Autonome, leitliniengerechte Diagnostik in Zeiten von COVID-19
Das wissenschaftliche Verständnis auf dem Gebiet des autonomen Nervensystems (ANS)
und seinen Erkrankungen hat in den vergangenen 30 Jahren enorm von der multidisziplinären
Zusammenarbeit, einer einheitlichen Nomenklatur, universellen diagnostischen Kriterien
und der Entwicklung validierter, nicht invasiver Testmethoden profitiert. Eine Vielzahl
autonomer Funktionsuntersuchungen sind gut validiert, reproduzierbar, sensitiv und
erfassen wichtige Komponenten des ANS, wie die Sudomotorik, kardiovagale und sympathische
Innervation oder die adrenerge Blutdruckregulation. Neben den seit vielen Jahren verwandten
klassischen Untersuchungsmethoden in den meisten autonomen Laboren mit der Kipptischuntersuchung,
der Messung der Herzfrequenzvariabilität und der Darstellung der Schweißsekretionsstörungen
sind in den vergangenen Jahren verschiedene Leitlinien entstanden, die sich dezidiert
mit der Diagnostik und Therapie autonomer Störungen auseinandersetzen. Beispielhaft
seien hier insbesondere die DGN-Leitlinie zur Diagnostik der Synkopen oder der erektilen
Dysfunktion genannt. Leitlinien in hoher Zahl definieren standardisierte Vorgehensweisen
zu Diagnostik und Therapie autonomer Störungen.
Die Auswahl geeigneter Untersuchungsmethoden zur Diagnostik einer autonomen Störung
ist eine der kritischsten Fragen im diagnostischen Prozess. Meist ist mehr als eine
Methode notwendig, und diese Auswahl sollte nach einer ausführlichen, detaillierten
autonomen Anamnese gelingen. Die meisten autonomen Labore bieten zumindest eine kardiovaskuläre
und eine sudomotorische Untersuchung an. Die überwiegende Zahl der Leitlinien sind
S1-Leitlinien mit Handlungsempfehlungen von Expertengruppen nach einer Konsensfindung
in einem informellen Verfahren. Leitlinienanwender nehmen diese hinsichtlich ihrer
Verbindlichkeit jedoch sehr unterschiedlich wahr. Die Leitlinienautoren sind meist
in den nationalen oder internationalen Fachgesellschaften oder Subspezialitäten zu
finden. Die Evaluierung der Effekte von Leitlinien auf patientenrelevante Endpunkte
steht noch aus und kann nur gelingen, wenn Strukturen wie autonome Funktionslabore
vorhanden sind oder geschaffen werden, die die Implementierung durchsetzbar und vergleichbar
machen. Erst bei Anwendung einer Leitlinie in der Klinik und Praxis entscheidet sich
deren Nutzen. Die Auswahl der hier dargestellten Leitlinien ist willkürlich und bezieht
sich insbesondere auf einen hohen Nutzen in der täglichen Anwendung im autonomen Labor.
Eine hohe methodische und fachliche Qualität sowie gute Anwendbarkeit und hohe Verbreitung
der Leitlinien ist eine wichtige Voraussetzung für deren Implementierung, reicht jedoch
in der Regel nicht aus, eine Verhaltensänderung herbeizuführen.
Angesichts der COVID-19-Pandemie haben sich etablierte Strategien und Untersuchungsmethoden
jedoch verändert. Diagnostische Schritte sind im Rahmen der Coronaviruspandemie (SARS-CoV-2)
zunehmend verändert worden und waren zum Teil deutlich eingeschränkt. Die allgemeinen
Vorsichtsmaßnahmen lassen sich bei patientennahen Tätigkeiten wie in Klinik und Praxis
nicht immer einhalten. Ausführliche autonome Diagnostik benötigt ausreichend Zeit,
sodass ein regelmäßiges Lüften des Untersuchungsraumes dringend geboten ist.
