Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(06): 308-313
DOI: 10.1055/a-1486-7019
Übersicht

Digitale Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen in der COVID-19-Pandemie

Digital Options for Treating Mental Disorders during the COVID-19 Pandemic
Johannes Stricker
1   Universität Trier
,
Rabea Lukies
2   LVR-Institut für Versorgungsforschung
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen (z. B. Kontaktbeschränkungen) stellen die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung national und international vor neue Herausforderungen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über digitale Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen unter Pandemiebedingungen und zur Reduktion pandemiebedingter psychischer Belastung (z. B. aufgrund sozialer Isolation). Diskutiert werden außerdem aktuelle Herausforderungen und Grenzen beim Einsatz digitaler Behandlungsformen sowie Perspektiven für deren langfristigen Einsatz in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung.


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Abstract

The COVID-19 pandemic and its consequences, such as contact restrictions, pose new challenges to psychiatric-psychotherapeutic care in many parts of the world. This article provides an overview of digital methods for treating mental disorders under pandemic conditions and for reducing pandemic-related psychological distress (e.g., due to social isolation). Current challenges and limitations in the use of digital treatment options and their long-term perspectives in psychiatric-psychotherapeutic care are discussed.


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Einleitung

Seit März 2020 verursacht die COVID-19-Pandemie weltweit erhebliche Veränderungen der gewohnten Lebens- und Arbeitsweisen. Um eine schnelle Ausbreitung des COVID-19-Virus in Deutschland zu verhindern, einigten sich Bund und Länder am 22. März 2020 auf notwendige und umgreifende Kontaktbeschränkungen. Nach zwischenzeitlichen Lockerungen wurden diese Beschränkungen im November 2020 erneut verschärft. Weltweit kam es durch die COVID-19-Pandemie sowohl zu einem Anstieg psychischer Störungen ([1], s. zudem Meyer-Lindenberg et al. in diesem Heft) als auch zu Schwierigkeiten bei der Durchführung von Face-to-Face-Behandlung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung (z. B. aufgrund von Infektionsängsten). So berichteten 48 % der Befragten mit einer depressiven Erkrankung in einer Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, dass es während des „Lockdowns“ im Frühjahr 2020 zu Ausfällen bei ambulanten fachärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlungsterminen gekommen sei [2]. Zudem berichteten 9 % der befragten Personen mit einer depressiven Störung, dass aufgrund der COVID-19-Pandemie eine geplante stationäre Behandlung nicht habe stattfinden können [2].

Eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt, dass Depressions-, Angst- und PTBS-Symptome in der Allgemeinbevölkerung während der COVID-19-Pandemie erhöht sind, wobei die Intensität und Dauer dieser Symptome häufig die Kriterien einer psychischen Störung erfüllen [1]. Risikofaktoren für eine erhöhte psychische Belastung in der COVID-19-Pandemie sind u.a. ein geringeres Lebensalter (≤ 40 Jahre), Arbeitslosigkeit, weibliches Geschlecht und chronische Erkrankungen [1]. Auch bei zahlreichen Personen mit vorbestehenden psychischen Störungen scheinen in der COVID-19-Pandemie soziale Isolation, Ängste und wirtschaftliche Unsicherheit zu einer Exazerbation der psychischen Symptomatik beigetragen zu haben [3]. Der erhöhte Bedarf und die Schwierigkeiten bei der Durchführung von Face-to-Face-Behandlungen haben in der COVID-19-Pandemie weltweit zu einer deutlich verstärkten Nutzung digitaler Verfahren in der Behandlung psychischer Störungen geführt (z. B. [4]). In Deutschland wird der Einsatz therapeutischer digitaler Verfahren sowohl durch die Kostenträger mit Änderungen der regulatorischen Rahmenbedingungen [5] als auch durch die relevanten Fachverbände mit Behandlungsempfehlungen [6] unterstützt.

