physiopraxis 2021; 19(06): 24-29
DOI: 10.1055/a-1492-4714
Therapie

Wenn wenig viel hilft – Fallbeispiel chronischer Rückenschmerz

Michael Richter
 

Patienten mit persistierenden Beschwerden brauchen Handwerkszeug, mit dem sie ihre Beschwerden selbst beeinflussen können. So können sie langsam, aber sicher die Kontrolle über ihre Symptome zurückerlangen. Michael Richter stellt den Fall eines jungen Mannes mit Rücken-schmerzen vor, der so ähnlich immer wieder in Physiotherapiepraxen vorkommt.


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Michael Richter

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Michael Richter ist seit 1999 Physiotherapeut. Er ist Mitherausgeber der Thieme Zeitschrift „MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie“, arbeitet als Physiotherapeut im Rückenzentrum Am Michel in Hamburg und als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fachhochschule Münster.

„Lumbales Schmerzsyndrom, Iliosakralgelenk-Fugensyndrom rechts“ steht auf dem Rezept des jungen Mannes, der sich bei mir für sechs Einheiten Manuelle Therapie im Rückenzentrum am Michel vorstellt. Im mitgebrachten MRT-Befund steht:

  • Chondrose und initiale Osteochondrose L 4–S 1 mit linksbetontem medialen subligamentären Bandscheibenprolaps in Höhe L 4/5 mit Riss im Anulus fibrosus und Kontakt zur linken L 5-Wurzeltasche ohne Kompression

  • in Höhe L 5/S 1 breitbasiger medialer subligamentärer Bandscheibenprolaps mit Kontakt zu den S1-Wurzeltaschen ohne Kompression

  • geringe Spondylarthrosen von L 4–S 1, z. B. diskret betont in Höhe L 4/5 beidseits

  • keine Spinalkanalstenose/Myelopathie

Subjektiver Befund

Herr M. ist 27 Jahre alt und klagt über drückende und dauerhafte lokale Symptome im LWS-Becken-Übergang rechts (NRS 6/10) und bilateral dorsomediale Symptome am Oberschenkel bis hin zum medialen Kniegelenk ([ABB. 5]). Letztere sind eher diffus, sehr wechselhaft und werden als verspannt oder krampfartig beschrieben. Herr M. erzählt, dass sich seine Beschwerden während Joggen und Pilates verstärken, er im Nachhinein aber immer das Gefühl hat, dass ihm beides guttat. Stehen wirkt ebenfalls schmerzprovozierend. Er äußert, dass es ihm nicht klar ist, ob die Aktivitäten okay und gesund sind oder ob er damit die Symptome verschlimmert und etwas kaputt macht. Auch mache er zweimal die Woche zu Hause funktionelles Training. Ähnlich wie beim Pilates hat er währenddessen Schmerzen, aber es ist ihm wichtig, „fit zu bleiben“. Im 24-Stunden-Verhalten sind die Symptome morgens verstärkt und erreichen dort ihre Schmerzspitzen. Im Laufe des Tages bessern sich die Beschwerden, während sie abends meist wieder schlechter werden – egal, ob er sich in Bewegung oder auf der Couch befindet. Die Nächte sind unproblematisch und erholsam.


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Vorgeschichte

Aus der Akte lässt sich herauslesen, dass Herr M. schon seit zwei Jahren wechselhafte Beschwerden im LWS-Bereich und in beiden Beinen hat. Derzeit sind die lokalen Schmerzen rechtsseitig, allerdings hatte er bereits links eine identische Symptomatik. Der Lasègue-Test sei aktuell bei 40° rechts positiv. Weiter lese ich, dass Herr M. im Laufe der letzten zwei Jahre Physiotherapie, Einlagen und Schmerzmittel erhielt. Die Physiotherapie wirkte zwar immer kurzfristig gut auf die Beschwerden, allerdings nie nachhaltig.

Aufgrund der wechselhaften, aber anhaltenden Beschwerden halte ich eine fundierte körperliche Untersuchung für unabdingbar. Mindestens genauso wichtig ist, dass der Patient die Zeit bekommt, seine Geschichte zu erzählen. Ich gehe davon aus, dass die Auslöser nicht mehr allein auf struktureller Ebene zu finden sind, sondern dass seine Verhaltensweisen, Erfahrungen und Erwartungen ebenfalls bedeutend sind.

