Einleitung
Im vergangenen Jahrzehnt hat die Zahl der Patientinnen und Patienten, die mit Mycobacterium (M.) tuberculosis und Resistenz gegenüber mindestens Rifampicin (RIF) und Isoniazid (INH), den beiden
wirksamsten Medikamenten, infiziert sind, weltweit zugenommen [1]
[2]. An dieser multiresistenten Tuberkulose (multidrug-resistant, MDR-TB) leiden weltweit
4,6 % aller TB-Patienten, in einigen Ländern Osteuropas liegen die Zahlen jedoch bei
mehr als 25 % [1]
[2]. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden in den letzten Jahren nur geringe
Anteile von MDR-TB an den Neudiagnosen beobachtet. Diese lagen in Deutschland 2018
und 2019 bei 3,1 und 2,6 %, in Österreich bei 3,1 und 0,8 % und in der Schweiz bei
1,4 und 2,3 % [3]
[4]
[5]
[6]
[7]. Die MDR-TB stellt bei der Versorgung der TB-Patienten eine der größten Herausforderungen
dar [1]
[2]. So beträgt die Therapiedauer bei voller Sensibilität des Erregers im Allgemeinen
4–6 Monate, bei der MDR-TB jedoch bis zu 24 Monate, darüber hinaus mit einem oftmals
ungünstigeren Verlauf der Erkrankung [1]
[2]
[8]. Beschäftigte im Gesundheitswesen haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein
erhöhtes Risiko für TB, insbesondere in bestimmten Bereichen oder bei bestimmten Tätigkeiten,
z. B. TB- und Infektionsstationen, Notaufnahmen, Geriatrie, Bronchoskopie-Einheiten
und bei Kontakt zu Risikopatienten [8]
[9]
[10]
[11].
Fallbericht
Die Patientin hat der Veröffentlichung zugestimmt.
Anamnese
Die bei Diagnosestellung 30-jährige Altenpflegerin hatte seit 7 Jahren Husten ohne
Auswurf, keine saisonale Abhängigkeit, jedoch verstärkt in kalter Luft. Genussmittelabusus
lag nicht vor, insbesondere hatte sie nie geraucht. Die Patientin war seit 13 Jahren
im Beruf und hatte stets in derselben Altenpflegeeinrichtung gearbeitet. Die anthropometrischen
Parameter waren unauffällig. Bekannt war eine Allergisierung gegenüber Hausstaubmilben,
Schimmelpilzen, Katzenhaaren und Frühblühern mit ganzjährig leichten rhinitischen
Beschwerden. Eine 4-jährige subkutane Immuntherapie (SCIT) gegen Hausstaubmilben zeigte
nur mäßigen Erfolg. Unspezifische Bronchoprovokationstestungen waren wiederholt nicht
reaktiv. Unter der Annahme einer Refluxösophagitis und Gabe von Protonenpumpen-Inhibitoren
(PPI) zeigte sich keine wesentliche Besserung. Der Vater war 3 Jahre zuvor primär
an den Folgen der assoziierten Leberbeteiligung bei schwerem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel
(AATM)-Emphysem der homozygoten Mangelvariante PiZZ verstorben. Die molekulargenetische
Analyse bei der Patientin ergab den Nachweis eines heterozygoten Status des Typs PiMZ.
Der Status der Mutter und der 2 Jahre älteren Schwester der noch kinderlosen Patientin
waren nicht bekannt. Die Messungen von Lungenfunktion und Blutgasen waren stets unauffällig,
Hinweise für eine Leberbeteiligung bei der Patientin fanden sich nicht. Zur Abklärung
des Hustens erfolgte eine stationäre Untersuchung in der auswärtigen Lungenklinik
A. Der Röntgenthorax wurde als unauffällig beschrieben, jedoch zeigten sich im Computertomogramm
granulomatöse Veränderungen im rechten Lungenoberlappen, die nicht weiter abgeklärt
wurden ([Abb. 1 a–e]). 14 Monate später erfolgte eine ambulante Routine-Kontrolle im Rahmen des AATM.
