Ohne die Mobilität von Zellen wäre die normale Entwicklung und Funktion des menschlichen
Organismus undenkbar. Aber auch im Rahmen pathologischer Prozesse kommt der Zellwanderung
eine Schlüsselrolle zu. Dies hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte in einem translationalen
Prozess von bahnbrechenden grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen über die klassische
Sequenz klinischer Studien bis hin zur Zulassung von Medikamenten wie dem anti-α4β7
Integrin-Antikörper Vedolizumab bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED)
geführt [1], [2]. Darüber hinaus weist das Feld der Zellwanderung insbesondere im Zusammenhang mit
gastrointestinalen Erkrankungen allerdings auch bis weit in die Zukunft und lässt
neue therapeutische Entwicklungen erhoffen. Aufgrund der zunehmend in den Vordergrund
rückenden Erkenntnis, dass die Kommunikation verschiedener Organsysteme mit dem Darm
für eine Vielzahl immunvermittelter
Erkrankungen von großer Bedeutung ist, eröffnen sich dabei auch völlig neue Perspektiven
für darmbezogene Behandlungsansätze bei extraintestinalen Erkrankungen.
Zellwanderung, im englischen Sprachgebrauch „cell trafficking“, beschreibt die Gesamtheit
aller passiven und aktiven Bewegungen, die Zellen vollführen [3]. Dazu gehören beispielsweise die amöboide Migration von Zellen in Geweben, daneben
allerdings auch Prozesse, die weiträumiger die Bewegung von Immunzellen zwischen verschiedenen
Organen steuern. Besonders augenscheinlich lässt sich dies am Beispiel von T-Lymphozyten
verdeutlichen, denen bei CED und anderen immunvermittelten entzündlichen Erkrankungen
eine pathogenetische Schlüsselrolle zukommt. Nach der Entstehung naiver T-Zellen im
Thymus patrouillieren diese auf der Suche nach dem zu ihrem individuellen T-Zell-Rezeptor
passenden Antigen durch sekundäre lymphatische Organe. Dabei ermöglicht ihnen die
Ausstattung mit Oberflächenmolekülen wie CD62L und CCR7 die Interaktion mit dem Endothel
und in den lymphatischen Organen gebildeten Chemokinen, was zu einer gerichteten Auswanderung
aus dem
Blutstrom führt. Naive T-Zellen exprimieren außerdem geringe Mengen des Integrins
α4β7, wodurch sie auch in der Lage sind, ins darmassoziierte lymphatische Gewebe (GALT)
einzuwandern, auf dessen Endothel der α4β7-Ligand MAdCAM-1 exprimiert wird.
Wenn eine naive T-Zelle im sekundären lymphatischen Gewebe auf das passende Antigen
trifft und entsprechende ko-stimulatorische Signale auf sie einwirken, kommt es zur
klonalen Proliferation der dann antigenerfahrenen T-Zelle und in diesem Rahmen zur
Differenzierung verschiedener Subpopulationen mit jeweils spezifischer Rezeptorausstattung
und assoziierten Besonderheiten des „traffickings“. So werden beispielsweise auf Effektor-T-Zellen
und Effektor-Gedächtnis-T-Zellen CD62L und CCR7 herunterreguliert und stattdessen
Oberflächenmoleküle exprimiert, die für den Zugang zum Zielgewebe (in der Regel das
Gewebe, das in das Lymphgewebe des Antigenkontakts drainiert) wichtig sind. Im Falle
des Darms ist dies insbesondere das Integrin α4β7. Aufgrund der spezifischen Expression
der Retinaldehyddehydrogenase durch dendritische Zellen im Darm wird im GALT aus dem
Vitamin A der Nahrung Retinsäure produziert, welche in T-Zellen als Transkriptionsfaktor
fungiert und α4β7-Integrin
induziert [4]. So werden die Zellen in die Lage versetzt, nach Rückkehr in den Blutstrom durch
Interaktion mit darmspezifisch exprimiertem MAdCAM-1 in den Intestinaltrakt einzuwandern.
Während dieser Prozess des Auswanderns aus dem Blutstrom ins Gewebe als „Homing“ bezeichnet
wird, existieren weitere aktiv regulierte Prozesse, die die Retention von Immunzellen
im Gewebe oder die Rezirkulation zurück ins Blut steuern. Bei der Retention spielen
insbesondere die Oberflächenmoleküle CD69 und αEβ7-Integrin eine Rolle. Letzteres
wird im Darmgewebe unter dem Einfluss von TGF-β hochreguliert und vermittelt eine
Adhäsion an auf dem Epithel exprimiertes E-Cadherin. Ersteres fungiert als Antagonist
des ebenfalls in der Zellmembran vorkommenden Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptors (S1PR)1.
