Schlüsselwörter
Lärm - Herz-Kreislauf-Erkrankungen - öffentliche Gesundheit
Keywords
noise - cardiovascular disease - public health
Lärm als Umweltrisikofaktor ist eine bedeutsame Ursache für die Krankheitslast und
vorzeitige Todesfälle in der Bevölkerung. Chronische Lärmexposition kann mentale und
physiologische Stressreaktionen auslösen, die zur Ausbildung und Progression von klassischen
Herz-Kreislauf-Risikofaktoren beitragen. Die zunehmende aktuelle Evidenz legt nahe,
dass Verkehrslärmexposition das Risiko für verschiedene Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
bzw. Herz-Kreislauf-bedingte Sterblichkeit erhöhen kann, vermittelt über lärmbedingte
Entzündungsprozesse und oxidativen Stress. Präventive systemische Maßnahmen, wie die
von der Weltgesundheitsorganisation eingeführten Grenzwerte für Umgebungslärm, sind
erforderlich, um die Krankheitslast durch Lärm in der Bevölkerung zu reduzieren.
Lärm als bedeutsamer umweltbezogener Risikofaktor für die Gesundheit der Bevölkerung
Lärm als bedeutsamer umweltbezogener Risikofaktor für die Gesundheit der Bevölkerung
Umgebungslärm stellt einen der bedeutsamsten umweltbezogenen Risikofaktoren für die
öffentliche Gesundheit dar. Gemäß einem Bericht der Europäischen Umweltagentur (EEA)
sind in der EU 113 Millionen Personen Tag-Abend-Nacht-Straßenlärmpegeln (Lden) von 55 Dezibel (dB) oder mehr ausgesetzt, was 20% der europäischen Bevölkerung entspricht.
Weiter sind 22 Millionen Personen von schädlichem Eisenbahnlärm, 4 Millionen von schädlichem
Fluglärm und weniger als 1 Million von schädlichem Industrielärm betroffen [1]. Damit verursachen diese 4 Lärmquellen starke Lärmbelästigung bei 22 Millionen Personen
sowie starke Schlafstörungen bei 6,5 Millionen Personen. Dies resultiert laut EEA
jährlich in 48000 ischämischen Herzerkrankungen sowie 12000 vorzeitigen Todesfällen.
Zusätzlich treten bei 12400 Kindern lärmbedingte kognitive Defizite auf. Neben den
lärmbedingten gesundheitlichen Konsequenzen sind auch die damit in Verbindung
stehenden gesamtgesellschaftlichen Kosten von signifikantem Ausmaß. Die Europäische
Kommission (EC) beziffert die jährlichen sozioökonomischen Kosten in der EU, die durch
die Kombination von Lärm und Luftverschmutzung, die beiden Umweltfaktoren mit den
größten gesundheitlichen Auswirkungen in Europa, entstehen, auf etwa 1 Billion Euro
[2], wobei Lärm einen größeren Einfluss auf Indikatoren der Lebensqualität ausübt und
Luftverschmutzung eher die Sterblichkeit beeinflusst [3]. Dagegen sind die sozioökonomischen Kosten, die durch Alkoholkonsum und Rauchen
entstehen, mit 50–120 Milliarden bzw. mit 544 Milliarden relativ gering.
Lärm, insbesondere durch Transport und Verkehr, ist ein bedeutsamer Risikofaktor für
die öffentliche Gesundheit und geht mit erheblichen sozioökonomischen Kosten einher.
Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Umgebungslärm
Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Umgebungslärm
In den aktuellen Leitlinien der WHO für Umgebungslärm für die Europäische Region von
2018 wurden Grenzwerte für Umgebungslärm aus verschiedenen Quellen definiert [4]. Hierzu wurden verschiedene Studien aus Europa, aber auch aus Amerika, Asien und
Australien betrachtet und die Stärke der Empfehlung mittels GRADE-Methodologie (Grading
of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) hinsichtlich der lärmbedingten
Auswirkungen auf Herz und Kreislauf sowie Stoffwechsel, Belästigung/Ärgerreaktion,
Schlaf, kognitive Beeinträchtigung, Hörschäden und Tinnitus, Fehlgeburten, Lebensqualität,
psychische Gesundheit und Wohlbefinden bewertet. [Tab. 1] zeigt einen Überblick über die Grenzwerte/Empfehlungen in Abhängigkeit von der Lärmquelle,
bei deren Überschreitungen langfristig mit schädlichen gesundheitlichen Auswirkungen
zu rechnen ist. Da vor allem der Nachtlärm mit negativen
gesundheitlichen Konsequenzen aufgrund der Beeinträchtigung des Schlafes verbunden
ist, werden in den WHO-Nachtlärmrichtlinien für die Europäische Region im Allgemeinen
Nachtlärmaußenpegel von weniger als 40 dB Lnight (Nachtlärmindex) gefordert [5]. Auch das Umweltbundesamt empfiehlt übergreifend Lärmpegel innerhalb von Wohnungen,
die nachts unter 25 dB(A) und tags unter 35 dB(A) liegen. Diese Lärminnenpegel können
bei gekippten Fenstern erreicht werden, wenn die Außenlärmpegel nachts unter 40 dB(A)
und tags unter 50 dB(A) liegen [6].
Tab. 1 WHO-Leitlinien für Umgebungslärm für die europäische Region. dB: Dezibel, Lden: Tag-Abend-Nacht-Lärmindex bezieht sich auf einen Zeitraum von 24 Stunden mit einem
Zuschlag von 5 dB für den Abendzeitraum (19–23 bzw. 18–22 Uhr) und von 10 dB für den
Nachtzeitraum (23–7 bzw. 22–6 Uhr), Lnight: Nachtlärmindex bezieht sich auf den Zeitraum von 23–7 bzw. 22–6 Uhr, LAeq,24h: Lärmindex über einen Zeitraum von 24 Stunden. Die Grenzwerte beziehen sich auf die
am stärksten lärmbelastete Außenfassade. Eine starke Empfehlung kann in den meisten
Situationen als Politik angenommen werden, eine bedingte Empfehlung erfordert einen
politischen Entscheidungsprozess mit substanzieller Diskussion und Einbeziehung verschiedener
Akteure. Daten nach [4].
Lärmquelle
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Empfehlung Lden
|
Empfehlung Lnight
|
Stärke der Empfehlung
|
Straßenverkehrslärm
|
< 53 dB
|
< 45 dB
|
stark
|
Schienenverkehrslärm
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< 54 dB
|
< 44 dB
|
stark
|
Fluglärm
|
< 45 dB
|
< 40 dB
|
stark
|
Windenergieanlagenlärm
|
< 45 dB
|
–
|
bedingt
|
Freizeitlärm
|
< 70 dB (LAeq,24h)
|
–
|
bedingt
|
Um die Bevölkerung vor den negativen gesundheitlichen Konsequenzen von Lärm zu schützen,
fordert die WHO die Einhaltung von quellenspezifischen und -unspezifischen Grenzwerten.
Vor allem für den Nachtlärm, der als besonders gesundheitsschädlich gilt, werden übergreifende
Lärmpegel von weniger als 40 dB gefordert, die jedoch bei einem erheblichen Teil der
europäischen Bevölkerung überschritten werden.
Lärm als psychosozialer Stressor
Lärm als psychosozialer Stressor
Lärm wird allgemein als ein als störend empfundenes Geräusch verstanden, das als solches
sowohl eine physikalische/objektive (Schallpegel) als auch eine psychologische/subjektive
(Bewertung bzw. erlebte Belastung) Dimension besitzt. Das Stressmodell von Henry u.