Es fanden sich nunmehr computertomografisch ausgedehnte Infiltrate mit Kavernenbildung
im rechten Oberlappen ([Abb. 2 a–d]), die Anlass zur stationären Abklärung waren.
Abb. 1 a Klinik A: Röntgen-Thorax posterior-anterior (pa) und links anliegend; b–e Klinik A: CT-Thorax.
Abb. 2 a–d 14 Monate später, Klinik B: CT-Thorax.
Diagnostik und Befund
In der Bronchoskopie fanden sich bei unauffälligen Schleimhäuten keine Hinweise für
eine endobronchiale TB-Manifestation. Die Routine-Laborparameter zeigten sich bis
auf den positiven QuantiFERON-Test (Interferon-Gamma-Release-Assay, IGRA) und einen
leicht erniedrigten Alpha-1-Antitrypsin-Spiegel unauffällig. Die mikrobiologischen
Befunde der Sputum- und der bronchoskopisch gewonnenen Bronchialsekret-Untersuchungen
sind in [Tab. 1] und [Tab. 2] aufgelistet. Zu keinem Zeitpunkt konnten lichtmikroskopisch in der Ziehl-Neelsen-Färbung
säurefeste Stäbchen (SFS) nachgewiesen werden. Mittels Nukleinsäure-Amplifikation-Technik
(NAT) konnten in 2 Proben, in der ersten nur schwach, M. tuberculosis complex mit Rifampicin-Resistenz nachgewiesen werden. Die nachfolgende molekularbiologische
und phänotypische Resistenzbestimmung aus der Kultur durch das Nationale Referenzzentrum
für Mykobakterien, Borstel, ergab Resistenzen gegenüber Isoniazid (INH, high level),
Rifampicin (RIF), Pyrazinamid (PZA), Kanamycin (KAN, low level), Protionamid (PTO),
Rifabutin (RFB) und P-Aminosalicylsäure (PAS).
Tab. 1
Mikrobiologische Befunde I.
Therapiewoche
|
Testmaterial
|
Mikroskopie SFS
|
Kultur
|
NAT
|
0
|
Bronchialsekret
|
negativ
|
3 Kolonien
|
schwach positiv
|
1
|
Sputum (wenig geeignet)
|
negativ
|
negativ
|
|
1
|
Reizsputum
|
negativ
|
2 Kolonien
|
negativ
|
1
|
Sputum (wenig geeignet)
|
negativ
|
negativ
|
negativ
|
1
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
1
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
1
|
Bronchialsekret
|
negativ
|
7 Kolonien
|
positiv
|
1
|
Bronchialsekret
|
negativ
|
11 Kolonien
|
|
7
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
7
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
7
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
9
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
11
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
12
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
13
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
14
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
15
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
16
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
17
|
Sputum
|
negativ
|
negativ
|
|
säurefeste Stäbchen (SFS), Nukleinsäure-Amplifikations-Technik (NAT)
Tab. 2
Mikrobiologische Befunde II.
