist für die Praxis ein „Zuschlag Authentifizierung“ berechnungsfähig

Die Vergütungen und ggf. Zuschläge für Videosprechstunden erfolgen nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab im Rahmen der Gebührenordnung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) [7]:

Die Option Videosprechstunde hat besonders in der Versorgung von Personen mit dem Verdacht oder einer bestätigten rheumatoiden Erkrankung hohe Bedeutung, da durch Kooperationen von heimatnahen Ärzten (z. B. Hausärzte, Orthopäden…) und spezialisierten Rheumatologen auch über räumliche Distanzen hinweg gemeinsam gearbeitet werden kann, ohne lange Anreisen für die Patienten und mit effizientem Zeitmanagement für die Praxen. Dies könnte bspw. nach einem gezielten Screening über eine Koordinationsstelle vermittelt werden, wie es auch schon im Projekt „Rheuma-VOR“ durchgeführt wurde. In diesem Projekt konnte bestätigt werden, dass die Kapazität der Rheumatologen durch diese koordinierte Kooperation entlastet werden konnte [4].


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Apps und web-basierte Interventionen für Patienten

Für elektronische Anwendungen gab es schon früh Hinweise darauf, dass sie auch oder sogar besonders bei chronischen Erkrankungen unterstützen können. Es zeigten sich unterschiedliche gemeinsame Elemente in einem systematischen Review über interaktive web-basierte Interventionen im Umfeld chronischer Krankheiten, die möglicherweise in eHealth-Empfehlungen übertragen werden könnten. Die Studienqualität der untersuchten Arbeiten war allerdings sehr inhomogen. Es wurde aber geschlussfolgert, dass solche Anwendungen eine Grundlage für das Design eines interaktiven eHealth-Ansatzes zur Verbesserung der Selbstbestimmung von Patienten und der körperlichen Aktivität sein könnten. Sie könnten den Gesundheitszustand und die Lebensqualität möglicherweise verbessern und den Bedarf an unterstützender Pflege reduzieren [8].

In einer Übersichtsarbeit waren 24 passende Studien zu Gesundheits-Apps identifiziert worden. Diese waren in erster Linie Machbarkeits- und Pilotstudien von Apps mit kleinen Stichprobengrößen. Inhaltlicher Schwerpunkt der Apps waren Verhaltensstrategien, wobei die Selbstüberwachung das häufigste Konstrukt war. Die Akzeptanz von Handy-Apps war bei den Handy-Nutzern dabei hoch.

Außer dem Bedarf an großen Stichproben für entsprechende Studien wurde geschlussfolgert, dass die bisherigen Daten darauf hinweisen, dass Apps von den Nutzern gut angenommen werden. Basierend auf den verfügbaren Forschungsergebnissen können mobile Apps als praktikables und akzeptables Mittel zur Durchführung von Gesundheitsinterventionen angesehen werden. Strenge Untersuchungen und Bewertungen wurden aber als erforderlich genannt, um die Wirksamkeit zu bestimmen und Beweise für eine Bewährung des jeweiligen Verfahrens zu erbringen [9].

Das Spektrum von Apps, die bei rheumatologischen Erkrankungen hilfreich sein können, ist dabei sehr groß.

Die Deutsche Rheuma Liga bietet die App „Rheuma-Auszeit“ an. Diese soll als Alltagsbegleiter konkrete und praktische Empfehlungen geben, die Patienten sofort anwenden können und die bei der Bewältigung von rheumatischen Schmerzen unterstützen [10].