Mindestens 7 Tage vor der autonomen Diagnostik sollte ein Nasopharyngealabstrich mittels
PCR auf SARS-CoV-2 untersucht werden. Im eigenen Labor wird bei Untersuchungen über
3 h Dauer oder einer ambulanten Vorstellung bei 3 oder mehr Kontakten zusätzlich ein
SARS-CoV-2-Antigenschnelltest durchgeführt. Die Mitarbeiter sind durch persönliche
Schutzkleidung, FFP2-Maske und Einmalhandschuhe zu schützen. Bei Prüfung der vertieften
Respiration als auch beim Valsava-Manöver kommt es durch die Untersuchung und das
Abnehmen der Maske des Patienten zu einer vermehrten Aerosolfreisetzung. Daher ist
hierbei auf einen ausreichenden Abstand des Untersuchers zu achten und nach Möglichkeit
eine hoch klassifizierte Schutzmaske (FFP2 oder FFP3) zu tragen. Das Valsalva-Manöver
kann mit einem Einweg-Virenfilter am Mundstück durchgeführt werden. Zusätzlich besteht
die Möglichkeit, die Anzahl der Wiederholungen bei der vertieften Respiration auf
5–6 Zyklen – statt der üblichen 10 Zyklen – zu reduzieren. Die quantitative Schweißmessung
ist weitestgehend unverändert möglich. Im Rahmen einer Kipptischuntersuchung kann
es allerdings gelegentlich zu Übelkeit und möglicherweise auch Erbrechen kommen, hierbei
kann die Maske während der Untersuchung hinderlich sein. Alle Oberflächen, mit denen
der Patient in Kontakt gekommen sein mag, werden zu Untersuchungsende desinfiziert.
Im Rahmen von COVID-19-Erkrankungen sind zahlreiche neurologische Störungen beschrieben.
Diese reichen von Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn bis hin zu Enzephalitiden
und Schlaganfällen. Inwieweit es sich immer um kausale Zusammenhänge oder um zeitliche
Zufälle handelt ist bei einigen der zahlreichen publizierten Fälle kritisch zu hinterfragen.
Aus der der Vergangenheit sind zahlreiche Viruserkrankungen bekannt, die zum Teil
schwere neurologische Schäden als direkte Neurotoxizität beinhalten. Hierbei ist an
die Poliomyelitis, die Herpes-Encephalitis oder Erkrankungen durch das Zika-Virus
zu denken. Diesbezüglich schein SARS-CoV-2 weniger problematisch zu sein. Allerdings
sind hinsichtlich des autonomen Nervensystems scheinbar eine Häufung von Guillain-Barre-Syndromen
zu beachten. Hierzu sind zahlreiche Publikationen zu finden, die Fallserien oder kurze
Reviews beinhalten. Gehäuft beschrieben wird auch das Auftreten eines posturalen Tachykardie-Syndroms
nach einer COVID-19-Erkrankung.
Sicherlich beschäftigen werden uns in Zukunft „Long-COVID“-Verläufe, die seit dem
Sommer 2020 zunehmend publiziert werden. Es werden Symptome ähnlich einem Chronic-fatique-Syndrom,
welches auch nach anderen Viruserkrankungen (z. B. EBV) beschrieben ist, genannt.
Frauen zwischen 25 und 50 Jahren ohne wesentliche Vorerkrankungen scheinen die am
stärksten betroffene Gruppe zu sein. Symptome, die neben den genannten geschildert
werden, sind eine orthostatische Intoleranz, Kopf- und Brustschmerzen, subjektive
Atemnot und Ängstlichkeit. Bei der bei COVID oft langen Intensivpflichtigkeit mit
prolongierter Beatmungstherapie ist das gehäufte Auftreten einer Critical illness
polyneuropathy differenzialdiagnostisch abzugrenzen.
Auszug aus: Carl-Albrecht Haensch (Hrsg.) Das autonome Nervensystem. Grundlagen, Organsysteme
und Krankheitsbilder. 2., vollständig aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer,
2022, in Vorbereitung. Das in 2022 aktualisiert vorliegende Werk gibt gegenwärtig
die umfassendste deutschsprachige Darstellung der Diagnostik und Therapie der Erkrankungen
des Vegetativums. Ebenso bietet es eine detaillierte Einführung in die Grundlagen
der vegetativen Anatomie und Physiologie. Der Band versammelt Beiträge eines Autorenkollektivs
führender Experten.
Christina Haubrich, Düsseldorf