Schlüsselwörter
COVID-19 - E-Mental-Health - Behandlung
Key words
COVID-19 - e-mental health - treatment
Einleitung
Seit März 2020 verursacht die COVID-19-Pandemie weltweit erhebliche Veränderungen
der gewohnten Lebens- und Arbeitsweisen. Um eine schnelle Ausbreitung des COVID-19-Virus
in Deutschland zu verhindern, einigten sich Bund und Länder am 22. März 2020 auf notwendige
und umgreifende Kontaktbeschränkungen. Nach zwischenzeitlichen Lockerungen wurden
diese Beschränkungen im November 2020 erneut verschärft. Weltweit kam es durch die
COVID-19-Pandemie sowohl zu einem Anstieg psychischer Störungen ([1], s. zudem Meyer-Lindenberg et al. in diesem Heft) als auch zu Schwierigkeiten bei
der Durchführung von Face-to-Face-Behandlung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen
Versorgung (z. B. aufgrund von Infektionsängsten). So berichteten 48 % der Befragten
mit einer depressiven Erkrankung in einer Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe,
dass es während des „Lockdowns“ im Frühjahr 2020 zu Ausfällen bei ambulanten fachärztlichen
oder psychotherapeutischen Behandlungsterminen gekommen sei [2]. Zudem berichteten 9 % der befragten Personen mit einer depressiven Störung, dass
aufgrund der COVID-19-Pandemie eine geplante stationäre Behandlung nicht habe stattfinden
können [2].
Eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt, dass Depressions-, Angst- und PTBS-Symptome
in der Allgemeinbevölkerung während der COVID-19-Pandemie erhöht sind, wobei die Intensität
und Dauer dieser Symptome häufig die Kriterien einer psychischen Störung erfüllen
[1]. Risikofaktoren für eine erhöhte psychische Belastung in der COVID-19-Pandemie sind
u.a. ein geringeres Lebensalter (≤ 40 Jahre), Arbeitslosigkeit, weibliches Geschlecht
und chronische Erkrankungen [1]. Auch bei zahlreichen Personen mit vorbestehenden psychischen Störungen scheinen
in der COVID-19-Pandemie soziale Isolation, Ängste und wirtschaftliche Unsicherheit
zu einer Exazerbation der psychischen Symptomatik beigetragen zu haben [3]. Der erhöhte Bedarf und die Schwierigkeiten bei der Durchführung von Face-to-Face-Behandlungen
haben in der COVID-19-Pandemie weltweit zu einer deutlich verstärkten Nutzung digitaler
Verfahren in der Behandlung psychischer Störungen geführt (z. B. [4]). In Deutschland wird der Einsatz therapeutischer digitaler Verfahren sowohl durch
die Kostenträger mit Änderungen der regulatorischen Rahmenbedingungen [5] als auch durch die relevanten Fachverbände mit Behandlungsempfehlungen [6] unterstützt.
Der vorliegende Artikel beinhaltet eine Übersicht über den Einsatz digitaler Verfahren
zur Behandlung psychischer Störungen und pandemiebedingter psychischer Belastung.
Diskutiert werden außerdem Fragen der differentiellen Indikation bezüglich digitaler
Behandlungsformen sowie Herausforderungen bei deren Einsatz. Abschließend erfolgt
ein Ausblick auf die langfristige Perspektive digitaler Verfahren in der psychiatrisch-psychotherapeutischen
Versorgung. Das Literaturscreening für diesen Artikel war explorativ und erfolgte
im November und Dezember 2020 in den Datenbanken PubMed (MEDLINE), PsycInfo und Scopus.
Digitale Behandlungsformen während der COVID-19-Pandemie: Ein Überblick
Digitale Behandlungsformen während der COVID-19-Pandemie: Ein Überblick
Die Einsatzmöglichkeiten von digitalen Behandlungsformen in der psychotherapeutisch-psychiatrischen
Versorgung sind vielfältig und werden häufig unter dem Begriff E-Mental-Health zusammengefasst.