Diese App ist laut Anbieter so konzipiert, dass möglichst wenig personenbezogene Daten erhoben werden. Es gibt Anleitungen zu Übungen aus den Bereichen Entspannung und Bewegung, um aktiv dem Schmerz entgegenzuwirken. Konkrete praktische Anleitungen gibt es zu folgenden Bereichen:

  • Progressive Muskelentspannung & Passive Entspannung

  • Selbstmassage

  • Gedankenreisen

  • Kälte- & Wärmebehandlungen

  • Bewegungstraining

Zu allen Übungen werden Hinweis gegeben, in welcher Position die jeweilige Übung korrekt auszuführen ist. Die Bewegungsübungen, zu denen kein Video vorliegt, werden durch Fotos erklärt. Viele Übungen liegen als Audio-Dateien vor, um sie auch unterwegs über Kopfhörer nutzen zu können. Anleitungen, die häufig genutzt werden, können als Favorit abgespeichert werden. Verfügbar für iOS und Android-Geräte.

Apps zur Selbsthilfe sind dabei auch mit dem speziellen Schwerpunkt Rheuma vielfältig.

Daher sollen folgend einige Einsatzmöglichkeiten solcher Apps genannt werden, dabei sei darauf hingewiesen, dass es sich dabei nur um eine Auswahl handeln kann.

Ein Einsatzbereich für solche Apps ist die Dokumentation als Gesundheitstagebuch. Speziell für Rheuma gibt es dafür bspw. die App „RheumaBuddy“, die auch spezielle Symptome wie Morgensteifigkeit oder Arthritisschmerzen abfragt, um ein Verlaufsprotokoll zu erstellen. Diese wurde 2019 von der Rheumaliga Schweiz vorgestellt und war in enger Zusammenarbeit mit Rheumatologen und Patienten entwickelt worden.

Neben dieser Funktion erinnern Apps wie „MyTherapy“ auch an die pünktliche Medikamenteneinnahme, die dann per Click bestätigt wird. Hohe Compliance in der Medikamentennutzung ist bei rheumatologischen Erkrankung von hoher Bedeutung und kann so gefördert werden.

Es gibt eine große Zahl an Apps, die eine gesunde Ernährung fördern, die auch Spezifizierungen wie vegetarisch oder Fischgerichte zulassen. Ein Beispiel aus vielen, aber nicht Rheuma spezifischen wäre „Kitchen Storys“.

Neben der genannten App „Rheuma-Auszeit“ gibt es auch viele weitere Apps für mehr Achtsamkeit und Entspannung. Diese sollen dazu beitragen, den Stress des Alltags und der Erkrankung für einige Zeit zu vergessen. Mentale Entspannung soll dabei auch dem Körper etwas Ruhe bringen. Meditations-, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen sollen über die positiven Effekte auf den Geist für den Alltag und den Umgang mit der Erkrankung stärken. Neben den vielen Meditations- und Achtsamkeits-Apps gibt es auch Apps wie „Relax Melodies“, die zur Nacht helfen können, besser einzuschlafen.

Der Bereich der Förderung von Muskulatur und Beweglichkeit ist ebenfalls multiple besetzt. Hier reicht das Spektrum von Muskelentspannungstechniken, über moderate Bewegungsübungen bis hin zum harten Training von Kraft und Ausdauer. Eine vorsichtige Wahl der Belastungsart und Intensität ist dabei dem jeweiligen Gesundheitszustand immer anzupassen, ggf. auch tagesaktuell im Verlauf angepasst.

Gerade für unterwegs können auch Apps hilfreich sein, die bei der Suche nach Apotheken und passenden Ärzten helfen.

Die App „BundesArztsuche“ zeigt bspw. Rheumatologen und andere Fachärzte nach Region sortiert an, so dass Patienten sich ggf. auch im Akutfall heimatfern untersuchen und ein Rezept ausstellen lassen können. Auch zum ärztlichen Bereitschaftsdienst 116117 gibt es eine gleichnamige App.

Die App „Apothekenfinder“ zeigt nicht nur über 20 000 Apotheken in naher Umgebung an, sondern informiert auch darüber, wo gerade Notdienst geleistet wird, falls mal das eigene Präparat ausgeht oder akute Beschwerden auftreten.