Molekularbiologische Resistenzbestimmung (NAT)
|
Fluoroquinolone (FQ)
|
sensibel
|
Injizierbare Antibiotika
|
|
sensibel
|
|
sensibel
|
|
resistent (low level)
|
Isoniazid (INH)
|
resistent (high level)
|
Rifampicin (RIF)
|
resistent
|
Phänotypische Resistenzbestimmung (Kultur)
|
Isoniazid (INH)
|
resistent
|
Rifampicin (RIF)
|
resistent
|
Ethambutol (EMB)
|
sensibel
|
Pyrazinamid (PZA)
|
resistent
|
Ofloxacin (OFX)
|
sensibel
|
Protionamid (PTO)
|
resistent
|
Capreomycin (CAP)
|
sensibel
|
Amikacin (AMK)
|
sensibel
|
Rifabutin (RFB)
|
resistent
|
Linezolid (LZD)
|
sensibel
|
P-Amino-Salicylsäure (PAS)
|
resistent
|
D-Cycloserin (DCS)/Terizidon (TZD)
|
sensibel
|
Nukleinsäure-Amplifikations-Technik (NAT)
Antibiotika-Abkürzungen nach: Antimicrobial Agents and Chemotherapy (AAC), American
Society for Microbiology (ASM) 03/2021; https://aac.asm.org/content/abbreviations-and-conventions
Therapie und Verlauf
Gemäß den gültigen Leitlinien wurde eine antituberkulöse Therapie mit INH, RIF, EMB
und PZA in empfohlener Dosierung, ergänzt durch Vitamin B6, eingeleitet [12]. Nachdem sich molekularbiologisch in der zweiten Probe eine Woche später eine RMP-
und INH-Resistenz als Indikator für eine multiple Medikamentenresistenz (MDR-TB) fanden
und beide Befunde durch das Nationale Referenzzentrum für Mykobakterien, Borstel,
bestätigt wurden, wurde die Vierfachtherapie abgesetzt und die Behandlung in der 3. Woche
mit PZA, EMB, Amikacin (AMK), Moxifloxacin (MXF), Protionamid (PTO) und Terizidon
(TRD) in empfohlener Dosierung, ergänzt durch Vitamin B6, fortgesetzt [12]
[13]
[14].
Nach Vorliegen des Befundes der phänotypischen Resistenztestung aus der Kultur und
nach 1-wöchiger Therapiepause wegen Exanthem und pseudomembranöser Enterokolitis wurden
PZA, PTO und MXF abgesetzt und die Medikation in der 10. Woche mit EMB, Levofloxacin
(LVX), AMK, TRD und Linezolid (LZD) in empfohlener Dosierung, ergänzt durch Vitamin
B6, fortgesetzt. Wegen Muskelschmerzen und Gefühlsstörungen wurden LZD und später
AMK abgesetzt und die Behandlung mit EMB, LVX, TRD und Amoxicillin/Clavulansäure (AMC)
in empfohlener Dosierung bis zu einer Gesamtdauer von 20 Monaten zu Ende geführt.
Als Nebenwirkung kam es in der 6. Woche zu einem Hautexanthem und zeitgleich zu einer
pseudomembranösen Enterokolitis (Clostridium difficile Toxin A/B negativ), als deren
Ursache am ehesten MXF angesehen wurde. Unter Pausieren sämtlicher Medikamente, Gabe
von Prednisolon, Dimetinden (Fenistil) und Mesalazin (Salofalk) klangen die Symptome
rasch ab. Eine koloskopische Kontrolle in der 18. Woche zeigte bei weiterhin gelegentlichen
rektalen Blutabgängen noch geringe erosive Areale der Kolonschleimhaut, die durch
intermittierende Mesalazin-Gaben beherrschbar waren. In der 31. Woche traten erneut
starke blutige Durchfälle auf. Die Pausierung von Levofloxacin änderte die Symptomatik
nicht. Nach Gabe von Mesalazin (Salofalk) und Budesonid (Budenofalk) kam es jedoch
zum raschen Sistieren der Symptome, sodass Levofloxacin, als nicht ursächlich gewertet,
wieder eingesetzt wurde.
Wegen seit der 13. Woche zunehmender, zuletzt ausgeprägter Muskel- und Gelenkbeschwerden
sowie Missempfindungen an den Händen erfolgte eine neurologische Abklärung. In der
Elektromyografie (EMG) fanden sich Zeichen einer Myopathie, als deren Ursache LZD
angesehen und leitlinienkonform zunächst nur noch intermittierend gegeben, in der
17. Woche abgesetzt und durch AMC ersetzt wurde. Creatinkinase (CK)- und Myoglobin-Erhöhungen
fanden sich laborchemisch nicht. Die Elektroneurografie (ENG) ergab in der 15. Woche
keinen Hinweis auf eine peripher neurogene Schädigung im Bereich der oberen und unteren
Extremitäten. Die neurologische Kontrolluntersuchung in der 17. Woche zeigte zwar
keine Progredienz, AMK wurde jedoch wegen fortbestehender Sensibilitätsstörungen Ende
der 20. Woche abgesetzt. Bei der Kontrolluntersuchung in der 42. Woche waren EMG und
ENG unauffällig.
