Liebe, Zärtlichkeit und Sexualität bei psychisch Kranken
Liebe, Zärtlichkeit und Sexualität sind wichtige Bedürfnisse des Menschen und des
menschlichen Lebens. Sie sind mit vielen wichtigen Emotionen assoziiert, weisen vielfältige
neurobiologische und biologische Aspekte auf und stehen in wechselvollem und zum Teil
auch spannungsvollem Verhältnis zu Kognition und Vernunft. Sie sind in der Regel auf
Mitmenschen gerichtet und sind daher wichtige Werkzeuge und Ausdrucksformen in unserem
interaktionellen Verhalten als „soziale Tiere“. Dabei dienen sie uns auch unserer
eigenen inneren Homöostase, und allzu oft sind unsere eigenen Impulse in diese Richtung
die Voraussetzung der Ausbildung reifer und liebevoller Beziehungen zu anderen Menschen
(Erich Fromm „Die Kunst des Liebens“).
Erstaunlich ist es, dass zu diesem ganzen Themenkomplex zwar allgemein sehr viel geschrieben
und geforscht worden ist, zu der spezifischen Situation psychisch Kranker aber, insbesondere
auch zu einzelnen Krankheitsbildern wie der Depression, der Schizophrenie usw. gibt
es recht wenig Literatur und wenige Forschungsergebnisse von konkreten wissenschaftlichen
Studien. Es erscheint ohnehin so zu sein, dass wir über den Alltag der von uns behandelten
und betreuten psychisch Menschen sehr wenig wissen. Wie führen sie einen Haushalt,
wie erleben sie Arbeit, sei es körperliche oder geistige, was erleben sie in Freundschaften/in
der Partnerschaft oder in Sportvereinen, wie gestalten sie ihr Freizeitleben, können
sie Kultur genießen? Und wie ist eben ihr Bedürfnis nach Nähe, nach Zärtlichkeit bis
hin zu Sexualität, haben sie hier eher Schwierigkeiten, wenige oder keine Bedürfnisse
oder gar sehr starke Bedürfnisse, können sie ihre Wünsche artikulieren, wie ist die
Liebe mit sich selbst, mit anderen, mit dem gleichen Geschlecht etc.?
Dieses Schwerpunktheft motiviert sich vor diesem skizzierten Hintergrund. Die Beiträge
möchten v. a. konzeptionell die verschiedenen Aspekte des Themas darstellen, vertiefen
und diskutieren. Sie sind eingebettet in allgemeine Gedanken zur Liebe, Zärtlichkeit
und Sexualität, zu philosophischen, psychologischen, soziologischen und psychiatrischen
Hintergründen. Sie wollen deutlich machen, dass diese menschliche Erlebensdimension
im Umgang mit psychisch Kranken, sei es in Kliniken oder Praxen nicht ausgeklammert
werden sollte, auch wenn es schwierig und tabuisiert ist. Es sollte stärker nachgefragt
und beraten werden. Denn in dieser wichtigen Erlebens- und Verhaltensdimension manifestiert
sich viel von der jeweiligen psychiatrischen Erkrankung. Gelingt es das Thema Liebe,
Zärtlichkeit und Sexualität in das psychiatrisch-psychotherapeutische Gespräch stärker
einbinden, dann dürfte sich auch das psychopathologische Gesamtbild der Patienten
verbessern lassen.
Die vorliegenden Beiträge entstammen nicht einem Symposium oder ähnlichem. Sondern
die hier Unterzeichnenden haben neben den eigenen Beiträgen ausgewiese Fachleute und
Kollegen angesprochen, aus ihrem jeweiligen Hintergrund und Perspektive zu diesem
Thema ihre wichtigsten Gedanken und Gesichtspunkte zu verfassen.
So berichten Georg Juckel und Paraskevi Mavrogiorgou über die Sehnsucht nach Beziehung
und Geborgenheit und die subjektiven Bedürfnisse psychiatrischer Patienten nach Liebe
und Zärtlichkeit. Dabei wird insbesondere das Dialogprinzip erläutert, was die grundsätzliche
Ausrichtung des Menschen auf die Umwelt und seine Mitmenschen meint und das möglicherweise
im Rahmen von psychischen Störungen beeinträchtigt ist.
Eine grundlegende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Liebe findet sich
im Aufsatz von Wolfgang Eirund. Die Frage der Möglichkeit einer wissenschaftlichen
Annäherung an dieses Phänomen wird diskutiert, dabei wird die Idee eines Verständnisses
der Liebe als „seelischer Protest“ dargestellt und in einem breiten, auch philosophischen,
Kontext erläutert.
Liebeskummer als eigentlich alltägliches und normales und vor allem weit verbreitetes
Syndrom ist das Thema der Arbeit von Henrik Walter. Es werden mögliche psychologische
und neurobiologische Aspekte diskutiert und die Bedeutung in einen breiten psychiatrischen
Kontext gesetzt. Auch eine mögliche Modellfunktion für stressbezogene Erkrankungen
wird diskutiert.
Anschließen berichten Knut Hoffmann und Georg Juckel über gegenwärtige Aspekte des
Liebeswahns, welcher ja historisch unterschiedlich interpretiert und eingeordnet wurde
und der heute am ehesten symptomatisch verstanden wird.
Andreas Ebert stellt dann das wichtige und im klinischen Alltag Thema von Sexualität
und Intimität im Zusammenhang mit depressiven Erkrankungen dar, was wahrscheinlich
oft therapeutisch nicht ausreichend Beachtung findet, obwohl es zu vielfältigen Leiden
seitens der Patienten führen kann. Explizit wird auch auf therapeutisch verursachte
Aspekte im Rahmen der Medikation eingegangen werden. Die Bedeutung neuer Medien und
verfügbarer Online-Formate für viele Aspekte psychischer Störungen ist evident.
Der Zusammenhang von pathologischen Bindungsphänomenen für die Entwicklung von internetbezogenen
Störungen verschiedener Ausprägung, u. a. auch bezogen auf Online-Sexsucht werden
im Rahmen eines systematischen review von Jan Dieris-Hirche und Kollegen ausführlich
dargestellt werden.
Sexualität und Alter sind seit jeher eher tabuisierte Aspekte des Lebens und werden
gesellschaftlich weitgehend ignoriert. Die Bedeutung von Sexualität für das körperliche
und seelische Wohlbefinden, aber auch die Probleme mit Stigmatisierung von Sexualität
von älteren Menschen, ebenso wie der Einfluss von physiologischen, aber auch krankheitsbedingten
Prozessen auf die Sexualität im Alter wird in der Arbeit von Friedericke Schröck et
al. dargestellt werden.
Jannis Engel und Tillmann Krüger berichten abschließend über die neue Kategorie des
zwanghaften Sexualverhaltens, welche mit dem ICD-11 Einzug in den allgemeinen diagnostischen
Kanon finden wird. Neben den historischen Bezügen werden hier die relevanten diagnostischen
und therapeutischen Implikationen ausführlich dargestellt.
Wir hoffen mit diesem Schwerpunktheft kurz vor Weihnachten 2021, dem Fest der Liebe,
den Lesern einige Aspekte dieses großen, bei psychiatrischen Patienten bislang eher
vernachlässigten Themas nahe zu bringen und wünschen eine gute und anregende Lektüre.
Georg Juckel und Knut Hoffmann, Bochum