Laut der Nationalen Versorgungsleitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz [1] sind Fragebögen zur Erfassung eventuell beitragender Faktoren als Selbstauskunft exzellent geeignet. Ich werde Herrn M. daher den Örebro-Fragebogen ausfüllen lassen, den man z. B. als Kurzversion von der Website www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerz herunterladen kann. Ich werde ihm empfehlen, dort auch die Patientenversion der Leitlinie zu lesen. Um die Behinderung im Alltag strukturiert zu erfassen, soll er zusätzlich den Oswestry Disability Index (ODI) ausfüllen.

Die im MRT-Bericht beschriebenen strukturellen Veränderungen können durchaus nervös machen. Da allerdings keinerlei Ausfallerscheinungen genannt sind und Herr M. auch mir gegenüber weder Kraft- noch Gefühlsverlust angibt, werde ich ihn erst mal beruhigen. Die Lokalisation der Symptome lässt an ein Reithosen-Syndrom denken, da werde ich konkreter nachfragen.

Und schließlich interessiert mich, was Herr M. bisher in der Physiotherapie gemacht hat. Zwar können Patienten dies nur selten konkret rekapitulieren, mir ist aber wichtig zu wissen, ob und welche Übungen er kennt und ob mobilisiert wurde.

Örebro-Fragebogen

Psychosoziale Risikofaktoren bestimmen

Für das Screening psychosozialer Risikofaktoren und für eine Aussage dazu, ob ein erhöhtes Chronifizierungsrisiko vorliegt, eignet sich der Örebro Musculoskeletal Pain Screening Questionnaire (ÖMPSQ). Alternativ kommt häufig das STarT Back Tool zum Einsatz. Im Folgenden werden aus Platzgründen nur die besonders auffälligen Antworten von Herrn M. (Punkte > 5) augeführt.

Item 8:    Schmerzen dauern länger als 1 Jahr (10 Punkte)

Item 10:    Schmerzstärke während der letzten Wochen (6 Punkte)

Item 11:    durchschnittliche Schmerzstärke während der letzten drei Monate (5 Punkte)

Item 12:    durchschnittliche Häufigkeit der Schmerzen während der letzten 3 Monate von 0 „nie“ bis 10 „ständig“ (9 Punkte)

Item 13:    Bedenken Sie alle Maßnahmen, die Sie ergreifen, um Ihre Schmerzen zu lindern: Wie stark können Sie Ihre Schmerzen an einem durchschnittlichen Tag lindern? von 0 „Kann sie überhaupt nicht lindern“ bis 10 „Kann sie komplett lindern“ (7 Punkte)

Item 14:    Wie angespannt oder ängstlich haben Sie sich während der letzten Woche gefühlt? von 0 „völlig ruhig und entspannt“ bis 10 „So angespannt und ängstlich wie noch nie“ (6 Punkte)

Item 15:    Wie sehr haben Sie sich während der letzten Woche durch Niedergeschlagenheit belastet gefühlt? von 0 „Überhaupt nicht“ bis 10 „Extrem“ (7 Punkte)

Item 16:    Wie groß ist aus Ihrer Sicht das Risiko, dass Ihre Schmerzen dauerhaft bleiben? von 0 „Kein Risiko“ bis 10 „Sehr großes Risiko“ (5 Punkte)

Item 18:    Wenn Sie Ihre Arbeitsabläufe, Ihre Vorgesetzten, Ihr Gehalt, Ihre Karrieremöglichkeiten und Ihre Arbeitskolleg(inn)en in Bedracht ziehen: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeit? von 0 „Überhaupt nicht zufrieden“ bis 10 „Völlig zufrieden“ (9 Punkte)

Item 19:    Körperliche Aktivität verschlechtert meinen Schmerz. von 0 „Stimmt überhaupt nicht“ bis 10 „Stimmt völlig“ (8 Punkte)

Item 20:    Schmerzzunahme ist ein Zeichen dafür, dass ich damit aufhören sollte, was ich gerade mache, bis der Schmerz zurückgeht. (7 Punkte)

Item 21:    Mit meinen derzeitigen Schmerzen sollte ich meine normalen Alltagsaktivitäten nicht verrichten. (8 Punkte)

Fazit: Das Ergebnis von Herrn M. ist mit 105 Punkten (lange Version des Örebro) gerade so als auffällig einzustufen – es besteht aufgrund der vielseitigen Einflussfaktoren die Gefahr einer Schmerzpersistenz.