Der vorliegende Artikel beinhaltet eine Übersicht über den Einsatz digitaler Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen und pandemiebedingter psychischer Belastung. Diskutiert werden außerdem Fragen der differentiellen Indikation bezüglich digitaler Behandlungsformen sowie Herausforderungen bei deren Einsatz. Abschließend erfolgt ein Ausblick auf die langfristige Perspektive digitaler Verfahren in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung. Das Literaturscreening für diesen Artikel war explorativ und erfolgte im November und Dezember 2020 in den Datenbanken PubMed (MEDLINE), PsycInfo und Scopus.


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Digitale Behandlungsformen während der COVID-19-Pandemie: Ein Überblick

Die Einsatzmöglichkeiten von digitalen Behandlungsformen in der psychotherapeutisch-psychiatrischen Versorgung sind vielfältig und werden häufig unter dem Begriff E-Mental-Health zusammengefasst. Digitale Verfahren können über den gesamten Behandlungsverlauf von der Prävention über Diagnostik sowie Intervention und Rückfallprophylaxe eingesetzt werden [7]. Technisch sind verschiedene Lösungen möglich, z. B. der Einsatz von E-Mails, Instant Messages, Video, Smartphone Apps, Virtual Reality oder psychoedukativen Computerspielen [7]. Bezüglich der eingesetzten Verfahren kann differenziert werden zwischen solchen, die Face-to-Face-Behandlungen mit virtuellen Mitteln kombinieren (Blended Therapy), Verfahren, in denen der Behandler/-innenkontakt ausschließlich über digitale Medien (z. B. Textnachrichten oder Video) stattfindet, und Verfahren, die unabhängig von Behandler/-innen eingesetzt werden (z. B. Apps; Standalone Approach) [7].

In Deutschland ist davon auszugehen, dass das in der COVID-19-Pandemie am stärksten verwendete digitale Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen Videositzungen mit Hilfe zertifizierter Videodienstanbieter sind. Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem GKV-Spitzenverband beschlossenen Sonderregelungen haben die Durchführung von Psychotherapie, psychotherapeutischen Sprechstunden und probatorischen Sitzungen als Videobehandlung ermöglicht. Zudem ist die Beschränkung der Videositzungen auf maximal 20% der Patient/-innen vorübergehend ausgesetzt [5].

In einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK; = 3434 Psychotherapeut/-innen) im Zeitraum von Juni bis August 2020 berichteten 87,9 % der befragten Psychotherapeut/-innen, Videobehandlungen durchgeführt zu haben. Gleichzeitig gaben 91,4 % derjenigen, die eine Videobehandlung genutzt haben, an, diese während der COVD-19-Pandemie erstmals eingesetzt zu haben [8]. Dieses Muster wird von einer weiteren Studie gestützt, in der N = 130 deutsche Psychotherapeut/-innen berichteten, von Mitte bis Ende Mai 2020 im Vergleich zum Zeitraum vor der COVID-19-Pandemie wöchentlich durchschnittlich 18 % weniger Patient/-innen in Face-to-Face-Sitzungen, hingegen 6558% mehr Patient/-innen (in absoluten Zahlen: 5,26 Patient/-innen wöchentlich, verglichen mit zuvor 0,08 Patient/-innen wöchentlich) mit diversen psychischen Störungen über das Internet behandelt zu haben [9]. Unterstützt wird der Einsatz von Videotherapie z. B. durch entsprechende fachliche Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie [10] und der American Psychological Association [11].

In Deutschland gab es neben den geänderten Rahmenbedingungen für videobasierte Behandlungsformen (s.o.) eine weitere wichtige Entwicklung im Hinblick auf den Einsatz digitaler Verfahren in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung. Seit Oktober 2020 können niedergelassene Ärzt/-innen und psychologische Psychotherapeut/-innen digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) verordnen. Bisher sind u.a. Apps in den Bereichen Angststörungen und nichtorganische Insomnie verordnungsfähig [12]. Noch liegen keine Zahlen darüber vor, in welchem Umfang diese Apps eingesetzt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese digitalen Angebote auf breites Interesse stoßen.