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Apps und web-basierte Interventionen für medizinisches Personal

Hier sind die beiden Zielgruppen zu unterscheiden, nach Apps, die ärztlichen Kollegen verschiedener Fachrichtungen helfen, eine rheumatoide Erkrankung zu erkennen und Basisinformationen liefern, wie der „ÖGR RheumaGuide“. In dieser App erfolgen Hilfestellungen bei Diagnostik und Therapie bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises basierend auf der Kurzfassung der 2013 herausgegebenen Leitlinien für die Praxis RA, PsA und SpA. Apps wie „RAVE Mobile (Rheumatology Advanced Vital Education)“ bieten Hilfe bei Scoreberechnungen bei ankylosierender Spondylitis, Psoriasisarthritis und rheumatoider Arthritis, sowie englischsprachige Fortbildungsinhalte.

Als zweite Zielgruppe gibt es auch für die spezialisierten Rheumatologen hilfreiche Anwendungen: Apps wie „RheumaHelper“ können Berechnungen vereinfachen mit Tools zur Diagnoseklassifikation von 19 Krankheiten und 12 Aktivitätsscores.

In der spezifischen Diagnose ggf. auch hilfreich ist die App „RAUSSA (Rheumatoider Arthritis Ultraschall Synovitis Scoring Atlas)“. Sie leitet an zur Sonografie und Duplexsonografie von Gelenken und Sehnen mit Darstellung der korrekten Schnittebenen am anatomischen Präparat und liefert beispielhafte Befunde aller Stadien.

Als Bilddatenbank könnte ggf. auch für Präsentationen und Vorträge die App „Thieme Rheumatologie visuell“ einen Beitrag leisten. Hier werden klinische u. radiologische Befunde präsentiert.

Für das anfangs genannte Screening auf rheumatoide Erkrankungen im Rahmen des „Rheuma-VOR“-Projektes wurde auch ein Screening-App erprobt für die rheumatoide Arthritis (RA), die Psoriasisarthritis (PsA) und die axiale Spondyloarthritis(axSpA). Für diese App wurden mittels Delphi-Verfahrens 17 Fragen zur Detektion und näheren Differenzierung zwischen den genannten 3 Erkrankungen bestimmt. Die App ist für iOS und Android nutzbar. Die Fragen bieten die Antwortoptionen „Ja“, „Nein“ und „Weiß nicht“. Zeitaufwand für die Beantwortung der Fragen beträgt ungefähr 4 min. Auf dem kumulierten Score basiert dann die Endbewertung und ggf. eine Verdachtsdiagnose. Einige Diagnosen können bereits nach wenigen Fragen ausgeschlossen bzw. bestätigt werden. Die Sensitivität lag in den analysierten Messungen bei 0,82, die Spezifität bei 0,29 [4].


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Bewertung und Nutzung von Apps

Bereits 2019 gab es eine systematische Erhebung zur Nutzung von Medizin-Apps und Online-Plattformen unter deutschen Rheumatologen. Es zeigte sich, dass zwar immer mehr Rheumatologen medizinische Apps nutzen oder deren Integration in die Routineversorgung planen, viele spezialisierte rheumatologische Apps für Ärzte und insbesondere für rheumatologische Patienten den Rheumatologen jedoch noch weitestgehend unbekannt waren [11]. Möglicherweise gab es hier allerdings (gerade durch die Corona-Pandemie) schon eine positive Entwicklung sowohl in der Nutzung durch medizinisches Personal, als auch in der Nutzung durch Patienten.

