Nervenheilkunde 2021; 40(12): 942-943
DOI: 10.1055/a-1467-7067
Zu diesem Heft

Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Georg Juckel
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Knut Hoffmann
 
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Prof. Dr. med. Georg Juckel, LWL-Universitätsklinikum der Universität Bochum, Quelle: ©RUB
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Dr. med. Knut Hoffmann LWL-Universitätsklinikum der Universität Bochum, Quelle: ©LWL

Liebe, Zärtlichkeit und Sexualität bei psychisch Kranken

Liebe, Zärtlichkeit und Sexualität sind wichtige Bedürfnisse des Menschen und des menschlichen Lebens. Sie sind mit vielen wichtigen Emotionen assoziiert, weisen vielfältige neurobiologische und biologische Aspekte auf und stehen in wechselvollem und zum Teil auch spannungsvollem Verhältnis zu Kognition und Vernunft. Sie sind in der Regel auf Mitmenschen gerichtet und sind daher wichtige Werkzeuge und Ausdrucksformen in unserem interaktionellen Verhalten als „soziale Tiere“. Dabei dienen sie uns auch unserer eigenen inneren Homöostase, und allzu oft sind unsere eigenen Impulse in diese Richtung die Voraussetzung der Ausbildung reifer und liebevoller Beziehungen zu anderen Menschen (Erich Fromm „Die Kunst des Liebens“).

Erstaunlich ist es, dass zu diesem ganzen Themenkomplex zwar allgemein sehr viel geschrieben und geforscht worden ist, zu der spezifischen Situation psychisch Kranker aber, insbesondere auch zu einzelnen Krankheitsbildern wie der Depression, der Schizophrenie usw. gibt es recht wenig Literatur und wenige Forschungsergebnisse von konkreten wissenschaftlichen Studien. Es erscheint ohnehin so zu sein, dass wir über den Alltag der von uns behandelten und betreuten psychisch Menschen sehr wenig wissen. Wie führen sie einen Haushalt, wie erleben sie Arbeit, sei es körperliche oder geistige, was erleben sie in Freundschaften/in der Partnerschaft oder in Sportvereinen, wie gestalten sie ihr Freizeitleben, können sie Kultur genießen? Und wie ist eben ihr Bedürfnis nach Nähe, nach Zärtlichkeit bis hin zu Sexualität, haben sie hier eher Schwierigkeiten, wenige oder keine Bedürfnisse oder gar sehr starke Bedürfnisse, können sie ihre Wünsche artikulieren, wie ist die Liebe mit sich selbst, mit anderen, mit dem gleichen Geschlecht etc.?

Dieses Schwerpunktheft motiviert sich vor diesem skizzierten Hintergrund. Die Beiträge möchten v. a. konzeptionell die verschiedenen Aspekte des Themas darstellen, vertiefen und diskutieren. Sie sind eingebettet in allgemeine Gedanken zur Liebe, Zärtlichkeit und Sexualität, zu philosophischen, psychologischen, soziologischen und psychiatrischen Hintergründen. Sie wollen deutlich machen, dass diese menschliche Erlebensdimension im Umgang mit psychisch Kranken, sei es in Kliniken oder Praxen nicht ausgeklammert werden sollte, auch wenn es schwierig und tabuisiert ist. Es sollte stärker nachgefragt und beraten werden. Denn in dieser wichtigen Erlebens- und Verhaltensdimension manifestiert sich viel von der jeweiligen psychiatrischen Erkrankung. Gelingt es das Thema Liebe, Zärtlichkeit und Sexualität in das psychiatrisch-psychotherapeutische Gespräch stärker einbinden, dann dürfte sich auch das psychopathologische Gesamtbild der Patienten verbessern lassen.

Die vorliegenden Beiträge entstammen nicht einem Symposium oder ähnlichem. Sondern die hier Unterzeichnenden haben neben den eigenen Beiträgen ausgewiese Fachleute und Kollegen angesprochen, aus ihrem jeweiligen Hintergrund und Perspektive zu diesem Thema ihre wichtigsten Gedanken und Gesichtspunkte zu verfassen.