Digitale Verfahren können über den gesamten Behandlungsverlauf von der Prävention
über Diagnostik sowie Intervention und Rückfallprophylaxe eingesetzt werden [7]. Technisch sind verschiedene Lösungen möglich, z. B. der Einsatz von E-Mails, Instant
Messages, Video, Smartphone Apps, Virtual Reality oder psychoedukativen Computerspielen
[7]. Bezüglich der eingesetzten Verfahren kann differenziert werden zwischen solchen,
die Face-to-Face-Behandlungen mit virtuellen Mitteln kombinieren (Blended Therapy), Verfahren, in denen der Behandler/-innenkontakt ausschließlich über digitale Medien
(z. B. Textnachrichten oder Video) stattfindet, und Verfahren, die unabhängig von
Behandler/-innen eingesetzt werden (z. B. Apps; Standalone Approach) [7].
In Deutschland ist davon auszugehen, dass das in der COVID-19-Pandemie am stärksten
verwendete digitale Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen Videositzungen
mit Hilfe zertifizierter Videodienstanbieter sind. Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV) und dem GKV-Spitzenverband beschlossenen Sonderregelungen haben die Durchführung
von Psychotherapie, psychotherapeutischen Sprechstunden und probatorischen Sitzungen
als Videobehandlung ermöglicht. Zudem ist die Beschränkung der Videositzungen auf
maximal 20% der Patient/-innen vorübergehend ausgesetzt [5].
In einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK; N = 3434 Psychotherapeut/-innen) im Zeitraum von Juni bis August 2020 berichteten 87,9
% der befragten Psychotherapeut/-innen, Videobehandlungen durchgeführt zu haben. Gleichzeitig
gaben 91,4 % derjenigen, die eine Videobehandlung genutzt haben, an, diese während
der COVD-19-Pandemie erstmals eingesetzt zu haben [8]. Dieses Muster wird von einer weiteren Studie gestützt, in der N = 130 deutsche Psychotherapeut/-innen berichteten, von Mitte bis Ende Mai 2020 im
Vergleich zum Zeitraum vor der COVID-19-Pandemie wöchentlich durchschnittlich 18 %
weniger Patient/-innen in Face-to-Face-Sitzungen, hingegen 6558% mehr Patient/-innen
(in absoluten Zahlen: 5,26 Patient/-innen wöchentlich, verglichen mit zuvor 0,08 Patient/-innen
wöchentlich) mit diversen psychischen Störungen über das Internet behandelt zu haben
[9]. Unterstützt wird der Einsatz von Videotherapie z. B. durch entsprechende fachliche
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie [10] und der American Psychological Association [11].
In Deutschland gab es neben den geänderten Rahmenbedingungen für videobasierte Behandlungsformen
(s.o.) eine weitere wichtige Entwicklung im Hinblick auf den Einsatz digitaler Verfahren
in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung. Seit Oktober 2020 können niedergelassene
Ärzt/-innen und psychologische Psychotherapeut/-innen digitale Gesundheitsanwendungen
(DiGA) verordnen. Bisher sind u.a. Apps in den Bereichen Angststörungen und nichtorganische
Insomnie verordnungsfähig [12]. Noch liegen keine Zahlen darüber vor, in welchem Umfang diese Apps eingesetzt werden.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese digitalen Angebote auf breites Interesse
stoßen.
Ein weiteres Einsatzfeld digitaler Verfahren in Deutschland sind kostenlose Online-Angebote
für Personen in der Allgemeinbevölkerung, die durch die COVID-19-Pandemie eine psychische
Belastung wahrnehmen. Entsprechende Angebote beinhalten Trainings zum Umgang mit psychischen
Symptomen und belastenden Situationen, psychoedukative Inhalte und Hinweise auf Behandlungsangebote
(für eine Übersicht s. [6]). Hervorzuheben sind auch Angebote zur Stärkung der Informationskompetenz (Health Information Literacy), die psychischer Belastung durch Fehlinformationen bezüglich COVID-19 vorbeugen
sollen (z. B. [13]).