Ein weiteres Einsatzfeld digitaler Verfahren in Deutschland sind kostenlose Online-Angebote für Personen in der Allgemeinbevölkerung, die durch die COVID-19-Pandemie eine psychische Belastung wahrnehmen. Entsprechende Angebote beinhalten Trainings zum Umgang mit psychischen Symptomen und belastenden Situationen, psychoedukative Inhalte und Hinweise auf Behandlungsangebote (für eine Übersicht s. [6]). Hervorzuheben sind auch Angebote zur Stärkung der Informationskompetenz (Health Information Literacy), die psychischer Belastung durch Fehlinformationen bezüglich COVID-19 vorbeugen sollen (z. B. [13]).

Auch international haben die Kontaktbeschränkungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie zu einer verstärkten Nutzung digitaler Verfahren zur Behandlung von psychischen Störungen und der Anpassung entsprechender Regularien geführt (z. B. [9]). Ein Bericht aus den USA schildert die Implementierung digitaler Verfahren in einem psychiatrischen Lehrkrankenhaus [14]. Der Face-to-Face-Kontakt mit Patient/-innen sowie zwischen Behandler/-innen konnte dort durch den Einsatz digitaler Kommunikation deutlich reduziert und auf Situationen begrenzt werden, die direkten Kontakt zwingend erforderlich machen (z. B. bei körperlichen Untersuchungen). Bemerkenswert sind auch der systematische Einsatz von Social-Media-Kanälen zur Verbreitung von Hinweisen zum Umgang mit psychischem Stress durch Psychiater/-innen und Psycholog/-innen in China [15] und die Entwicklung einer Selbstmanagement-App zur Unterstützung der psychischen Gesundheit während der Pandemie für die Allgemeinbevölkerung in den USA [16].


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Herausforderungen und differentielle Indikation beim Einsatz digitaler Behandlungsformen

Das Spektrum psychischer Störungsbilder, zu deren Behandlung digitale Verfahren eingesetzt werden können, ist groß. Bezüglich der Wirksamkeit videobasierter Therapie liegt für Depressionen und Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Essstörungen und Suchterkrankungen Evidenz vor [17]. Ein entscheidender Vorteil des Einsatzes von Videotherapie in der COVID-19-Pandemie ist, dass durch deren Nutzung insbesondere auch Menschen mit einem geschwächten Immunsystem bzw. Vorerkrankungen eine Möglichkeit erhalten, weiterhin Therapie in Anspruch zu nehmen bzw. durchzuführen können [18]. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, während einer Videotherapie – im Gegensatz zu einer alternativen Face-to-Face-Therapie mit Mund-Nase-Bedeckung – weiterhin Mimik zu beobachten und beurteilen zu können [19]. Zudem reduzieren sich logistische Anforderungen für Patient/-innen und Behandler/-innen im Vergleich zu Face-to-Face-Behandlungen unter den notwendigen strengen Hygienebedingungen [18].