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Spezifische Fragen

  • Welche Untersuchungen wurden neben dem MRT in den letzten zwei Jahren noch durchgeführt? – „Ein großes Blutbild und eine rheumatologische Untersuchung. Beides war unauffällig.“

  • Gibt es Probleme beim Wasserlassen oder Stuhlgang? – „Nein.“

  • Gibt es in den letzten Jahren andere Aspekte, die Ihr Leben beeinträchtigen, die Sie aber nicht mit den Beschwerden in Verbindung bringen? – „Na ja, ich bin ziemlich unzufrieden mit meiner Arbeit als Schifffahrtskaufmann. Unsere Arbeit wird nicht wertgeschätzt und wir haben ein generell schlechtes Arbeitsklima.“

  • Gibt es noch weitere Beschwerden wie Müdigkeit oder Schlafstörungen? – „Nein.“


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Fragebögen

Ich lasse Herrn M. den Örebro-Fragebogen ausfüllen (ÖREBRO-FRAGEBOGEN). Zudem beantwortet er die Fragen des ODI (OSWESTRY DISABILITY INDEX, S. 28). Gewöhnlich nehme ich mir die Zeit, diesen direkt während der Behandlung auszuwerten, sodass für mich keine zusätzliche Arbeitszeit durch die Nutzung von Assessments entsteht. Für mich ist die Arbeit mit Patienten ohne die Nutzung von Fragebögen nicht mehr denkbar, aber es braucht Übung, und ich kann allen Therapeuten empfehlen, nicht frühzeitig aufzugeben. Ist die Zeit knapp, kann der Bogen auch zur nächsten Einheit mitgebracht werden. Wichtig ist in meinen Augen, die Nutzung explizit den Patient(inn)en wie folgt zu kommunizieren:

Es ist wichtig, den Einsatz von Fragebögen sehr gut zu kommunizieren.

„Um einen umfassenden Eindruck von Ihrer aktuellen Situation zu bekommen und um nichts zu übersehen, bitte ich Sie jetzt, folgende Fragebögen auszufüllen. Die Ergebnisse erlauben mir unter anderem, zu entscheiden, ob ich während meiner Therapie eventuell Kollegen anderer Disziplinen hinzuziehen sollte oder ob es nichts gibt, was einer besonderen Berücksichtigung bedarf.“

Mit den ausgefüllten Fragebögen habe ich nun ein umfassenderes Bild erhalten. Herr M. kreuzt 8 von 50 möglichen Punkten an. Der Index beträgt < 20 % und zeigt eine leichtgradige Behinderung im Alltag an. Es zeigt sich, dass der ODI für diesen Patienten weniger bedeutsam ist, da er nicht sensibel genug war für seine Einschränkungen.

Anders verhält es sich mit dem Örebro-Fragebogen, der mehr Licht ins Dunkel bringt. Dieser verdeutlicht, dass Herr M. sowohl ängstlich als auch niedergeschlagen ist (Items 14 und 15). Beides ist durchaus normal, wenn man Beschwerden hat, die nicht besser werden und bei denen nichts zu helfen scheint. Die Ohnmacht gegenüber der Symptomatik (Item 13) sowie die Unzufriedenheit bei der Arbeit (Item 18) sind ebenfalls auffällig. Bemerkenswert ist Item 20. Denn Herr M. hat in der Anamnese betont, dass er viel Sport macht. Beim Item 19 macht er die Angabe, dass körperliche Aktivität seine Symptome verschlechtert. Er befindet sich diesbezüglich in einem Teufelskreis. Die von ihm geäußerte Unsicherheit, nicht zu wissen, ob er beim Sport etwas kaputt macht, „befeuert“ in meinen Augen diesen Teufelskreis. Solange bei ihm die Unsicherheit vorherrscht, dass Schmerzen bei Übungen oder beim Sport ein Signal dafür sind, dass sein Rücken geschädigt wird, werden die Symptome bei der Bewegung sicherlich nicht weniger. Hier wird es wichtig sein, dass ich ihn gut informiere und ihn kompetent darin mache, sein eigenes Training so zu gestalten, dass er an den Schmerz angepasst eine Progression vornimmt. Er muss überwinden, dass er jedes Mal Angst hat, etwas kaputt zu machen.

Der Örebro-Fragebogen verdeutlicht die große Unsicherheit des Patienten, etwas falsch machen zu können.


