Aktuelle Rheumatologie 2021; 46(03): 241-242
DOI: 10.1055/a-1426-7629
Geschichte der Rheumatologie

Zur Entwicklung der klinischen Rheumatologie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg

Joachim R. Kalden
 

    „Die Innere Medizin hat im Laufe der letzten 20 Jahre einen Umfang des Wissens erreicht, der in vielen Ländern der Welt dazu geführt hat, dass Gesamtfache in zahlreiche Teilfächer aufzulösen, weil es einem Einzelnen nicht mehr möglich ist, das Fachgebiet vollständig zu überblicken“. Damit beginnt das Vorwort zur ersten Auflage des berühmten Lehrbuches der Inneren Medizin, herausgegeben von Ludwig Heilmeyer im Jahr 1955. Eine 2. Auflage erfolgte bereits 1961, wobei in der ersten wie in der zweiten Auflage die rheumatischen Erkrankungen ein eigenes umfangreiches Kapitel zugewiesen bekommen hatten, mit Ludwig Heilmeyer und Wolfgang Müller als Autoren. Wolfang Müller wurde später zum Direktor des Felix Platter-Instituts in Basel berufen, heute ein Teil des Universitätsklinikums Basel. Interessant ist, dass schon in dieser frühen Zeit die Rheumatologie von führenden Medizinern in der damaligen Bundesrepublik eine Selbstständigkeit in dem Lehrbuch für Innere Medizin fand, eine Selbstständigkeit, die noch heute nicht in allen Universitätsklinika als selbstständige Abteilung unter Lehrstuhl realisiert worden ist, und dies trotz der außerordentlich hohen klinischen wie wissenschaftlichen und ökonomischen Bedeutung der Erkrankung.

    In der frühen Zeit nach dem 2. Weltkrieg fand eine forschende Rheumatologie in der Bundesrepublik nicht statt. Die rheumatologische Versorgung wurde zumeist von Kurklinika übernommen, die Lehre zu diesem wichtigen Krankheitsgebiet erfolgte in der Regel von Oberärzten die sich in diesem Gebiet der muskuloskelettalen Erkrankungen weitergebildet hatten. Diese Oberärzte wurden auch nach und nach mehr in die klinische Betreuung von Rheumapatienten an den Universitätsklinika einbezogen. Der Vorsprung der Etablierung rheumatischer Abteilungen in angelsächsischen Ländern und bei unseren Nachbarn war auch dadurch begründet, dass eine Vielzahl von jungen Immunologie-interessierten jüdischen Kollegen Deutschland verlassen mussten. Ernst Witebsky sei hier als Beispiel für die Gesamtheit der emigrierten Kollegen und Kolleginnen genannt. Um dieses Nachhinken in der Etablierung rheumatologischer Institutionen im Gegensatz zu anderen Ländern zu verdeutlichen, sei noch erwähnt, dass bereits 1954 ein erstes Klassifizierungsschema in der Terminologie der rheumatischen Erkrankungen von der WHO veröffentlicht wurde.

    Insgesamt waren die Nachkriegsjahre bis in die 1960iger und noch Anfang der 1970iger ruhig, was die Entwicklung an deutschen Universitäten um das Fach Rheumatologie anbelangt. In dieser Zeit kam es jedoch zu einer Bewegung die für die spätere, so positive Entwicklung der Rheumatologie im akademischen Bereich wichtig war. Mehr und mehr junge Kliniker und Klinikerinnen mit Interesse an der Immunologie, meistens mit einem DFG-Stipendium ausgestattet, gingen für mehrere Jahre ins Ausland, um sich in die Immunologie und die immunologischen Techniken einzuarbeiten, um dann zurück zu Hause mit den erlernten Technologien oder mit der erlernten Methodik Fragen zur Pathogenese und Entwicklung neuer Therapieprinzipien bei z. B. chronisch-entzündlich rheumatischen, aber auch anderen Erkrankungen zu bearbeiten. Erstaunlich war, dass die vielen in der Nazi-Zeit emigrierten oder hinausgeworfenen klinischen Immunologen sowie Immunologen im naturwissenschaftlichen Bereich im Ausland diese jungen Stipendiaten – und ich war einer von ihnen – aufgenommen haben, ohne Ressentiments und ohne Hassgefühle den „jungen Deutschen“ gegenüber. Dafür ist meine Generation den vielen Institutsleitern und Klinikdirektoren vorwiegend in den angelsächsischen Ländern aber auch im weiteren europäischen Ausland zu großem Dank verpflichtet.