Stephens von 1977 [7] beschreibt die Verarbeitung von Stressoren in Abhängigkeit von der individuell wahrgenommenen
Intensität sowie Bewertung der Stressoren über 2 verschiedene Gehirnareale und physiologische
Stressachsen (Aktivierung der Amygdala und des sympathoadrenomedullären Systems bzw.
des Hippocampus und des hypophysär-adrenokortikalen Systems). Darauf aufbauend beschreibt
das Lärmwirkungsmodell von Babisch [8] die subjektive Wirkung von Lärm als psychosozialer Stressor als entscheidenden Faktor
bei der Vermittlung von negativen gesundheitlichen Folgen ([Abb. 1]). In diesem Sinne kann die indirekte (nicht auditorische) Lärmwirkung, die von der
direkten (auditorischen) Lärmwirkung (z. B. Schädigung des Hörorgans durch sehr hohe
Schalldruckpegel) unterschieden wird, über chronische Lärmexposition mit niedrigen
Schallpegeln zu Störungen von Schlaf, Kommunikation und alltäglichen Aktivitäten führen
und darüber kognitive und emotionale Stressreaktionen in Verbindung mit Lärmbelästigung
auslösen. Eine anhaltende Lärmexposition und -belästigung führt zur Initiierung von
physiologischen Stresskaskaden (vermittelt über einen erhöhten Stresshormonausstoß,
Störung der zirkadianen Rhythmik, oxidativen Stress und Entzündungsreaktionen), die
langfristig zu Gefäßschäden und kardiometabolischen Erkrankungen beitragen [9]. Basierend auf diesen Pathomechanismen erhöht Lärm das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
wie Bluthochdruck, koronare Herzerkrankung, Herzinfarkt und
Schlaganfall [10].
Abb. 1 In dem Lärmwirkungsmodell von Babisch wird die indirekte Lärmwirkung als Ursache für
die Ausbildung von Herz-Kreislauf-Risikofaktoren und -Erkrankungen beschrieben. Daten
nach [8]
[10]. HPA: Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, SNS: Sympathischen Nervensystem
Lärm als psychosozialer Stressor kann mentale und physiologische Stressreaktionen
auslösen, die über längere Zeiträume zur Ausbildung und Progression von klassischen
Herz-Kreislauf-Risikofaktoren beitragen können und darüber das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
erhöhen können.
Aktuelle Erkenntnisse aus der Lärmwirkungsforschung zum Zusammenhang von Verkehrslärm
und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Aktuelle Erkenntnisse aus der Lärmwirkungsforschung zum Zusammenhang von Verkehrslärm
und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
In einer Serie von tier- und humanexperimentellen Studien konnten wir zeigen, dass
Verkehrslärmexposition mit einer Reihe pathophysiologischer Konsequenzen verbunden
ist (für eine Übersicht siehe [9]
[11]). Zusammenfassend wurde in humanen Feldstudien beobachtet, dass simulierter Nachtfluglärm
mit einer gestörten Gefäß- bzw. Endothelfunktion, einem erhöhten Stresshormonspiegel
und einer deutlich verminderten Schlafqualität assoziiert war, wobei die tierexperimentellen
Untersuchungen Entzündungsprozesse und oxidativen Stress durch eine vermehrte Bildung
von reaktiven Sauerstoffspezies auf Zirkulations-, Gefäß-, aber auch auf zerebraler
Ebene als Ursachen für die negativen Herz-Kreislauf-Effekte identifizieren konnten
([Abb. 2]).
Abb. 2 Lärm verursacht eine primäre Stressreaktion, die mit einer Freisetzung von Stresshormonen
assoziiert ist. Diese Stressreaktion aktiviert entzündliche und/oder oxidative stressbasierte
Signalwege und verursacht die Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies und oxidativen
Schäden, die wiederum die Ausbildung von Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Risikofaktoren
und -Erkrankungen begünstigen. Für eine Übersicht siehe [11].