Bezüglich möglicher Herausforderungen beim Einsatz von Videotherapie musste festgestellt werden, dass einige spezifische Patient/-innengruppen durch Videotherapie nur beschränkt erreichbar sind. Insbesondere die Erreichbarkeit von Kindern unter 6 Jahren, von Geflüchteten, von älteren Menschen und von Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, scheint erschwert [8]. Auch Therapieformen, die spezielle Instrumente und Materialien einsetzen (z. B. EMDR), werden als schwierig in der digitalen Umsetzung wahrgenommen [20]. Die BPtK-Studie zur psychotherapeutischen Videobehandlung [8] konnte weitere erschwerende Rahmenbedingungen identifizieren. Besonders häufig wurden eine instabile Internetverbindung und daraus resultierende Tonaussetzer und Sitzungsabbrüche benannt, die den psychotherapeutischen Prozess behindern können. Internetprobleme, die zu Latenzen in der Videoübertragung führen, sind besonders deshalb problematisch, weil sie die Wechselseitigkeit und Kontingenz sozialer Interaktion stören, welche wiederum für deren belohnende Wirkung zentral sind [21]. Weitere Einschränkungen bei Videotherapie ergaben sich aus der mangelnden Bereitschaft zur Videotherapie seitens der Patient/-innen, durch eine technische Überforderung der Patient/-innen und das Fehlen eines entsprechenden Endgerätes oder Rückzugraums im Wohnraum der Patient/-innen [8]. Ähnliche Befunde finden sich auch in Studien aus anderen europäischen Ländern (z. B. [20]). Fraglich ist zudem, wie Behandlungssettings, die die Interaktionen mehrerer Beteiligter erfordern (z. B. Gruppenpsychotherapie, systemische Psychotherapie), digital umgesetzt werden können. Während der Aufbau einer therapeutischen Beziehung im Einzelsetting auch via Video gelingen kann [22], ist die Studienlage bezüglich der Wirksamkeit von videobasierten Gruppentherapien noch heterogen [17]. Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass sich bei videobasierter Psychotherapie eine schnellere Ermüdung als bei Face-to-Face-Kontakt bei Patient/-innen und Behandler/-innen einstellen kann [20].

Bezüglich der differentiellen Indikation für videobasierte Therapie liegt die meiste Evidenz bisher für kognitive Verhaltenstherapie vor [17]. Einige wenige positive Befunde liegen außerdem z. B. für Biofeedback, Hypnose, EMDR und Problemlösetraining mittels Videokonferenz vor [17]. Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern scheinen Videotherapien wirksam zu sein, jedoch besteht weiterer Forschungsbedarf bezüglich der Wirksamkeit bei älteren Menschen sowie hinsichtlich kultureller Einflüsse [17].

Grundsätzlich ist auch denkbar, dass sich die Durchführung von Videotherapie bei Störungen, die z. B. durch eine stark reduzierte Aufmerksamkeit und Konzentration oder herausfordernde Interaktionsmuster gekennzeichnet sind, schwierig gestaltet. So ist es beispielsweise unklar, inwieweit Menschen mit schweren psychischen Störungen, wie Bipolarer Störung oder Psychosen, von digitalen Behandlungsformen profitieren [23]. Für die Implementierung digitaler Behandlung in dieser Patient/-innengruppe scheinen u. a. eine geringe Komplexität und eine individuelle Anpassung der angebotenen Interventionen zentral [24]. Eine weitere Einschränkung videobasierter Therapie besteht darin, dass einige Symptome (z. B. psychomotorische Unruhe) in videobasierter Psychotherapie schwerer zu eruieren sein könnten als im Face-to-Face-Kontakt. Dementsprechend ist durch die Behandelnden für jeden Einzelfall eine Einschätzung notwendig, ob videobasierte Psychotherapie und Diagnostik möglich sind. Es scheint zudem sinnvoll, dass Patient/-innen mit akuter Selbst- oder Fremdgefährdung eine unmittelbare stationäre Behandlung auch unter Pandemiebedingungen ermöglicht wird.

Bezüglich internetbasierter Interventionen im Rahmen von Blended-Care-Programmen zeigt die Studienlage eine Wirksamkeit der Anwendungen bei Angststörungen, Depressionen, Tinnitus, Körperunzufriedenheit und sexueller Dysfunktion [25]. Für Stand-Alone-Lösungen (Apps) kommt eine aktuelle Meta-Analyse zu dem Schluss, dass auf Grundlage der aktuellen Evidenzlage der Einsatz von Apps ohne begleitende psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung der Patient/-innen für keine psychische Störung empfohlen werden kann [26]. Was bedeutet das für den Einsatz von Apps zur Behandlung psychischer Störungen in der COVID-19-Pandemie? Bereits im Jahr 2018 nutzten 81 % der Deutschen ab 14 Jahren ein Smartphone [27]. Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Face-to-Face-Kontakte unter Pandemiebedingungen können deshalb gründlich evaluierte digitale Selbsthilfeprogramme ein hilfreicher Baustein psychotherapeutisch-psychiatrischer Behandlung sein. Es scheint sinnvoll, dass die Indikation für deren Einsatz durch qualifizierte Behandler/-innen gestellt wird. Motivationale Schwierigkeiten bei Apps, die heterogene Studienlage und hohe Dropout-Raten in bisherigen Studien in Bezug auf Apps [28] weisen zudem darauf hin, dass diese Anwendungen Behandler/-innenkontakt im besten Fall ergänzen und in keinem Fall ersetzen können. Auch in der COVID-19-Pandemie erscheint es deshalb wichtig, dass regelmäßige Behandler/-innenkontakte weiterhin stattfinden, begleitend zum Einsatz von Apps. Bezüglich der zahlreichen Online-Angebote zur Reduzierung psychischer Belastung durch die COVID-19-Pandemie in der Allgemeinbevölkerung werden begleitende Evaluationsstudien zeitnah Hinweise auf effektive Interventionselemente generieren.


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Langfristige Perspektiven digitaler Behandlungsformen

Digitale Behandlungsformen werden in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in den nächsten Jahren, auch über die COVID-19-Pandemie hinaus, einen zunehmenden Bedeutungsgewinn erfahren. Eine Grundvoraussetzung für den erfolgreichen Einsatz digitaler Verfahren ist die geeignete Qualifizierung und Ausstattung der Behandler/-innen. Dementsprechend sollte der Themenkomplex der digitalen Behandlung prominent in der Medizinerausbildung, der Facharztweiterbildung und Fortbildung sowie der kürzlich reformierten Psychotherapeutenausbildung platziert werden. In diesem Kontext könnten auch innovative digitale Verfahren in Ausbildung und Supervision weiterentwickelt werden, die vielerorts pandemiebedingt erstmals zum Einsatz gekommen sind.

Besonders wichtig ist bei der Implementierung digitaler Verfahren auch die Perspektive der Patient/-innen. Insbesondere sozial benachteiligte Gruppen zeichnen sich häufig durch ein reduziertes Nutzungsverhalten im Hinblick auf digitale Angebote aus [4], was auf unterdurchschnittliche digitale Kompetenzen, aber auch fehlende Ausstattung oder fehlende Rückzugsmöglichkeiten (z. B. für Videositzungen) zurückzuführen sein könnte. Programme, in denen qualifiziertes Personal den Umgang mit – und die Einrichtung von – entsprechender Soft- und Hardware unterstützt [29], könnten einen Beitrag zur Reduzierung dieser Disparitäten leisten. Hierzu könnte auch eine mehrsprachige Gestaltung digitaler Angebote beitragen. Da Menschen aller Altersklassen zunehmend soziale Netzwerke nutzen, um sich zu psychischer Gesundheit auszutauschen und Informationen einzuholen [30], könnten zudem entsprechende digitale Angebote ausgebaut werden, um niedrigschwellige digitale Anlaufstellen für Betroffene zu schaffen und Stigmatisierung zu reduzieren (s. auch [31]).

Die Digitalisierung psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung kann sich nicht nur auf den Transfer analoger Angebote auf den Bildschirm beschränken, sondern wird auch neue Behandlungsformen hervorbringen, die entsprechend abzubilden sind. Denkbar wäre es, kürzere und häufigere Therapiesitzungen zu ermöglichen (aufgrund schnellerer Ermüdung bei Videoeinsatz [19], [20]) oder die Begleitung von Patient/-innen bei der Nutzung digitaler Gesundheitsanwendungen zu fördern. Auch für die Gruppenpsychotherapie sind innovative Formate denkbar, bei denen regelmäßige Gruppensitzungen in Präsenz stattfinden und die Teilnehmer/-innen sich in der Zwischenzeit, moderiert durch die Behandler/-innen, digital zu erreichten Fortschritten austauschen. Auf struktureller Ebene ist die Vergütungsstruktur an die neuen Anforderungen digitaler Behandlungen anzupassen.