    Einer der ersten Stipendiaten war Prof. Helmuth Deicher, der Ende der 1950iger Jahre am US-amerikanischen Rockefeller-Institut bei Prof. Kunkel mitbeteiligt war, die antinukleären Antikörper bei Patienten mit systemischem Lupus erythematodes zu beschreiben. Prof. Deicher, zurückgekehrt nach Deutschland, hat dann in Hannover eine Abteilung für klinische Immunologie geleitet, und gilt hier als einer der Mentoren für die Entwicklung der Rheumatologie an deutschen Universitäten.

    Ein weiterer Mentor der Immunologie der Nachkriegszeit war Prof. Fritz Hartmann. Als Leiter der Universitäts-Poliklinik der Philipps-Universität in Marburg beschäftigte er sich mit der Planung einer medizinischen Hochschule in Hannover. Die von ihm begonnene Planung wurde erfolgreich abgeschlossen. Mit der Gründung der medizinischen Hochschule in Hannover waren ein Lehrstuhl für Rheumatologie sowie eine Abteilung für klinische Immunologie geschaffen, den Lehrstuhl für Rheumatologie hatte Fritz Hartmann bis zu seinem Tode inne. Somit wurde die medizinische Hochschule in Hannover eine Anlaufstelle für junge Kliniker mit wissenschaftlichem Hintergrund aus dem Ausland bzw. auch eine Anlaufstelle für junge Kliniker mit Interesse an chronisch-entzündlichen Erkrankungen und Tumorerkrankungen. Wie der Autor dieses Artikels selbst erfahren konnte, war zusätzlich eine sehr offene forschungsorientierte Atmosphäre in der gesamten Hochschule vorhanden.

    Es war 1978, als ein Programm der Bundesregierung: „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit“ von 3 Ministerien der Bundesregierung (Bundesministerium für Arbeit u. Sozialordnung, Bundesministerium für Jungend, Familie und Gesundheit sowie Bundesministerium für Forschung und Technologie) etabliert wurde. Im Rahmen dieses in der Thematik sehr breit gefassten Forschungsförderungsprogrammes wurden etwa 1000 Einzelprojekte gefördert. In die förderungswürdigen Themenbereiche wurde auch die Rheumatologie eingeschlossen, die für die Zukunft als besonders bedeutsam erachtet wurde.

    Fassen wir bis hierher die Entwicklung der klinischen und wissenschaftlichen Rheumatologie zusammen, so lässt sich sagen, dass sich trotz aller Aktivitäten außerhalb und innerhalb der Universitäten auch mit durchaus ansehbaren Erfolgen die Situationen der westdeutschen Universitäten über die Nachkriegsjahre bis hin zum Jahr 1978 nicht großartig verändert hatte. Es waren 2 Abteilungen hinzugekommen, eine in Freiburg, eine 2. wie erwähnt am Klinikum in Hannover. Trotz aller Bemühungen blieb es erfolglos neben den bereits benannten Universitätsklinika auch weitere Kliniken dazu zu bringen, die Rheumatologie zu verselbständigen.

    Es folgten dann noch 2 Ereignisse, die so wichtig erscheinen, dass sie genannt werden müssen, und die sich auf die jetzige Situation der Rheumatologie im nationalen und internationalen Bereich sehr positiv ausgewirkt haben. Dies ist einmal die Gründung des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums in Berlin, das nun seit 30 Jahren besteht und in enger Kooperation mit der klinischen Immunologie und Rheumatologie der Charité zusammengearbeitet hat. Es wird sich zeigen, in welcher Form das DRFZ weitergeführt wird.