Auch international haben die Kontaktbeschränkungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie
zu einer verstärkten Nutzung digitaler Verfahren zur Behandlung von psychischen Störungen
und der Anpassung entsprechender Regularien geführt (z. B. [9]). Ein Bericht aus den USA schildert die Implementierung digitaler Verfahren in einem
psychiatrischen Lehrkrankenhaus [14]. Der Face-to-Face-Kontakt mit Patient/-innen sowie zwischen Behandler/-innen konnte
dort durch den Einsatz digitaler Kommunikation deutlich reduziert und auf Situationen
begrenzt werden, die direkten Kontakt zwingend erforderlich machen (z. B. bei körperlichen
Untersuchungen). Bemerkenswert sind auch der systematische Einsatz von Social-Media-Kanälen
zur Verbreitung von Hinweisen zum Umgang mit psychischem Stress durch Psychiater/-innen
und Psycholog/-innen in China [15] und die Entwicklung einer Selbstmanagement-App zur Unterstützung der psychischen
Gesundheit während der Pandemie für die Allgemeinbevölkerung in den USA [16].
Herausforderungen und differentielle Indikation beim Einsatz digitaler Behandlungsformen
Herausforderungen und differentielle Indikation beim Einsatz digitaler Behandlungsformen
Das Spektrum psychischer Störungsbilder, zu deren Behandlung digitale Verfahren eingesetzt
werden können, ist groß. Bezüglich der Wirksamkeit videobasierter Therapie liegt für
Depressionen und Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Essstörungen
und Suchterkrankungen Evidenz vor [17]. Ein entscheidender Vorteil des Einsatzes von Videotherapie in der COVID-19-Pandemie
ist, dass durch deren Nutzung insbesondere auch Menschen mit einem geschwächten Immunsystem
bzw. Vorerkrankungen eine Möglichkeit erhalten, weiterhin Therapie in Anspruch zu
nehmen bzw. durchzuführen können [18]. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, während einer Videotherapie – im Gegensatz
zu einer alternativen Face-to-Face-Therapie mit Mund-Nase-Bedeckung – weiterhin Mimik
zu beobachten und beurteilen zu können [19]. Zudem reduzieren sich logistische Anforderungen für Patient/-innen und Behandler/-innen
im Vergleich zu Face-to-Face-Behandlungen unter den notwendigen strengen Hygienebedingungen
[18].
Bezüglich möglicher Herausforderungen beim Einsatz von Videotherapie musste festgestellt
werden, dass einige spezifische Patient/-innengruppen durch Videotherapie nur beschränkt
erreichbar sind. Insbesondere die Erreichbarkeit von Kindern unter 6 Jahren, von Geflüchteten,
von älteren Menschen und von Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, scheint
erschwert [8]. Auch Therapieformen, die spezielle Instrumente und Materialien einsetzen (z. B.
EMDR), werden als schwierig in der digitalen Umsetzung wahrgenommen [20]. Die BPtK-Studie zur psychotherapeutischen Videobehandlung [8] konnte weitere erschwerende Rahmenbedingungen identifizieren. Besonders häufig wurden
eine instabile Internetverbindung und daraus resultierende Tonaussetzer und Sitzungsabbrüche
benannt, die den psychotherapeutischen Prozess behindern können. Internetprobleme,
die zu Latenzen in der Videoübertragung führen, sind besonders deshalb problematisch,
weil sie die Wechselseitigkeit und Kontingenz sozialer Interaktion stören, welche
wiederum für deren belohnende Wirkung zentral sind [21]. Weitere Einschränkungen bei Videotherapie ergaben sich aus der mangelnden Bereitschaft
zur Videotherapie seitens der Patient/-innen, durch eine technische Überforderung
der Patient/-innen und das Fehlen eines entsprechenden Endgerätes oder Rückzugraums
im Wohnraum der Patient/-innen [8]. Ähnliche Befunde finden sich auch in Studien aus anderen europäischen Ländern (z.