Nach der stationären Entlassung in der 18. Woche wurden AMC, LVX, TRD und EMB sowie
Vitamin B6 bei TRD-Gabe [8] als Erhaltungstherapie fortgesetzt. In der 79. Woche kam es erneut zu leichten Missempfindungen
in den Händen mit Entgleiten von Gegenständen, die nach Reduktion der LVX-Dosis von
1000 mg auf 750 mg/die und der EMB-Dosis von 1250 mg auf 1000 mg/die sistierten. Leichte
Beschwerden der großen Gelenke waren in wechselnder Intensität weiterhin vorhanden,
diese wurden am ehesten LVX zugeschrieben.
Während der gesamten Therapiedauer kam es zu vaginalen Schleimhautentzündungen wechselnder
Intensität mit Nachweis von Candida albicans, die lokal mit Fluconazol und Nystatin
behandelt wurden.
Die wegen der EMB-Therapie durchgeführten monatlichen ophthalmologischen Kontrollen
zeigten normale Befunde für Visus, Farbensehen und Gesichtsfeld. HNO-ärztliche Audiometrie-Untersuchungen
unter AMK-Therapie ergaben eine Normakusis bds. Die Laborkontrollen zeigten bis auf
ein erhöhtes CRP im Rahmen der pseudomembranösen Kolitis durchgehend normale Werte
für CRP, Blutbild, Leber- und Nierenfunktion.
Die eingesetzten Medikamente mit Therapiedauer sowie die wichtigsten Nebenwirkungen
sind im Zeitstrahl in [Abb. 3] dargestellt.
Abb. 3 Eingesetzte Wirkstoffe nach WHO-Gruppen (8), Dauer der Gabe in Tagen (d) und wichtigste
Nebenwirkungen im Zeitstrahl. Antibiotika-Abkürzungen nach: Antimicrobial Agents and
Chemotherapy (AAC), American Society for Microbiology (ASM) 03/2021; https://aac.asm.org/content/abbreviations-and-conventions.
Computertomografisch zeigte sich in der 8. Woche mit zunehmenden Vernarbungen der
TB-Herde im rechten Oberlappen ein gutes Ansprechen der Therapie ([Abb. 4 a–d]) und nach abgeschlossener Therapie in der 89. Woche nur noch narbig indurative Veränderungen
([Abb. 5 a–d]).
Abb. 4 a–d 8. Therapiewoche, Klinik B: CT-Thorax.
Abb. 5 a–d 89. Therapiewoche, Klinik B: CT-Thorax.
Auch nach Beendigung der Therapie in der 90. Woche hat die Patientin bis heute eine
Neigung zu Durchfällen, vaginalen Schleimhautirritationen sowie neurologische Beschwerden.
Bei der neurologischen Untersuchung 2 Jahre und 8 Monate nach Therapieende fanden
sich noch Muskelschmerzen mit schneller muskulärer Ermüdbarkeit, neuropathische Reiz-
und Ausfallssymptome in Form von distal symmetrischen sensiblen Kribbeln-Missempfindungen,
eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Allodynie), eine diskrete Hypästhesie, des
Weiteren lanzierende neuropathische Schmerzattacken im Bereich der unteren Extremitäten.
Im ENG fielen eine leicht verminderte sensible Nervenleitgeschwindigkeiten des N.
suralis rechts von 42 m/s und links von 44 m/s auf, welche nicht dem alterstypischen
Maß entsprechen. Die beschriebenen Symptome wurden als plausibel eingestuft und korrelieren
als Residualsymptome zu den beschriebenen Nebenwirkungen der verwendeten Präparate.
Weiterhin bestehen Symptome eines Chronic Fatigue-Syndroms, die zwar unspezifisch
aber in Zusammenhang zur stattgehabten Grunderkrankung sowie auch zu medikamenteninduzierten
Begleiterkrankungen zu bringen sind.