Ein wichtiger Schritt im Hinblick auf eine verbesserte Kommunikation zwischen unterschiedlichen Behandler/-innen ist darüber hinaus die Einführung der digitalen Patientenakte, die ab Januar 2021 erfolgt. Mit Einverständnis des/der Patient/-in könnten zukünftig auf diesem Wege auch ausführlichere psychometrische Befunde und Verläufe zwischen Behandler/-innen kommuniziert werden, die insbesondere an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung häufig verloren gehen und so die Initiierung einer adäquaten Behandlung verzögern können. Entscheidend sind hierbei die Wahrung datenschutzrechtlicher Interessen und der Selbstbestimmung der Patient/-innen über deren Gesundheitsinformationen.

Bezüglich des Einsatzes von Apps als digitale Gesundheitsanwendungen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung scheint es weiteren Forschungsbedarf zu geben. Grundsätzlich sind in allen Bereichen digitaler Gesundheit mehr Studien unter realen Versorgungsbedingungen notwendig [32]. Im Sinne des Empowerments der Betroffenen und zur Unterstützung von Behandlungsentscheidungen wäre es zudem wünschenswert, die empirische Evidenzlage für angebotene digitale Gesundheitsanwendungen transparent und zielgruppengerecht aufzubereiten. Ein solches Angebot ist für einige deutschsprachige E-Mental-Health-Apps bereits verfügbar [33]. Vor dem Hintergrund eines möglichen Vertrauensverlustes in das psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem bei Hinweisen auf Datenunsicherheit (s. bspw. die kürzlich geschehene Cyber-Erpressung eines finnischen Psychotherapieunternehmens mittels gestohlener Patientendaten [34]) ist zudem die Gewährleistung einer sicheren Infrastruktur für sämtliche digitalen Behandlungsverfahren erforderlich.

Auf Grundlage einer sicheren digitalen Infrastruktur sind perspektivisch zahlreiche weitere Einsatzmöglichkeiten digitaler Verfahren in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung denkbar (z. B. stärkere Verwendung von Virtual Reality oder Wearable Devices, Ecological Momentary Assessments und Mobile Monitoring [35] zur Krisenerkennung und Initiierung vorab besprochener Krisenpläne [36]). Aus Forschungsperspektive können digitale Verfahren zur Erfassung von Verhaltensdaten auch neue Einblicke in die Nosologie psychischer Störungen ermöglichen (digital phenotyping [37] oder interaction-based phenotyping [38], basierend auf Videodaten).


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Fazit

Die COVID-19-Pandemie hat zu einer stärkeren Nutzung digitaler Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen geführt. Gleichzeitig hat die Akzeptanz dieser Verfahren durch Behandelnde und Patient/-innen im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Die positiven Erfahrungen in der Verwendung digitaler Verfahren und die Studienlage deuten darauf hin, dass die Face-to-Face-Behandlung von psychischen Störungen auch langfristig sinnvoll digital ergänzt werden kann. Hierfür sind entsprechende Aus- und Weiterbildung sowie passende regulatorische Rahmenbedingungen und kontinuierliche Qualitätssicherung besonders wichtig. Außerdem bedarf es weiterer Forschung bezüglich zielgruppengerechter Anwendungen und weiterer innovativer digitaler Behandlungsformaten.


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Danksagung

Wir danken Prof. Dr. med. Jürgen Zielasek, wissenschaftlicher Koordinator am LVR-Institut für Versorgungsforschung, für die kritische Durchsicht des Manuskripts und hilfreiche Anmerkungen.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Johannes Stricker
Universität Trier
Universitätsring 15
54296 Trier
Germany   
Phone: +06512012926   
Fax: +06512013848   

Publication History

Received: 26 December 2020

Accepted: 14 April 2021

Article published online:
05 May 2021

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