B. [20]). Fraglich ist zudem, wie Behandlungssettings, die die Interaktionen mehrerer Beteiligter
erfordern (z. B. Gruppenpsychotherapie, systemische Psychotherapie), digital umgesetzt
werden können. Während der Aufbau einer therapeutischen Beziehung im Einzelsetting
auch via Video gelingen kann [22], ist die Studienlage bezüglich der Wirksamkeit von videobasierten Gruppentherapien
noch heterogen [17]. Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass sich bei videobasierter Psychotherapie
eine schnellere Ermüdung als bei Face-to-Face-Kontakt bei Patient/-innen und Behandler/-innen
einstellen kann [20].
Bezüglich der differentiellen Indikation für videobasierte Therapie liegt die meiste
Evidenz bisher für kognitive Verhaltenstherapie vor [17]. Einige wenige positive Befunde liegen außerdem z. B. für Biofeedback, Hypnose,
EMDR und Problemlösetraining mittels Videokonferenz vor [17]. Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern scheinen Videotherapien wirksam zu
sein, jedoch besteht weiterer Forschungsbedarf bezüglich der Wirksamkeit bei älteren
Menschen sowie hinsichtlich kultureller Einflüsse [17].
Grundsätzlich ist auch denkbar, dass sich die Durchführung von Videotherapie bei Störungen,
die z. B. durch eine stark reduzierte Aufmerksamkeit und Konzentration oder herausfordernde
Interaktionsmuster gekennzeichnet sind, schwierig gestaltet. So ist es beispielsweise
unklar, inwieweit Menschen mit schweren psychischen Störungen, wie Bipolarer Störung
oder Psychosen, von digitalen Behandlungsformen profitieren [23]. Für die Implementierung digitaler Behandlung in dieser Patient/-innengruppe scheinen
u. a. eine geringe Komplexität und eine individuelle Anpassung der angebotenen Interventionen
zentral [24]. Eine weitere Einschränkung videobasierter Therapie besteht darin, dass einige Symptome
(z. B. psychomotorische Unruhe) in videobasierter Psychotherapie schwerer zu eruieren
sein könnten als im Face-to-Face-Kontakt. Dementsprechend ist durch die Behandelnden
für jeden Einzelfall eine Einschätzung notwendig, ob videobasierte Psychotherapie
und Diagnostik möglich sind. Es scheint zudem sinnvoll, dass Patient/-innen mit akuter
Selbst- oder Fremdgefährdung eine unmittelbare stationäre Behandlung auch unter Pandemiebedingungen
ermöglicht wird.
Bezüglich internetbasierter Interventionen im Rahmen von Blended-Care-Programmen zeigt
die Studienlage eine Wirksamkeit der Anwendungen bei Angststörungen, Depressionen,
Tinnitus, Körperunzufriedenheit und sexueller Dysfunktion [25]. Für Stand-Alone-Lösungen (Apps) kommt eine aktuelle Meta-Analyse zu dem Schluss,
dass auf Grundlage der aktuellen Evidenzlage der Einsatz von Apps ohne begleitende
psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung der Patient/-innen für keine psychische
Störung empfohlen werden kann [26]. Was bedeutet das für den Einsatz von Apps zur Behandlung psychischer Störungen
in der COVID-19-Pandemie? Bereits im Jahr 2018 nutzten 81 % der Deutschen ab 14 Jahren
ein Smartphone [27]. Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Face-to-Face-Kontakte unter Pandemiebedingungen
können deshalb gründlich evaluierte digitale Selbsthilfeprogramme ein hilfreicher
Baustein psychotherapeutisch-psychiatrischer Behandlung sein. Es scheint sinnvoll,
dass die Indikation für deren Einsatz durch qualifizierte Behandler/-innen gestellt
wird. Motivationale Schwierigkeiten bei Apps, die heterogene Studienlage und hohe
Dropout-Raten in bisherigen Studien in Bezug auf Apps [28] weisen zudem darauf hin, dass diese Anwendungen Behandler/-innenkontakt im besten
Fall ergänzen und in keinem Fall ersetzen können. Auch in der COVID-19-Pandemie erscheint
es deshalb wichtig, dass regelmäßige Behandler/-innenkontakte weiterhin stattfinden,
begleitend zum Einsatz von Apps. Bezüglich der zahlreichen Online-Angebote zur Reduzierung
psychischer Belastung durch die COVID-19-Pandemie in der Allgemeinbevölkerung werden
begleitende Evaluationsstudien zeitnah Hinweise auf effektive Interventionselemente
generieren.