Die Patientin hat weiterhin Hustenreiz ohne saisonale Abhängigkeit, verstärkt in kalter
Luft. Probatorisch eingesetzte inhalative Kortikosteroide (ICS), später in Kombination
mit langwirksamen Beta-2-Mimetika (LABA), waren ohne wesentlichen Einfluss auf den
Hustenreiz.
Diskussion
Diagnose
Im Verlauf einer TB-Erkrankung kann es im Rahmen der komplexen Immunreaktionen zu
relevanten immunologischen, endokrinen und metabolischen Veränderungen kommen. Dies
kann auch zu Gewichtsverlust mit Abnahme des Body-Mass-Index (BMI) führen, der ein
wichtiger Indikator des klinischen Status des Patienten darstellt. Dabei spielen pro-
und anti-inflammatorische Zytokine, Adipozytokine und Hormone der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse
eine wichtige Rolle, die sowohl an der Regulierung als auch an der Steuerung der Immunaktivität
und des Energiehaushalts beteiligt sind [15]
[16]
[17]
[18]
[19]
[20]. Diese Parameter verändern sich während der Therapie und signalisieren eine fortschreitende
klinische Heilung [21]. Die Abgeschlagenheit in den beiden Jahren vor Diagnosestellung war das einzig fassbare
Symptom bei unserer Patientin, welches jedoch dem anstrengenden Schichtdienst in der
Altenpflege zugeschrieben wurde. Nachtschweiß, Fieber oder grippeähnliche Symptome
wurden nicht bemerkt. Insbesondere war es zum Zeitpunkt der Diagnosestellung noch
nicht zu einer Abnahme des BMI gekommen, welcher mit 23,0, bis auf eine passagere
geringe Abnahme während der kurzen Phase der pseudomembranösen Enterokolitis im Rahmen
der Medikamenten-Nebenwirkungen, stets im Normbereich blieb. Der Husten ohne Auswurf
bestand schon etliche Jahre zuvor und stand vermutlich nicht mit der TB im Zusammenhang.
In Klinik A ließen sich computertomografisch granulomatöse Veränderungen im rechten
Oberlappen nachweisen, die jedoch nicht weiter abgeklärt wurden. 14 Monate später
fanden sich in Klinik B bereits fortgeschrittene Infiltrationen mit Einschmelzung
und Kavernenbildung.
Bei Verdacht auf Lungen-TB sollen laut WHO-Empfehlungen mindestens 2 Sputumproben
guter Qualität auf Mykobakterien untersucht werden [4]
[22]
[23]. Den höchsten Stellenwert in der initialen Diagnostik haben Nukleinsäure-Amplifikationstests
(NAT), durch die es möglich ist, M. tuberculosis-Komplex von nichttuberkulösen Mykobakterien (NTMs) zu unterscheiden. Mit automatisierten
Verfahren kann ein Testergebnis zur Erregeridentifikation und zur Rifampicin-Resistenz
schon nach weniger als 2 Stunden erwartet werden [4]. Durch diese Verfahren konnte bei unserer Patientin die Verdachtsdiagnose einer
TB frühzeitig bestätigt und bei Nachweis einer Rifampicin-Resistenz zusätzlich der
Hinweis auf eine MDR-TB gegeben werden. Die negativen Mikroskopien auf säurefeste
Stäbchen sprachen für eine geringe Keimlast. Nach Vorliegen der ersten positiven Kulturen
wurde phänotypisch u. a. eine Resistenz gegenüber INH (high level) und RIF bestätigt,
definitionsgemäß lag somit eine Multiresistenz (Multi Drug Resistance, MDR) vor. Bei
vorhandener Sensibilität gegenüber einem Fluorchinolon und 2 der injizierbaren Medikamente
AMK, CAP oder KAN konnte eine Extensively drug-resistant (XDR-)TB ausgeschlossen werden
[8].