Um die große Zahl an medizinischen Apps inhaltlich und qualitativ zu bewerten, wurde die „Mobile App Rating Scale (MARS)“ entwickelt. Die Qualitätsbewertung besteht dabei aus insgesamt 19 Items, die vier Dimensionen abdecken. Die Dimensionen sind: (A) Engagement (5 Items: Spaß, Interesse, individuelle Anpassungsfähigkeit, Interaktivität, Zielgruppe), (B) Funktionalität (4 Items: Leistung, Benutzerfreundlichkeit, Navigation, Gestaltung), (C) Ästhetik (3 Items: Layout, Grafiken, visuelle Attraktivität) und (D) Informationsqualität (7 Items: Genauigkeit der App-Beschreibung, Ziele, Qualität der Informationen, Quantität der Informationen, Qualität der visuellen Informationen, Glaubwürdigkeit, Evidenz Basis). Alle Items werden auf einer 5-Punkte-Skala bewertet (1 – unzureichend, 2 – schlecht, 3 – akzeptabel, 4 – gut und 5 – ausgezeichnet). Die Items zur Bewertung der Informationsqualität können auch als nicht zutreffend bewertet werden [12]. Diese, auf Englisch publizierte Skala, wurde auch ins Deutsche übersetzt und validiert [13].

Genutzt wurde diese Skala unter anderem auch zur Bewertung von speziellen Apps im Bereich Rheumatologie und die Ergebnisse auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) 2019 vorgestellt. Insgesamt wurden dabei 16 Rheuma-Apps beurteilt, die sowohl im Apple App Store als auch im Google Play Store auf Deutsch verfügbar waren. Neun richteten sich primär an Patienten und sieben an Rheumatologen. Die höchste Punktzahl erzielte die bereits genannte App „Rheuma Auszeit“ mit einem Score von 4,19 von den maximal möglichen 5 Punkten [14].


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Digitale Gesundheitsanwendungen

Eine besondere Form der medizinischen Apps sind die so genannten „Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs)“. Mit diesen DiGAs soll die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen unterstützt werden. Das Besondere ist, dass sie ein Medizinprodukt der Risikoklasse I oder IIa sind und ärztlich verordnet werden können. Im 5. Sozialgesetzbuch ist sogar der Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit diesen Medizinprodukten niedriger Risikoklasse niedergelegt [15]. Der Anspruch umfasst dabei nur solche digitalen Gesundheitsanwendungen, die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen aufgenommen wurden. Um als DiGA verordnungsfähig zu sein, müssen die Anbieter die jeweilige App prüfen lassen und erhalten ggf. zunächst erst eine vorläufige und nach Erprobungsphase eine endgültige Aufnahme ins offizielle DiGA-Verzeichnis [16]. Aktuell sind 20 Apps in dieser Liste aufgeführt, siehe [Tab. 1].

Tab. 1 Übersicht aktueller DiGAs laut.

Nummer

APP-Name

Hersteller/Entwickler

Indikation(en)

1

CANKADO PRO-React Onco

CANKADO Service GmbH, Deutschland

C50 Bösartige Neubildung der Brustdrüse [Mamma]

2

deprexis

GAIA AG, Deutschland

F32.0 Leichte depressive Episode

F32.1 Mittelgradige depressive Episode

F32.2 Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome

und 3 weitere

3

elevida

GAIA AG, Deutschland

G35 Multiple Sklerose [Encephalomyelitis disseminata]

4

ESYSTA App & Portal – Digitales Diabetesmanagement

Emperra GmbH E-Health Technologies, Deutschland

E10 Diabetes mellitus, Typ 1

E11 Diabetes mellitus, Typ 2

5

Invirto- Die Therapie gegen Angst

Sympatient GmbH, Deutschland

F40.00 Agoraphobie: Ohne Angabe einer Panikstörung

F40.01 Agoraphobie: Mit Panikstörung

F40.1 Soziale Phobien

F41.0 Panikstörung [episodisch paroxysmale Angst]

6

Kalmeda

mynoise GmbH, Deutschland

H93.1 Tinnitus aurium

7

M-sense Migräne

Newsenselab GmbH, Deutschland

G43 Migräne

8

Mawendo

Mawendo GmbH, Deutschland

M22 Krankheiten der Patella

9

Mika

Fosanis GmbH, Deutschland

C00 Bösartige Neubildung der Lippe

C01 Bösartige Neubildung des Zungengrundes

C02 Bösartige Neubildung sonstiger und nicht näher bezeichneter Teile der Zunge

und 86 weitere

10

Mindable: Panikstörung und Agoraphobie

Mindable Health GmbH, Deutschland

F40.0 Agoraphobie

F41.0 Panikstörung [episodisch paroxysmale Angst]