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Körperliche Untersuchung

Der Patient präsentiert sich in einem fitten Allgemeinzustand. Die neurologische Untersuchung von Kraft, Reflexen und Sensibilität ist unauffällig. Zur Differenzierung einer neurodynamischen Dysfunktion nutze ich den Straight Leg Raise Test und den Slump-Test. Es lassen sich keine Auffälligkeiten finden.

Die Untersuchung des segmentalen, lumbalen Gelenkspiels ist ebenfalls unauffällig. Es lässt sich lediglich eine leicht vermehrte Beweglichkeit feststellen. Insgesamt ist das Gewebe des Patienten sehr „weich“. Herr M. erzählt, dass er vor Jahren kräftiger war und dass er dieses Gewicht wieder verloren hat. Über der Crista iliaca beidseits und der dorsalen Axilla ist streifenförmiges Narbengewebe (Striae cutis atrophicae) sichtbar, das auf die vergangenen Gewichtsschwankungen hindeutet.

Der Finger-Boden-Abstand (FBA) beträgt 15 Zentimeter. Bei den Tests der lumbalen Bewegungskontrolle [2] hat Herr M. im Sitting Knee Extension (Kniestreckung im Sitzen), Waiter’s Bow (Kellnerbeuge) und beim Rocking Backwards (Verschiebung im Vierfüßlerstand nach hinten) Schwierigkeiten, die LWS in Extension zu kontrollieren. Auch nach wiederholter Instruktion ist es ihm nicht möglich, die LWS-Extension zu fixieren, während er ein Bewegungsmanöver ausführt.

Die lokale Palpation der lumbalen Schmerzregion zeigt eine erhöhte Spannung und gesteigerte Empfindlichkeit auf Druck (rechts > links). Der dorsomediale Schmerzbereich an den Oberschenkeln ist druckempfindlich, allerdings nicht hyperton. Die Aktivierung der Adduktoren mit angestellten Beinen löst den ihm bekannten Schmerz nicht aus.

Die körperliche Untersuchung liefert mir einen Hinweis darauf, dass der Patient ein Bewegungskontrolldefizit in Extension haben könnte. Hypothetisch wäre hierdurch erklärbar, dass er bisher nicht von seinen Übungen profitiert hat, da er die lumbalen Strukturen eventuell wiederholt provoziert hat und somit in eine Chronifizierung geraten ist. Die zusätzlich vorhandenen psychosozialen Faktoren (Jobunzufriedenheit, Angst, Niedergeschlagenheit, Unsicherheit) könnten diesen Chronifizierungsprozess unterhalten bzw. erst in Gang gebracht haben. Entscheidend ist, dass Herr M. seine Bewegungskontrolle verbessert und zudem Edukation erhält, die ihn über die möglichen erhaltenden Faktoren seiner Beschwerden aufklärt.

Auf die Frage „Was wurde in der bisherigen Physiotherapie bei Ihnen gemacht?“, antwortet Herr M., dass viel lokal behandelt wurde und er Übungen zur Verbesserung der Rumpfstabilisation erhalten hatte. Die Oberschenkelinnenseiten wurden intensiv massiert und getriggert. Nichts hat „eigentlich etwas gebracht“.

Bevor es nun losgeht, möchte ich den Patienten in die weitere Planung der Therapie involvieren und frage ihn nach seinen Erwartungen und was aus seiner Sicht die Symptome persistieren lässt. Er antwortet, dass er endlich schmerzfrei sein möchte und dass in seinen Augen die Muskeln wahrscheinlich zu schlapp sind – das hätten seine Physiotherapeuten zumindest so immer gesagt.


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1. Therapieeinheit (1. Woche)

Die erste Therapieeinheit besteht aus der Untersuchung und den Fragebögen. Zudem sichte ich gemeinsam mit Herrn M. die bisherige Vorbehandlung durch den zuweisenden Arzt. Im Verlauf erkläre ich ihm, dass die einfache Stabilisation durch physiotherapeutische Gymnastik oder Pilates bei einer veränderten Kontrolle der Lumbalregion nicht allein zielführend ist und dass er ganz spezielle, aber einfache Übungen braucht. Ich erkläre ihm, dass die Kontrolle der Bewegung eines Körperabschnitts eine Leistung ist, die nicht primär aus der Region selbst kommt, sondern dass es eine Wunderleistung an Zusammenarbeit aktiver und passiver Strukturen sowie mit dem ZNS ist. Schließlich besprechen wir, dass wir in der kommenden Einheit gemeinsam diese Übungen erarbeiten werden, und ich erkläre ihm, warum ich der Überzeugung bin, dass er besser verstehen sollte, welche viefältigen Faktoren tatsächlich an einer anhaltenden Schmerzsymptomatik beteiligt sein können.