Therapie und Nebenwirkungen
Die Therapiedauer einer MDR-TB betrug vor 5 Jahren noch 18–24 Monate, wobei häufig
bis zu 6 Medikamente, einschließlich injizierbarer Substanzen, gegeben werden mussten
[23]. Die Inzidenz von Nebenwirkungen bei diesen Therapieregimen ist hoch, wobei 45 %
der Patienten leichte bis schwere Nebenwirkungen erleiden [24]
[25]. Unsere Patientin erhielt über einen Behandlungszeitraum von 20 Monaten insgesamt
11 verschiedene Medikamente aus allen 5 Gruppen der WHO-Klassifikation von 2011, die
teilweise wegen Resistenz oder schwerer Nebenwirkungen ausgetauscht werden mussten
[8]
[26]
[27], s. [Abb. 3]. Laut WHO-Jahresbericht 2019 lag der Therapieerfolg bei MDR-TB weltweit bei nur
56 % [4]
[28]. Für MDR-TB-Patienten, die in einem Behandlungszentrum individualisiert nach ausführlicher
Resistenztestung behandelt werden, wird jedoch eine deutlich bessere Prognose angenommen
[4]
[29]
[30]. Die neuen WHO-Empfehlungen schlagen eine Therapiedauer von 18–20 Monaten vor, diese
kann jedoch an das individuelle Ansprechen auf die MDR-TB-Therapie angepasst werden.
Für die meisten MDR-TB-Patienten sollte eine Therapiedauer von 15–17 Monaten nach
Kulturkonversion ausreichend sein [4]
[31]
[32]. In einer gemeinsamen Stellungnahme zu diesen Empfehlungen durch das Forschungszentrum
Borstel (FZB) und das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK)
werden die neuen WHO-Empfehlungen unterstützt. Für die MDR-TB-Behandlung in Deutschland
wird die Einleitung einer aus 5 Medikamenten bestehenden Therapie mit Bedaquilin (BDQ),
LZD, LVX oder MXF, Clofazimin (CLO) und TRD nach molekularbiologischem Nachweis einer
RIF-Resistenz und Ausschluss von FQ-Resistenzen empfohlen [4]
[33]. Somit wird in diesen Empfehlungen, wie bereits in den WHO-Empfehlungen, auf die
Gabe eines injizierbaren Zweitrang-Medikaments wie Amikacin primär verzichtet. Weitere
Einzelheiten finden sich in den Stellungnahmen zu den neuen WHO-Empfehlungen für MDR-TB
[4]
[33]. Weitere Wirkstoffe und Therapieregime werden in klinischen Studien getestet. So
konnte in einer kürzlich veröffentlichen Studie gezeigt werden, dass bei extensiver
Medikamenten-Resistenz (XDR) und bei komplizierter MDR-TB durch die orale Gabe von
BDQ, Pretomanid und LZD nach 26 Wochen ein Therapieerfolg von 90 % erreicht werden
konnte, vergleichbar den Ergebnissen moderner Studien für voll sensible Tuberkulose
mit der Standardtherapie aus INH, RIF, PZA und EMB [24]
[34]
[35]
[36].
Die bei unserer Patientin aufgetretenen Nebenwirkungen (Arzneimittelexanthem, rezidivierende
Enterokolitiden, Myalgie, Sensibilitätsstörungen, Arthralgien, Vaginitis) waren teils
schwerwiegend und zwangen zur Umstellung der Therapie. Diese Nebenwirkungen sind 3
Jahre nach Beendigung der Therapie noch immer rezidivierend in wechselnder Intensität
vorhanden. Im Vordergrund der Beschwerden stehen die Sensibilitätsstörungen und das
Chronic Fatigue-Syndrom. Insbesondere EMB und KAN sind dabei als Verursacher zu nennen,
INH und LZD wurden vergleichsweise nur kurzfristig eingesetzt, jedoch auch TRD und
LVX können zu zentralnervösen Störungen führen. Pyridoxin (Vitamin B6), welches nahezu
die gesamte Therapiedauer in niedriger Dosierung von 40 mg/die, wie bei TRD-Gabe empfohlen,
eingenommen wurde, kann paradoxerweise in zu hohen Dosen selbst eine Polyneuropathie
auslösen [8]
[37]
[38]
[39]. Die MDR-TB-Therapie ist langwierig und bedarf einer Kombination mehrerer Zweitrang-Medikamente,
die bekanntermaßen mit einer Vielzahl von Nebenwirkungen einhergehen und schwere Krankheitsbilder,
bis hin zum Tod, auslösen können [39]. Eine Meta-Analyse von 35 Therapie-Studien mit insgesamt 9178 MDR-TB-Patienten zeigte,
dass die Fluorchinolone LVX und MXF sowie CLO und BDQ die niedrigsten Raten an Nebenwirkungen
hatten, die zum kompletten Absetzen der Substanz führten, die injizierbaren Zweitrang-Medikamente
AMK, KAN und CAP sowie PAS und LZD dagegen die höchsten [39]. Die Ergebnisse bestätigen, dass eine engmaschige Überwachung von Nebenwirkungen
bei Patienten mit MDR-TB erforderlich ist [39].