11

NichtraucherHelden-App

NichtraucherHelden GmbH, Deutschland

F17.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak: Abhängigkeitssyndrom

12

Rehappy

Rehappy GmbH, Deutschland

G45 Zerebrale transitorische Ischämie und verwandte Syndrome

I60 Subarachnoidalblutung

I61 Intrazerebrale Blutung

und 5 weitere

13

Selfapys Online-Kurs bei Depression

Selfapy GmbH, Deutschland

F32.0 Leichte depressive Episode

F32.1 Mittelgradige depressive Episode

F32.8 Sonstige depressive Episoden

und 6 weitere

14

Selfapys Online-Kurs bei Generalisierter Angststörung

Selfapy GmbH, Deutschland

F41.1 Generalisierte Angststörung

15

Selfapys Online-Kurs bei Panikstörung

Selfapy GmbH, Deutschland

F40.01 Agoraphobie: Mit Panikstörung

F41.0 Panikstörung [episodisch paroxysmale Angst]

16

somnio

mementor DE GmbH, Deutschland

F51.0 Nichtorganische Insomnie

17

velibra

GAIA AG, Deutschland

F40.01 Agoraphobie: Mit Panikstörung

F40.1 Soziale Phobien

F41.0 Panikstörung [episodisch paroxysmale Angst]

F41.1 Generalisierte Angststörung

18

Vivira

Vivira Health Lab GmbH, Deutschland

M16.0 Primäre Koxarthrose, beidseitig

M16.1 Sonstige primäre Koxarthrose

M16.2 Koxarthrose als Folge einer Dysplasie, beidseitig

und 42 weitere

19

vorvida

GAIA AG, Deutschland

F10.1 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Schädlicher Gebrauch

F10.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Abhängigkeitssyndrom

20

zanadio

aidhere GmbH, Deutschland

E66 Adipositas

Neben sehr speziellen Indikationen, wie bösartigen Neubildungen, Diabetes und Multipler Sklerose, sind die meisten Anwendungen auf Unterstützung bei psychischen Beeinträchtigungen ausgelegt. Einzelne sind aber auch geeignet für die Beschwerden, die im Rahmen von rheumatologischen Erkrankungen auftreten können.

Auch Kontraindikationen werden unter dem Punkt „Information für Fachkreise“ genannt, bspw. bösartige Neubildungen des Knochens, rheumatisches Fieber mit Herzbeteiligung oder Sepsis, bei denen die jeweilige DiGA nicht verordnet werden soll.

Hier 2 Beispiele:

Mawendo

Indikation sind Beschwerden an der Patella, wie sie ja auch bei rheumatischen Erkrankungen häufig sind. Hier können Ärzte passende Trainingsprogramme mit Übungsvideos für den Patienten auswählen und individualisieren. Dazu passend gibt es Gesundheitsinformationen und Dokumentationsmöglichkeiten bereit.

Vivira

Ziel ist die Unterstützung der Behandlung von Rücken-, Knie- und Hüftschmerzen bei nicht-spezifischen Kreuzschmerzen, Arthrose der Wirbelsäule (Osteochondrose), Arthrose der Knie (Gonarthrose), unspezifischen Knieschmerzen, Arthrose der Hüfte (Koxarthrose) und unspezifischen Hüftschmerzen. Dazu bietet die bewegungstherapeutische App täglich 4 Übungen an, die durch Rückmeldungen vom Patienten fortlaufend in ihrer Intensität anpasst werden können. Wöchentliche Abfragen zur Gesundheit, inklusive Visualisierung des Fortschritts, monatliche Bewegungstests und edukative Inhalte ergänzen das Angebot. Vivira orientiert sich dabei an Leitlinien für nicht-spezifischen Kreuzschmerz, Kniearthrose und Hüftarthrose und der Heilmittelrichtlinie. Die Wirksamkeit von Vivira wurde in einer retrospektiven kontrollierten Studie untersucht. Befragte Patienten, die Vivira nutzten, berichteten intraindividuell von einer deutlichen Reduktion der Schmerzen. Kontraindikationen sind auch hier durch die behandelnden Ärzte zu berücksichtigen, bspw. Gelenkprothesen und reaktive Arthritiden.