Einfache Kontrollübungen für die LWS und Edukation sind bei Herrn M. der Schlüssel zum Erfolg.


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2. Therapieeinheit (2. Woche)

In der zweiten Einheit erarbeiten wir einfache Kontrollübungen für den LWS-Bereich als Heimprogramm. Bei diesen Übungen geht es primär darum, die Kontrolle der LWS in der Extension zu verbessern ([ABB. 1]–[4], S. 24). Hierfür nutze ich als Biofeedback einen Spiegel.

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ABB. 1 Korrigierende Übung im Vierfüßlerstand. Der Patient soll die LWS in Extension halten und kontrolliert mit dem Gesäß bis circa 120° Hüftgelenkflexion in Richtung Fersen bewegen. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 2 Während der Patient seinen Rücken im Spiegel betrachtet, soll er kontrolliert und langsam ein Bein nach hinten bewegen, ohne dabei die LWS zu bewegen. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 3 Steigerung: Der Patient stützt auf einem instabilen Jumper und korrigiert die LWS-Stellung über den Spiegel. Kann er lumbal stabilisieren, soll er im Wechsel einen Fuß kurz anheben. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 4 Der Patient konnte bei der Kellnerbeuge die LWS nicht gestreckt halten. Als korrigierende Übung macht er einen Squat mit halbem Bewegungsausmaß und hält dabei seine LWS stets aufgerichtet. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 5 Der Patient gibt sowohl lokale Symptome am rechten Übergang von Becken und LWS an als auch beidseitige diffuse Beschwerden an der dorsalen Oberschenkelrückseite. © Thieme Group
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ABB. 6 Der Spiegel hilft Patienten sehr, die LWS-Kontrolle selbstständig zu kontrollieren. Nach und nach lassen sich die Übungen steigern, zum Beispiel indem der Squat auf einer wackeligen Unterlage stattfindet. © M. Richter (Symbolbild)

Zudem bespreche ich mit Herrn M. die unterschiedlichen Faktoren, die basierend auf dem Ergebnis seines Örebro-Fragebogens am Erhalt der Symptomatik beteiligt sein können. Die Items 14–16 (Angst, Niedergeschlagenheit, Pessimismus vs. Optimismus) beziehen sich auf die psychosoziale Ebene. Ängstlichkeit und Niedergeschlagenheit sind psychologische Faktoren, die neben der Unsicherheit des Patienten, ob die Symptome dauerhaft bleiben oder nicht, schmerzerhaltende Faktoren sein können [3]. Auch die Unzufriedenheit im beruflichen Kontext (Item 19) ist durchaus relevant, wenn es um die Edukation des Patienten geht. Anhand eines individualisierten Schmerzkreislaufs – basierend auf dem Angst-Vermeidungs-Kreislauf – erkläre ich ihm die Relevanz der genannten Faktoren und sensibilisiere ihn dahingehend, dass er in Betracht zieht, dass die anhaltenden Beschwerden nicht allein auf die strukturellen Veränderungen im LWS-Bereich zurückzuführen sind. Ich betone, dass die Symptome nicht eindeutig zu der vorliegenden Pathologie laut MRT-Befund passen. Für die nächste Einheit plane ich, die Übungsintensität zu steigern und eine vertiefende Edukation zum Thema Schmerzneurophysiologie aufzugreifen. Ich sage ihm: „Um die Symptome positiv zu beeinflussen, ist es wichtig, dass Sie die Übungen nun regelmäßig machen – nur so können wir bestimmen, ob sie zielführend auf Ihre Beschwerden Einfluss nehmen.“ Er soll alle seine sonstigen Aktivitäten weiterführen. Hiermit möchte ich erreichen, dass er die bisher gemachten Übungen nicht als „falsch“ empfindet.