Infektionsquelle
Eine Indexperson als Überträger der TB konnte nicht identifiziert werden. Eine Reise
in oder ein wissentlicher Kontakt zu Personen aus Hochinzidenzländern lag nicht vor.
Bei 5 Personen im beruflichen Umfeld fand sich ein positiver QuantiFERON-Test als
Nachweis einer latenten TB. Ob unsere Patientin die Indexperson war, eine Person aus
dem beruflichen Umfeld oder eine zu pflegende Person bleibt offen. Unsere Patientin
hatte als Altenpflegerin häufig sehr engen Kontakt mit den zu Pflegenden, insbesondere
bei Schluckstörungen und spontanem Husten kam es zu einer erheblichen Exposition gegenüber
Aerosolen. Ein früherer TB-Fall in dem Seniorenheim war zwar nicht bekannt, ist jedoch
als wahrscheinlichste Infektionsquelle zu vermuten. Beschäftigte im Gesundheitswesen
haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Risiko für TB, insbesondere
in bestimmten Bereichen oder bei bestimmten Tätigkeiten [8]
[9]
[10]
[11]. Da unsere Patientin als Altenpflegerin der Infektionsgefahr einer TB besonders
ausgesetzt war, erfolgte nach Berufskrankheiten (BK)-Verdachtsmeldung und Begutachtung
die Anerkennung als BK-Nummer 3101 durch die zuständige Berufsgenossenschaft [40].
Husten und AATM
Auch nach abgeschlossener MDR-TB-Therapie besteht bei unserer Patientin Hustenreiz,
insbesondere bei Kälteexposition. Eine wichtige Differenzialdiagnose als Ursache ist
der AATM. Die gemessenen Serum-Alpha-1-Antitrypsin-Spiegel waren nur leicht erniedrigt:
Therapiebeginn // 38 Monate später // 46 Monate später: 0,83 g/l // 0,77 g/l // 0,75 g/l
(Norm 0,9–1,8 g/l). Patienten mit AATM haben sehr häufig Luftnot, weniger häufig jedoch
Husten und Giemen [41]
[42]
[43]
[44]
[45]. Bei Patienten mit schwerem AATM (ZZ-Träger) und Symptomen von chronischem Husten,
Auswurf und Giemen wurde eine höhere Empfänglichkeit für einen rascheren Abfall der
Lungenfunktion diskutiert [46]. Im Screening-Programm des Deutschen Alpha-1-Antitrypsin-Labors der Universität
Marburg fanden sich unter 18 638 ausgewerteten Proben 1835 Individuen mit schwerem
AATM. Von den klinischen Charakteristika, die sich als signifikante Prädiktoren für
den Genotyp PiZZ erwiesen, waren eine COPD in der Vorgeschichte, Lungenemphysem und
Bronchiektasen, wohingegen ein Asthma in der Vorgeschichte, Husten und Auswurf Prädiktoren
gegen den Genotyp PiZZ waren [47]. In einer frühen Arbeit von 1970 wird auf die Möglichkeit von Symptomen eines Asthma
bronchiale bei AATM hingewiesen. Von den 11 der dort beschriebenen Patienten hatten
initial alle Luftnot bei Belastung, 6 davon klagten jedoch über Husten und Auswurf
nach Belastung oder nach Exposition zu kalter Luft, jedoch ohne nächtliches Erwachen
wegen Giemen und Luftnot und ohne Ansprechen nach Gabe von Bronchodilatatoren [48]. Unsere Patientin hatte zwar eine Allergie, jedoch im Bronchoprovokationstest keine
Hyperreagibilität, kein Ansprechen auf ICS oder ICS/LABA, und weitere Ursachen, wie
ein gastroösophagealer Reflux und eine endobronchiale Läsion, waren ausgeschlossen
worden. Somit ist es wahrscheinlich, dass der Husten als Symptom des AATM zu erklären
ist. Obgleich der Husten nicht Symptom der erlittenen MDR-TB war, führte dessen Abklärung
zur Diagnosestellung.