Dazu kommen Apps für die Unterstützung bei Adipositas, Migräne, Insomnie und depressive Episoden, die ja auch ebenfalls im rheumatologischen Patientenklientel häufig anzutreffen sind.

Verordnungsweg für DiGAs siehe [Abb. 1].

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Abb. 1 Verordnungsweg einer DiGA laut BfArM [16] Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.

In einer Befragung, die 2021 im Deutschen Ärzteblatt erschienen ist, hatte sich gezeigt, dass noch eine Diskrepanz zwischen den politischen Ambitionen des 2019 in Kraft getretenen Digitalen-Versorgungs-Gesetzes (DVG) und der Akzeptanz und Nutzung bei Ärztinnen und Ärzten in Deutschland besteht. Die digitalen Möglichkeiten werden zwar als Chance wahrgenommen, aber mangelnde Informationen, Unsicherheiten zur Rechtslage und auch zur Abrechnung beeinträchtigen noch die direkte Nutzung dieser Optionen [17].


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Telemedizinische Assistenzsysteme

Bei chronischen Erkrankungen ebenso wie nach operativen Eingriffen sind Bewegungsübungen von elementarer Bedeutung. Dabei zeigt sich sowohl nach stationären Rehabilitationsmaßnahmen und auch nach ambulanten Therapien (beispielsweise nach Ende der Heilmittelverordnungen) oft keine gute Konstanz der Durchführung der Übungsprogramme und des Therapieerfolges bei den betroffenen Patienten. Reha-Nachsorge-Programme der Deutschen Rentenversicherung, wie IRENA (intensivierte Rehabilitationsnachsorge), versuchen diese Nachhaltigkeit zu verbessern. Eine technische Möglichkeit dazu sind so genannte Telemedizinische Assistenzsysteme (TA), bei denen eine Anleitung und teils auch Kontrolle des Übungsprogrammes elektronisch unterstützt wird. Bereits 2017 hatte ein systematisches Review mit Metaanalyse gezeigt, dass Echtzeit-Telerehabilitation effektiv ist und anderen konventionellen Methoden vergleichbar zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit bei muskuloskelettalen Erkrankungen eingesetzt werden kann [18].

Die Grundlagen, Anforderungen und erforderliche Systemkomponenten, die Schnittstellen und Funktionsbeschreibungen wurden vom Fraunhofer FOKUS nach mehrjährigen Praxis bei der Entwicklung und Durchführung von Telemedizinprojekten als Referenzmodell publiziert, um den konzeptionellen Aufwand für die Entwicklung neuer Anwendungen zur Telemedizin reduzieren zu können [19].

Ein konkretes Beispiel ist das System „MeineReha“. Das System besteht aus einem Computer, einem Bildschirm, einer 3D-Kamera, sowie Sensoren zur Erfassung von Vitaldaten, z. B. einem Brustgurt.

Auf dem Bildschirm wird dem Patienten eine korrekte Bewegungsübung angezeigt, die er ggf. auch zuvor schon mit Therapeuten erlernt hat. Durch die 3D-Kamera wird nun die Bewegung des Patienten beim Ausführen der gezeigten Bewegungsübung kontrolliert. Die Positionen einzelner Körperteile und deren Bewegungsverlauf werden dabei erfasst und mit den Sensordaten wird dann von einer speziell entwickelten Software die Korrektheit des Bewegungsablaufs analysiert. Dies kann in Therapieeinrichtungen, aber auch zu Hause durchgeführt werden.