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3. bis 6. Therapieeinheit (3.–4. Woche)

Herr M. hat durch die Übungen von Beginn an ein gutes Gefühl. Wir steigern die Übungsintensität durch mehr Wiederholungen und ein schwierigeres Niveau der Durchführung ([ABB. 3], S. 24 und 6, S. 27). Neben den Übungen zeige ich ihm eine Entspannungstechnik, die er erlernen soll. Zum Einstieg wähle ich dafür ein YouTube-Video zur Progressiven Muskelrelaxation, erwähne aber, dass es im Netz jede Menge kostenlose Entspannungstechniken gibt, die dort gut angeleitet werden. Auch einige Krankenkassen bieten ihren Kunden Entspannungsverfahren auf CD oder als MP3-Download an. Hier soll er mal bei seiner Versicherung nachfragen. Wenn Patienten geübter in aktiven Entspannungsverfahren sind, sind auch Fantasiereisen oder Autogenes Training empfehlenswert.

Oswestry Disability Index

Rückenschmerzen im Alltag bestimmen

Mit dem Oswestry Disability Index (ODI) lässt sich ermitteln, welche durch Rückenschmerzen verursachte Einschränkung am Sozialleben und welches alltagsrelevante Beschwerdeausmaß es gibt. Dafür werden Einschränkungen in zehn Kategorien abgefragt: Schmerzstärke, Körperpflege, Heben, Gehen, Sitzen, Stehen, Schlafen, Sexualleben, Sozialleben und Reisen. Jede der zehn Fragen gibt sechs Antwortmöglichkeiten vor, denen Punkte von 0 bis 5 zugeordnet sind.

ODI von Herrn M. zu Therapiebeginn

1. Die Schmerzen sind momentan mäßig. (2 Punkte)

2. Ich kann meine Körperpflege normal durchführen, aber es ist schmerzhaft. (1 Punkt)

3. Ich kann schwere Gegenstände heben, aber die Schmerzen werden dadurch stärker. (1 Punkt)

4. Schmerzen hindern mich nicht daran, so weit zu gehen, wie ich möchte. (0 Punkte)

5. Ich kann auf jedem Stuhl so lange sitzen, wie ich möchte. (0 Punkte)

6. Ich kann so lange stehen, wie ich möchte, aber die Schmerzen werden dadurch stärker. (1 Punkt) UND Schmerzen hindern mich daran, länger als 1 Stunde zu stehen. (2 Punkte) – Da der Patient bei diesem Item zwei Kreuze gesetzt hat, wird nur der höhere Wert berücksichtigt.

7. Mein Schlaf ist gelegentlich durch Schmerzen gestört. (1 Punkt)

8. Mein Sexualleben ist normal, aber die Schmerzen werden dadurch stärker. (1 Punkt)

9. Mein Sozialleben ist normal, und die Schmerzen werden dadurch nicht stärker. (0 Punkte)

10. Ich kann überallhin reisen, und die Schmerzen werden dadurch nicht stärker. (0 Punkte)

Fazit: Herr M. gibt 8 von 50 möglichen Punkten an. Der Index lässt sich damit wie folgt berechnen: 8/50 x 100 = 16 %. Der Wert < 20 % zeigt eine leichtgradige Behinderung im Alltag an.

Da Herr M. gut Englisch spricht, empfehle ich ihm zur Vertiefung der Schmerzedukation zudem das Video „Understanding pain in less than 5 minutes, and what to do about it!“ (bit.ly/Understanding_Pain_) und ein sehr empfehlenswertes Video von Lorimer Moseley (bit.ly/Zaehme_das_Biest), das schon viele meiner Patienten begeisterte. Während der Behandlungen nutze ich für die Schmerzedukation zudem die vier Poster der NOI Group „Schmerzen verstehen“ aus Australien (bit.ly/NOI_Poster). Mit deren Hilfe lernt Herr M. zu verstehen, …

… dass er die Führung übernehmen und lernen muss, was er machen kann.

… dass viele der Gedanken und Überzeugungen, die er bezüglich seiner Schmerzen in sich trägt, nicht richtig sind.

… dass Gedanken ausreichen, um Schmerz zu erhalten.

… dass Kraft nicht alles ist und manchmal kleine, leichte Übungen mehr bringen (insbesondere, weil er schon exzessiv viel Therapie ohne Effekt gemacht hat).

… dass Wissen Macht ist und das Nervensystem desensibilisieren kann.

… dass es einige Optionen gibt, ihm zu helfen, und es keinen Grund zur Verzweiflung gibt.