Tuberkulose und AATM
In der Literatur finden sich zu diesem Thema nur sehr begrenzte Aussagen. Aus Österreich
wird der Fall einer jungen Patientin mit homozygotem AATM (PiZZ) und assoziierter
Lebererkrankung berichtet, die kurz nach der Geburt eines gesunden Mädchens eine primäre
Lebertuberkulose erlitt; eine Empfänglichkeit für hepatische Infektionen bei AATM
wurde postuliert [49]. Aus dem Iran werden 2 Fälle berichtet, bei denen es bei ausgedehnter Lungen-TB
und emphysematösen Veränderungen jeweils etwa 6 Wochen nach Beginn der Therapie mit
RIF, INH, PZA und EMB zu einem Leberversagen kam. Es zeigten sich erniedrigte AAT-Werte
als Korrelat eines zuvor nicht bekannten AATM mit Lungenemphysem. Hinweise für eine
anderweitige Lebererkrankung fanden sich nicht, sodass die Kombination einer assoziierten
Leberbeteiligung bei AATM und die potenzielle Lebertoxizität der Medikation sehr wahrscheinlich
das Leberversagen verursachten. Die Autoren schlussfolgern, dass bei AATM mit Lungenemphysem
eine assoziierte Leberbeteiligung bedacht werden sollte und somit ein erhöhtes Risiko
hepatotoxischer Reaktionen durch die antituberkulöse Medikation besteht [50].
Fazit für die Praxis
Medizinisches Personal, besonders auch in der Altenpflege, hat durch intensiven Kontakt
mit Aerosolen von Patientinnen und Patienten ein erhöhtes Infektionsrisiko für eine
TB und andere aerogen übertragbare Erkrankungen. Eine MDR-TB kann auch bei in Mitteleuropa
lebenden Menschen auftreten, die keinen wissentlichen Kontakt zu Personen aus Ländern
mit hoher Inzidenz multiresistenter Tuberkulosen hatten. Eine floride TB kann relativ
symptomlos sein und über Jahre unerkannt bleiben. Die Zusammenarbeit mit einem Expertenzentrum
ist zur differenzierten Diagnosestellung und Therapie einer MDR-TB obligat. Nebenwirkungen
der erforderlichen Medikation können teils lebensbedrohlich akut auftreten und zu
einer Dauerschädigung mit anhaltenden Residualsymptomen führen. Eine subtile, engmaschige
und langfristige Überwachung unter Beteiligung anderer Fachdisziplinen wie Mikrobiologie,
HNO, Gastroenterologie, Neurologie und ggfs. Gynäkologie ist deshalb erforderlich,
um Nebenwirkungen der komplexen Medikation zu vermeiden, frühzeitig zu erkennen und
auf ein Minimum zu reduzieren. Bei Patienten mit AATM sollte großzügig die Indikation
zur Durchführung eines IGRA gestellt werden, um insbesondere bei Risikoberufen, wie
in der Kranken- und Altenpflege, eine möglicherweise symptomlos vorhandene TB frühzeitig
zu erkennen. Bei einer TB-Erkrankung und gleichzeitig vorhandenem AATM muss eine potenziell
assoziierte Leberbeteiligung bedacht werden, da bei antituberkulöser Therapie ein
erhöhtes Risiko für eine schwerwiegende hepatotoxische Reaktion besteht.