Langfristige Perspektiven digitaler Behandlungsformen
Langfristige Perspektiven digitaler Behandlungsformen
Digitale Behandlungsformen werden in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung
in den nächsten Jahren, auch über die COVID-19-Pandemie hinaus, einen zunehmenden
Bedeutungsgewinn erfahren. Eine Grundvoraussetzung für den erfolgreichen Einsatz digitaler
Verfahren ist die geeignete Qualifizierung und Ausstattung der Behandler/-innen. Dementsprechend
sollte der Themenkomplex der digitalen Behandlung prominent in der Medizinerausbildung,
der Facharztweiterbildung und Fortbildung sowie der kürzlich reformierten Psychotherapeutenausbildung
platziert werden. In diesem Kontext könnten auch innovative digitale Verfahren in
Ausbildung und Supervision weiterentwickelt werden, die vielerorts pandemiebedingt
erstmals zum Einsatz gekommen sind.
Besonders wichtig ist bei der Implementierung digitaler Verfahren auch die Perspektive
der Patient/-innen. Insbesondere sozial benachteiligte Gruppen zeichnen sich häufig
durch ein reduziertes Nutzungsverhalten im Hinblick auf digitale Angebote aus [4], was auf unterdurchschnittliche digitale Kompetenzen, aber auch fehlende Ausstattung
oder fehlende Rückzugsmöglichkeiten (z. B. für Videositzungen) zurückzuführen sein
könnte. Programme, in denen qualifiziertes Personal den Umgang mit – und die Einrichtung
von – entsprechender Soft- und Hardware unterstützt [29], könnten einen Beitrag zur Reduzierung dieser Disparitäten leisten. Hierzu könnte
auch eine mehrsprachige Gestaltung digitaler Angebote beitragen. Da Menschen aller
Altersklassen zunehmend soziale Netzwerke nutzen, um sich zu psychischer Gesundheit
auszutauschen und Informationen einzuholen [30], könnten zudem entsprechende digitale Angebote ausgebaut werden, um niedrigschwellige
digitale Anlaufstellen für Betroffene zu schaffen und Stigmatisierung zu reduzieren
(s. auch [31]).
Die Digitalisierung psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung kann sich nicht
nur auf den Transfer analoger Angebote auf den Bildschirm beschränken, sondern wird
auch neue Behandlungsformen hervorbringen, die entsprechend abzubilden sind. Denkbar
wäre es, kürzere und häufigere Therapiesitzungen zu ermöglichen (aufgrund schnellerer
Ermüdung bei Videoeinsatz [19], [20]) oder die Begleitung von Patient/-innen bei der Nutzung digitaler Gesundheitsanwendungen
zu fördern. Auch für die Gruppenpsychotherapie sind innovative Formate denkbar, bei
denen regelmäßige Gruppensitzungen in Präsenz stattfinden und die Teilnehmer/-innen
sich in der Zwischenzeit, moderiert durch die Behandler/-innen, digital zu erreichten
Fortschritten austauschen. Auf struktureller Ebene ist die Vergütungsstruktur an die
neuen Anforderungen digitaler Behandlungen anzupassen.