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Schlussfolgerung

Zum Therapieende erreicht Herr M. eine subjektive Schmerzlinderung von mehr als 50 Prozent seiner ursprünglichen Schmerzstärke. Er hat viele Übungen von mir erhalten, mit denen er auf verschiedenen Niveaus seine LWS-Bewegungskontrolle trainieren kann, und er weiß zudem, dass er lernen muss, mithilfe aktiver Verfahren auch mal zu entspannen. Er kann wieder joggen gehen, und während des Stehens treten seine typischen bilateralen Beschwerden nicht mehr auf. Zudem sind die morgendlichen Anlaufschmerzen weniger intensiv, und der Finger--Boden-Abstand ist auf 0 cm verbessert. Wesentlich wichtiger für ihn aber ist, dass er beim Bücken keine Schmerzen mehr hat und frei beweglich ist.

Mir war bei der Behandlung von Herrn M. wichtig, dass er in allen Einheiten spürt, dass ich ihn gerne begleite und er mein volles Verständnis für seine „blöde“ Situation und die chronischen Beschwerden hat. Gleichzeitig habe ich ihm immer wieder vermittelt, dass er der Experte für seine Beschwerden werden muss und dass chronische Schmerzen ein sehr komplexes Problem sind, das bei gutem Management eine positive Entwicklung nehmen wird. Konstruktive Kommunikation und eine gute, empathische Bindung zum Patienten sind bedeutend für eine erfolgreiche Therapie.

Herr M. war sehr angetan von der Idee der Bewegungskontrolle, da er dies bisher nicht kannte. Ob die Kontrollübungen tatsächlich seine Funktion und Schmerzsituation positiv beeinflusst haben, kann ich nicht sagen. Aber die Mischung aus Edukation und Bewegungskontrollübungen war auf jeden Fall passend und erfolgreich für ihn. Tatsächlich konnte er zum Ende der Behandlungsserie seine Bewegung lumbal sehr gut in alle Richtungen kontrollieren, ohne dabei zu verspannen.

Ich habe bewusst nicht in jeder Behandlungseinheit nach der aktuellen Schmerzstärke gefragt, allerdings habe ich mich immer empathisch nach seinem aktuellen Befinden erkundigt. Wichtig war mir, Herrn M. stets darin zu bestärken, dass er auf einem guten, selbstwirksamen Weg ist.

YouTube
bietet gute Videos, in denen Experten wie Lorimer Moseley die Schmerzmechanismen verständlich und schön illustriert vermitteln.

Mit Aufklärung und Verbesserung der Bewegungskontrolle der LWS konnte ich bei Herrn M. eine gute Beschwerdekontrolle erreichen. Da wir – wie so oft im therapeutischen Setting – nur 6 x 20 Minuten Zeit hatten und er sich mit einer komplexen Symptomatik bei mir vorstellte, lag der Behandlungsschwerpunkt auf Aktivität und Edukation. Passive Maßnahmen im Sinne einer Manuellen Therapie hatte der Patient schon viel und häufig ohne nachhaltigen Effekt erhalten.


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Publication History

Article published online:
14 June 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
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ABB. 1 Korrigierende Übung im Vierfüßlerstand. Der Patient soll die LWS in Extension halten und kontrolliert mit dem Gesäß bis circa 120° Hüftgelenkflexion in Richtung Fersen bewegen. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 2 Während der Patient seinen Rücken im Spiegel betrachtet, soll er kontrolliert und langsam ein Bein nach hinten bewegen, ohne dabei die LWS zu bewegen. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 3 Steigerung: Der Patient stützt auf einem instabilen Jumper und korrigiert die LWS-Stellung über den Spiegel. Kann er lumbal stabilisieren, soll er im Wechsel einen Fuß kurz anheben. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 4 Der Patient konnte bei der Kellnerbeuge die LWS nicht gestreckt halten. Als korrigierende Übung macht er einen Squat mit halbem Bewegungsausmaß und hält dabei seine LWS stets aufgerichtet. © M. Richter (Symbolbild)
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ABB. 5 Der Patient gibt sowohl lokale Symptome am rechten Übergang von Becken und LWS an als auch beidseitige diffuse Beschwerden an der dorsalen Oberschenkelrückseite. © Thieme Group
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ABB. 6 Der Spiegel hilft Patienten sehr, die LWS-Kontrolle selbstständig zu kontrollieren. Nach und nach lassen sich die Übungen steigern, zum Beispiel indem der Squat auf einer wackeligen Unterlage stattfindet. © M. Richter (Symbolbild)