Durch diese und andere Mechanismen kommt es auch zur Ausbildung einer spezifischen
Population von gewebsansässigen Gedächtnis-T-Zellen, die im Gewebe verbleibt und dort
auf
erneuten Antigenkontakt hin „überwacht“ [5]. Die Rezirkulation wird entscheidend durch Sphingosin-1-Phosphat, welches im Blut
in hohen Konzentrationen vorliegt und chemotaktisch wirkt, sowie dessen auf T-Zellen
exprimierten Rezeptoren vermittelt und ermöglicht eine Rückkehr in den Blutstrom entlang
des chemotaktischen Gradienten.
Durch das komplexe Zusammenspiel dieser Mechanismen werden die Menge und der Phänotyp
von Immunzellen in peripheren Organen reguliert und so bei Krankheitsprozessen das
Entzündungsgeschehen gesteuert. Folgerichtig blockiert der α4β7-Integrin-Antikörper
Vedolizumab das Darmhoming von Immunzellen und wird erfolgreich für die Behandlung
von CED eingesetzt.
Darüber hinaus sind mehrere weitere Antikörper und „small molecules“ in der Entwicklung.
Für den S1PR-Modulator Ozanimod liegen bereits positive Daten aus Phase-3-Studien
[6] und seit Kurzem eine FDA-Zulassung für den Einsatz bei Colitis ulcerosa vor. Mehrere
weitere S1PR-Modulatoren werden gegenwärtig in fortgeschrittenen Studienprogrammen
evaluiert. Auch der orale α4-Integrin-Agonist AJM 300, der neben α4β7 auch α4β1 blockiert,
zeigte in einer japanischen Phase-3-Studie Wirksamkeit bei Colitis ulcerosa [7]. Der anti-β7-Antikörper Etrolizumab, der neben α4β7 auch αEβ7 blockiert, konnte
zwar in Phase-3-Studien bei Colitis ulcerosa nur begrenzt überzeugen, wird aber bei
Morbus Crohn (die Expression von αEβ7 ist im Ileum höher als im Colon) weiter untersucht.
Neben diesen schon weit fortgeschrittenen Entwicklungsprogrammen konnte eine Reihe
weiterer molekularer Zielstrukturen wie beispielsweise GPR15 [8] identifiziert werden, deren Modulation zur Beeinflussung des „cell trafficking“
vielversprechend erscheint und bei denen präklinische oder frühe klinische Untersuchungen
laufen.
Weit über diese konkreten Ansätze, die im Wesentlichen auf CED fokussieren, hinaus
können aber auch weitergehende, gegenwärtig noch visionäre Konzepte rund um das „cell
trafficking“ bei CED und anderen immunvermittelten entzündlichen Erkrankungen in Betracht
gezogen werden. So gibt es überzeugende Evidenz für eine pathogenetische Bedeutung
des Darms entlang einer Darm-Gehirn-, Darm-Gelenk- oder Darm-Leber-Achse, beispielsweise
bei Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Rheumatoider Arthritis oder Primär Sklerosierender
Cholangitis. Das „trafficking“ von im Darm geprägten Zellen in die jeweiligen Organe
scheint hierbei eine wichtige Rolle zu spielen und könnte so neue Behandlungsprinzipien
ermöglichen. Zudem erlauben Fortschritte in anderen Disziplinen wie der Biophysik
[9] einen völlig neuen Blick auf Wanderungsprozesse und die in diesem Zusammenhang bedeutenden
mechanischen Eigenschaften von Zellen, sodass auch hier neue therapeutische Ansätze
denkbar sind.
Zusammenfassend kann somit festgestellt werden, dass die pathogenetische Relevanz
von „cell trafficking“ und hier ansetzende Therapiestrategien bei CED bereits gut
etabliert und weitere Fortschritte in den nächsten Jahren zu erwarten sind. Darüber
hinaus scheint es denkbar, dass sich ausgehend von dieser Keimzelle und an der Schnittstelle
zu anderen Organsystem und Disziplinen in Zukunft völlig neue Perspektiven auf Zellwanderungsprozesse
ergeben, die die Entwicklung gänzlich neuer Therapieoptionen ermöglichen.