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Abb. 2 Durchführung der gezeigten Übungen mit Kamerakontrolle. Quelle: Matthias Heyde/Fraunhofer FOKUS.

Dabei besteht die Möglichkeit, dass die Software aus der Analyse auch Korrekturhinweise gibt, wenn bspw. eine Fehlstellung eingenommen wird oder die Übung nicht korrekt ausgeführt wird.

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Abb. 3 Analyse des Bewegungsablaufes und Korrekturmöglichkeit. Quelle: https://www.meinereha.de/, Das Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS, Berlin.

Bisher liegen mehr als 100 Übungen für die folgenden Indikationen vor:

  • Mobiles Kardiotraining (Walken, Nordic Walking, Ergometer)

  • Chronischer Rückenschmerz (Lenden- und Halswirbelsäule)

  • Knie- und Hüft-TEP-Programm (untere Extremitäten)

  • Gleichgewichts- und Gangtraining

In einer Studie mit 111 Probanden nach Hüft- und Knieprothesenimplantation hatte sich die Nutzung dieses Telemedizinischen Assistenzsystems in einer Nachuntersuchung nach drei Monaten als effektiv erwiesen. In Bezug auf Funktionsfähigkeit, Lebensqualität und Schmerzen war die TA gleichwertig mit der sonst üblichen Nachsorge. Da eine signifikant höhere Rückkehrrate zur Arbeit erreicht werden konnte, wurde von den Autoren geschlussfolgert, dass diese Therapiemethode eine vielversprechende Ergänzung zur etablierten Nachsorge sei [20]. Eine Kostenübernahme für diese Therapieform ist bisher nicht einheitlich geregelt und die Nutzung findet bisher hauptsächlich im Rahmen von lokalen Projekten statt.


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Bilanz

Insgesamt gibt es ein großes Angebot an digitalen Unterstützungsoptionen im Bereich der medizinischen Versorgung auch in der Rheumatologie. Wie sich in Untersuchungen gezeigt hatte, sind diese aber noch nicht flächendeckend bekannt und werden ärztlich noch wenig genutzt. Politisch ist seit einigen Jahren die Digitalisierung gewünscht und wird gefördert, auch in der Finanzierung werden Fortschritte gemacht. Zu wünschen wäre aber bessere Anwenderfreundlichkeit der Technologien auch für Personen, die bisher wenig technikaffin waren, dies gilt für Ärzte und Patienten. Auch eine breitere Informationspolitik zu den Optionen wäre wünschenswert, ebenso wie Durchführung und Verbreitung entsprechender Studien zur Effektivität und Sicherheit. Auch könnten bei den Ärztekammern dazu vermehrt Schulungen mit konkreten Anwendungsbeispielen angeboten werden. Eine Ausweitung des Angebotes an DiGAs z. B. speziell für die wichtigsten rheumatischen Erkrankungen, würde in diesem Fachbereich auch zu höherer Akzeptanz führen, ebenso wie die sichere Finanzierung von Telemedizinischen Assistenzsystemen. Es wurde viel erreicht in der digitalen Unterstützung in der Medizin in den letzten Jahren, viele Optionen liegen aber noch offen vor uns und sollten genutzt werden.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Christian Sturm
Klinik für Rehabilitationsmedizin
MH Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
Deutschland   
Phone: +49/511/5324 100   

Publication History

Article published online:
17 November 2021

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Abb. 1 Verordnungsweg einer DiGA laut BfArM [16] Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.
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Abb. 2 Durchführung der gezeigten Übungen mit Kamerakontrolle. Quelle: Matthias Heyde/Fraunhofer FOKUS.
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Abb. 3 Analyse des Bewegungsablaufes und Korrekturmöglichkeit. Quelle: https://www.meinereha.de/, Das Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS, Berlin.