Auch in groß angelegten Beobachtungs- bzw. epidemiologischen Studien konnte der Einfluss
von Verkehrslärm als Herz-Kreislauf-Risikofaktor nachgewiesen werden. In einer aktuelleren
Metaanalyse aus dem Jahr 2018, die im Auftrag der WHO durchgeführt wurde, konnte ermittelt
werden, dass Fluglärm das relative Risiko einer inzidenten koronaren Herzerkrankung
um 9% erhöht (95%-Konfidenzintervall [KI] 1,04; 1,15) pro Zunahme von 10 dB Lden
[12]. In einer aktuellen Studie aus der Schweiz rund um den Flughafen Zürich war akuter
Nachtfluglärm innerhalb von 2 Stunden mit einem erhöhten Risiko für einen Herz-Kreislauf-Tod
(bestehend aus koronarer Herzerkrankung, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Bluthochdruck,
Schlaganfall und Herzrhythmusstörung) verbunden [13]. Dabei wurde ein 44% höheres Risiko für einen Herz-Kreislauf-Tod bei Personen beobachtet,
die Fluglärmpegeln über
50 dB ausgesetzt waren (Odds Ratio 1,44; 95%-KI 1,03; 2,04) beim Vergleich von > 50 dB
vs. < 20 dB LAeq (Lärmindex über einen Zeitraum von 24 Stunden). In einer weiteren Studie aus den
USA wurde mittels Mediationsanalyse demonstriert, dass Verkehrslärm (Flug- und Straßenverkehrslärm)
über eine erhöhte Aktivierung der Amygdala, die eine wichtige Rolle bei der emotionalen
Verarbeitung von Reizen spielt, mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Ereignisse
(bestehend aus Herz-Kreislauf-Tod, Herzinfarkt, instabile Angina pectoris, Schlaganfall,
Herzinsuffizienz und koronare oder periphere Revaskularisation) einherging (relatives
Risiko: 1,34; 95%-KI 1,15; 1,57 pro Zunahme von 5 dB[A] LAeq,24h) [14]. Zudem gibt es zunehmende experimentelle und epidemiologische Evidenz, dass Verkehrslärm
den Metabolismus negativ beeinflusst und einen Risikofaktor für Diabetes und Übergewicht
darstellt [15].
Lärm initiiert eine Stressreaktion, die oxidativen Stress sowie Entzündungsreaktionen
induziert und so zu Gefäßschäden und kardiometabolischen Erkrankungen (vor allem ischämischer
Natur) beiträgt. Dabei spielt die Aktivierung der Amygdala eine wesentliche Rolle.
Gesellschaftliche Konsequenzen
Gesellschaftliche Konsequenzen
Aufgrund der hinreichenden Evidenz aus aktuellen und früheren Studien sollte Umgebungslärm
gesamtgesellschaftlich nicht nur als Gefahr für die öffentliche Gesundheit gesehen,
sondern auch explizit als manifester Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
anerkannt und entsprechend in den Leitlinien der medizinischen Fachverbände integriert
werden. Im Gegensatz zu anderen klassischen Herz-Kreislauf-Risikofaktoren wie Rauchen,
übermäßigem Alkoholkonsum oder körperlicher Inaktivität können umweltbedingte systemische
Risikofaktoren wie Umgebungslärm kaum oder gar nicht durch das einzelne Individuum,
Ärzte und Gesundheitsdienstleister beeinflusst werden. Diese Faktoren können nur durch
systemische und politische Entscheidungen nachhaltig mittels Verhältnisprävention
reduziert werden, die auf eine konsequente Einhaltung von Lärmgrenzwerten wie von
der WHO empfohlen oder städte-/straßenbauliche Maßnahmen abzielen, um die Bevölkerung
vor den negativen gesundheitlichen Auswirkungen
des Lärms zu schützen.
Fazit
Lärm sollte als manifester Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen anerkannt
und entsprechend in den Leitlinien der medizinischen Fachverbände integriert werden.
Präventive Maßnahmen wie die strikte Einhaltung von Lärmgrenzwerten oder städte-/straßenbauliche
Maßnahmen sind notwendig, um die Bevölkerung vor lärmbedingten Auswirkungen zu schützen.