So berichten Georg Juckel und Paraskevi Mavrogiorgou über die Sehnsucht nach Beziehung und Geborgenheit und die subjektiven Bedürfnisse psychiatrischer Patienten nach Liebe und Zärtlichkeit. Dabei wird insbesondere das Dialogprinzip erläutert, was die grundsätzliche Ausrichtung des Menschen auf die Umwelt und seine Mitmenschen meint und das möglicherweise im Rahmen von psychischen Störungen beeinträchtigt ist.

Eine grundlegende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Liebe findet sich im Aufsatz von Wolfgang Eirund. Die Frage der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Annäherung an dieses Phänomen wird diskutiert, dabei wird die Idee eines Verständnisses der Liebe als „seelischer Protest“ dargestellt und in einem breiten, auch philosophischen, Kontext erläutert.

Liebeskummer als eigentlich alltägliches und normales und vor allem weit verbreitetes Syndrom ist das Thema der Arbeit von Henrik Walter. Es werden mögliche psychologische und neurobiologische Aspekte diskutiert und die Bedeutung in einen breiten psychiatrischen Kontext gesetzt. Auch eine mögliche Modellfunktion für stressbezogene Erkrankungen wird diskutiert.

Anschließen berichten Knut Hoffmann und Georg Juckel über gegenwärtige Aspekte des Liebeswahns, welcher ja historisch unterschiedlich interpretiert und eingeordnet wurde und der heute am ehesten symptomatisch verstanden wird.

Andreas Ebert stellt dann das wichtige und im klinischen Alltag Thema von Sexualität und Intimität im Zusammenhang mit depressiven Erkrankungen dar, was wahrscheinlich oft therapeutisch nicht ausreichend Beachtung findet, obwohl es zu vielfältigen Leiden seitens der Patienten führen kann. Explizit wird auch auf therapeutisch verursachte Aspekte im Rahmen der Medikation eingegangen werden. Die Bedeutung neuer Medien und verfügbarer Online-Formate für viele Aspekte psychischer Störungen ist evident.

Der Zusammenhang von pathologischen Bindungsphänomenen für die Entwicklung von internetbezogenen Störungen verschiedener Ausprägung, u. a. auch bezogen auf Online-Sexsucht werden im Rahmen eines systematischen review von Jan Dieris-Hirche und Kollegen ausführlich dargestellt werden.

Sexualität und Alter sind seit jeher eher tabuisierte Aspekte des Lebens und werden gesellschaftlich weitgehend ignoriert. Die Bedeutung von Sexualität für das körperliche und seelische Wohlbefinden, aber auch die Probleme mit Stigmatisierung von Sexualität von älteren Menschen, ebenso wie der Einfluss von physiologischen, aber auch krankheitsbedingten Prozessen auf die Sexualität im Alter wird in der Arbeit von Friedericke Schröck et al. dargestellt werden.

Jannis Engel und Tillmann Krüger berichten abschließend über die neue Kategorie des zwanghaften Sexualverhaltens, welche mit dem ICD-11 Einzug in den allgemeinen diagnostischen Kanon finden wird. Neben den historischen Bezügen werden hier die relevanten diagnostischen und therapeutischen Implikationen ausführlich dargestellt.

Wir hoffen mit diesem Schwerpunktheft kurz vor Weihnachten 2021, dem Fest der Liebe, den Lesern einige Aspekte dieses großen, bei psychiatrischen Patienten bislang eher vernachlässigten Themas nahe zu bringen und wünschen eine gute und anregende Lektüre.

Georg Juckel und Knut Hoffmann, Bochum



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Article published online:
06 December 2021

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Prof. Dr. med. Georg Juckel, LWL-Universitätsklinikum der Universität Bochum, Quelle: ©RUB
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Dr. med. Knut Hoffmann LWL-Universitätsklinikum der Universität Bochum, Quelle: ©LWL