Ein wichtiger Schritt im Hinblick auf eine verbesserte Kommunikation zwischen unterschiedlichen
Behandler/-innen ist darüber hinaus die Einführung der digitalen Patientenakte, die
ab Januar 2021 erfolgt. Mit Einverständnis des/der Patient/-in könnten zukünftig auf
diesem Wege auch ausführlichere psychometrische Befunde und Verläufe zwischen Behandler/-innen
kommuniziert werden, die insbesondere an der Schnittstelle zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung häufig verloren gehen und so die Initiierung einer adäquaten
Behandlung verzögern können. Entscheidend sind hierbei die Wahrung datenschutzrechtlicher
Interessen und der Selbstbestimmung der Patient/-innen über deren Gesundheitsinformationen.
Bezüglich des Einsatzes von Apps als digitale Gesundheitsanwendungen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen
Versorgung scheint es weiteren Forschungsbedarf zu geben. Grundsätzlich sind in allen
Bereichen digitaler Gesundheit mehr Studien unter realen Versorgungsbedingungen notwendig
[32]. Im Sinne des Empowerments der Betroffenen und zur Unterstützung von Behandlungsentscheidungen
wäre es zudem wünschenswert, die empirische Evidenzlage für angebotene digitale Gesundheitsanwendungen
transparent und zielgruppengerecht aufzubereiten. Ein solches Angebot ist für einige
deutschsprachige E-Mental-Health-Apps bereits verfügbar [33]. Vor dem Hintergrund eines möglichen Vertrauensverlustes in das psychiatrisch-psychotherapeutische
Versorgungssystem bei Hinweisen auf Datenunsicherheit (s. bspw. die kürzlich geschehene
Cyber-Erpressung eines finnischen Psychotherapieunternehmens mittels gestohlener Patientendaten
[34]) ist zudem die Gewährleistung einer sicheren Infrastruktur für sämtliche digitalen
Behandlungsverfahren erforderlich.
Auf Grundlage einer sicheren digitalen Infrastruktur sind perspektivisch zahlreiche
weitere Einsatzmöglichkeiten digitaler Verfahren in der psychiatrisch-psychotherapeutischen
Versorgung denkbar (z. B. stärkere Verwendung von Virtual Reality oder Wearable Devices, Ecological Momentary Assessments und Mobile Monitoring
[35] zur Krisenerkennung und Initiierung vorab besprochener Krisenpläne [36]). Aus Forschungsperspektive können digitale Verfahren zur Erfassung von Verhaltensdaten
auch neue Einblicke in die Nosologie psychischer Störungen ermöglichen (digital phenotyping
[37] oder interaction-based phenotyping
[38], basierend auf Videodaten).
Fazit
Die COVID-19-Pandemie hat zu einer stärkeren Nutzung digitaler Verfahren zur Behandlung
psychischer Störungen geführt. Gleichzeitig hat die Akzeptanz dieser Verfahren durch
Behandelnde und Patient/-innen im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Die positiven
Erfahrungen in der Verwendung digitaler Verfahren und die Studienlage deuten darauf
hin, dass die Face-to-Face-Behandlung von psychischen Störungen auch langfristig sinnvoll
digital ergänzt werden kann. Hierfür sind entsprechende Aus- und Weiterbildung sowie
passende regulatorische Rahmenbedingungen und kontinuierliche Qualitätssicherung besonders
wichtig. Außerdem bedarf es weiterer Forschung bezüglich zielgruppengerechter Anwendungen
und weiterer innovativer digitaler Behandlungsformaten.
Danksagung
Wir danken Prof. Dr. med. Jürgen Zielasek, wissenschaftlicher Koordinator am LVR-Institut
für Versorgungsforschung, für die kritische Durchsicht des Manuskripts und hilfreiche
Anmerkungen.