    Mit der Entwicklung der Technologie zur Behandlung monoklonaler Antikörper 1980 von Köhler und Milstein, die dafür 1985 mit dem Nobelpreis belohnt wurden, war zum Zweiten eine Möglichkeit geschaffen, bis dahin schwer zu therapierende Erkrankungen, und darunter auch die Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises besser zu behandeln. Es waren die klinischen Rheumatologen, die an 4 europäischen Zentren (London, Erlangen, Wien und Leiden) monoklonale Antikörper gegen Tumornekrosefaktor-α in die routinemäßige Therapie von autoimmunologischen Erkrankungen in der Klinik eingeführt haben. Dies geschah trotz aller Bedenken wegen möglicher auch ernstzunehmender Nebenwirkungen. Dieses Therapieprinzip hat sich im Bereich der Rheumatologie weiter ausgebreitet, mit großem Erfolg werden unterschiedliche monoklonale Antikörper zur Therapie unterschiedlicher rheumatischer Krankheitsbilder eingesetzt.

    Universitär und auch außer-universitär hat sich die klinische Versorgung sowie die Forschung und Erforschung rheumatologischer Krankheitsbilder in der letzten Dekade erheblich verbessert. Die neuen Therapieprinzipien mit monoklonalen Antikörpern haben die in der Vergangenheit verkürzte Lebenszeit von Patienten mit schwerer Arthritis vergessen lassen. Nicht nur im Bereich der Therapie wurden sensationellen Erfolgte erzielt, sondern auch im Bereich der Pathogeneseforschung. Die akademische Rheumatologie hat in Deutschland einen hohen Standard erreicht, der national und international, klinisch wie wissenschaftlich geschätzt wird. Dabei ist klar, dass die in den letzten Jahren so stürmisch entwickelte akademische Rheumatologie abhängig ist von einer gleichlaufenden Entwicklung der Immunologie und klinischen Immunologie.

    Aktuell gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 8 Lehrstühle für klinische Immunologie und Rheumatologie. In der Mehrzahl der deutschen Universitätsklinika ist dieses Fach jedoch nur in Form von Sektionen etabliert. Diese Unterrepräsentanz ist dem klinischen wie dem wissenschaftlichen Stellenwert der Rheumatologie nicht angemessen. Prominente rheumatologische Universitätsklinika sind der Rheumaschwerpunkt in Berlin mit einer engen Kooperation im Bereich der Grundlagenforschung, durchgeführt durch das DRFZ und die Charité mit einer Abteilung für klinische Immunologie und Rheumatologie als Fach. Eine ähnliche Partnerschaft besteht im Rheumaschwerpunkt in Erlangen, wo sehr intensive Kooperationen zwischen der Grundlagenforschung, der klinischen Immunologie und Rheumatologie über viele Jahre gewachsen sind und zur Gründung des Deutschen Zentrums für Immuntherapie führte.

    Alle akuten und chronischen Entzündungserkrankungen, inklusive der Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems, hängen in der Entwicklung der Erkenntnisse zur Pathogenese und zu neuen Therapieprinzipien von Fortschritten in der Erforschung unseres Immunsystems ab. Daher ist zu fordern, dass noch an weiteren Universitäten Lehrstühle zu etablieren sind, die diesen Fachbereich Rheumatologie in all seinen unterschiedlichen Facetten zum Segen der Patienten repräsentieren.

    Die hohe internationale Anerkennung des Standards der deutschen Rheumaforschung zeigte sich nicht zuletzt auch in der Berufung von deutschen Rheumatologen und Immunologen auf renommierte internationale Positionen. Die klinische wie wissenschaftsorientierte Rheumatologie befindet sich in Deutschland auf einem hohen Niveau, sie ist international konkurrenzfähig, dies sowohl im klinischen Bereich als auch in der Grundlagenforschung. Sie muss jedoch noch breiter aufgestellt werden als derzeit, um dieses Ansehen und diese Stellung in der Gesamtschau rheumatologischer Forschungsaktivitäten in der Europäischen Union sowie in den außereuropäischen Ländern zu erhalten.


    #

    Interessenkonflikt

    Es liegen keine Angaben zum Interessenkonflikt vor.

    Korrespondenzadresse

    Professor Dr. med. Bernhard Manger
    Medizinische Klinik 3
    Rheumatologie & Immunologie
    Universitätsklinikum Erlangen
    Ulmenweg 18
    91054 Erlangen
    Deutschland   

    Publication History

    Article published online:
    16 June 2021

    © 2021. Thieme. All rights reserved.

    Georg Thieme Verlag KG
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany