Zeitschrift für Phytotherapie 2021; 42(03): 117-118
DOI: 10.1055/a-1406-4153
Editorial

Beitrag der Phytotherapie zu Covid-19: Denken statt Floskeln

Die Pandemie mit all den damit verbundenen Problemen ist noch nicht vorüber – schlimmstenfalls bleibt sie uns noch länger präsent, als unsere Hoffnungen uns suggerieren …

In jedem Fall wird es in der „Nachlese“ für Politik und Wissenschaft einige Fragen und Vorwürfe geben – einige wahrscheinlich auch unfair aus der rückblickenden und klareren Sicht.

„Wo war denn die Phytotherapie in diesen Jahren?“ So könnte dann später die Frage kommen und der inhärente Vorwurf wird im Raum stehen bleiben. Nun gibt es einzelne Vertreter der Phytotherapie, die fundierte Vorschläge eingebracht haben – insbesondere zur Verringerung der Ansteckungsgefahr durch lokale Anwendung. Aber diese Vorschläge münden – jedenfalls bis jetzt – nicht in breitere Empfehlungen für die Verbraucher. Die Frage bleibt, wie unter Zeitdruck die Bewertung vorliegender Erkenntnisse in ihrer Praxisrelevanz vorgenommen wird – und da sind gewisse Abstriche von „normalen“ Ansprüchen an eine „Evidenz“ zu tolerieren (so wie bei der Entwicklung von Impfstoffen und bei Eingriffen und Vorschriften, welche die Grundrechte der Bürger massiv einschränken).

Thailand zeigt, wie stark die Phytotherapie im Bewusstsein der Regierung und der Bevölkerung verankert ist. Dort wird Kalmegh (Andrographis paniculata, Acanthaceae) nicht nur empfohlen, sondern sogar zugelassen(!), um Frühsymptome zu behandeln und die Schwere der Covid-19-Erkrankung zu reduzieren. Kalmegh (3 x tägl. 60 mg ethanolischer Extrakt 4:1) soll innerhalb der ersten 72 Stunden nach Auftreten von Symptomen gegeben werden.

Bereits vor 12 Monaten wurde in Thailand eine kleine Phase-I-Studie zur Dosisfindung gestartet, aus der angeblich positive Ergebnisse bei den 6 Patienten der Low-dose-Gruppe bekannt gemacht wurden. Schon im September folgte eine placebokontrollierte Phase-II-Studie mit 2 x 30 Patienten. Aus deren Ergebnissen leitete die Regierung ihre Empfehlungen ab. Diese blieben im Land nicht unkommentiert, insbesondere wurde auf das Nebenwirkungspotenzial bei dieser gegenüber der traditionellen Verwendung recht hohen Dosierung hingewiesen.

Wirksame Phytotherapeutika in richtiger Dosis können also mit ziemlich kleinen Fallzahlen überzeugende Ergebnisse liefern – insbesondere wenn wenig Alternativen verfügbar sind und die Ergebnisse plausibel (immerhin zeigen Kalmegh und die Wirkstoffgruppe der Andrographoide eine Hemmung der Vermehrung von SARS-CoV-2 [1] auch in einem Modell mit humanen Lungenzellen [2]).

Seitens der American Herbal Pharmacopoeia (AHP) wird eine mögliche Benachteiligung der amerikanischen Bürger kommuniziert: Covid-19 „patients in the US [may be] at a distinct disadvantage [by] not integrating herbal medicines into the management of COVID-19“ [3] .

Fassen wir zusammen: In Thailand wurde innerhalb von wenigen Monaten ein bereits eingeführtes Phytotherapeutikum formal für die Initialbehandlung von Covid-19 entwickelt. Man hat sich dort nicht mit endlosen Diskussionen über 100 verschiedene Pflanzen aufgehalten, sondern sich pragmatisch einen guten Kandidaten ausgesucht und diesen entwickelt. Dieser zeigt nun:

  • ausgeprägte breite und SARS-2-spezifische antivirale Aktivität

  • eine wirksam erscheinende Dosis in der orientierenden Dosisfindung

  • eine dem Placebo überlegene Wirksamkeit zur Symptomlinderung

  • ausreichende klinische Evidenz zur Symptomlinderung bei Atemwegsinfektionen.

Bei europäischen Heilpflanzen dürfte allein der letztgenannte Punkt für äußerst wenige Pflanzen zutreffen – da die EMA die Mehrzahl der Atemwegstherapeutika lediglich für die traditionelle Anwendung vorsieht. Es spricht eigentlich kein wirklicher Grund gegen eine pragmatische Prüfung der anderen Punkte bei einigen gut untersuchten Arzneipflanzen und Kombinationspräparaten.

Unsere Regierung setzt auf eine Priorisierung der Impfung und scheint ergänzende Maßnahmen eher als störend oder ablenkend zu betrachten. Dabei werden bestimmte Maßnahmen wie Temperaturmessungen im Gegensatz zu anderen Ländern vernachlässigt. Zur Vorbeugung einer Ansteckung, Verbreitung bzw. Verringerung der Viruslast könnten pflanzliche Zubereitungen lokal beitragen. Entsprechende Flüssigkeiten bzw. Lutschpastillen mit Gerbstoffen und / oder ätherischen Ölen zerstören die empfindliche Virushülle mit den Spike-Proteinen sowie Strukturen zur Andockung an der Mundschleimhaut bzw. Magen-Darm-Schleimhaut (wie ACE-Rezeptoren). Grüner Tee, Zistrose, Aronia und Granatapfel sind in vitro ähnlich virenhemmend gegenüber SARS-2 wie chemische Gurgel- und Spüllösungen. Diese In-vitro-Tests sind (anders als beispielsweise schwimmende oder springende Nagetiere in der Zappelpharmakologie für psychische Indikationen) für die lokale Aktion hochrelevant. Konzentrationen und Einwirkzeiten entsprechen nämlich ganz genau den klinischen Bedingungen!

Aus der Sicht des Bürgers spricht nichts gegen ein wirksames Prophylaktikum, wenn dieses als Lebensmittel bekannt ist, wie z. B. grüner Tee oder Salbeitee. Müsste man für Aronia oder Granatapfel sowie Grüntee nun eine Eilzulassung forcieren – oder kann eine vorsichtige Anwendungsempfehlung gegeben werden? Das Risiko ist bei einem Lebensmittel ja minimal, die vorbeugende Wirkung aufgrund der In-vitro-Studie hochplausibel. Es wird oft von Translation gesprochen, wie sieht das aber konkret aus?

Der Reflex vieler Wissenschaftler, vor einer Empfehlung erst einmal mit einer stereotypen Forderung nach Evidenz zu kommen, könnte allerdings hier im Falle der Vorbeugung von (im prospektiven Einzelfall) seltenen Infektionen nicht durch eine einfache Phase II oder III mit geringen Fallzahlen abgewickelt werden. Hier bieten sich eher Feldversuche an, bei denen in bestimmten Brennpunkten mit diesen Vorbeugemitteln gearbeitet wird, z. B. in Firmen, Ämtern, Kliniken, Pflegeeinrichtungen, um dann die Infektionshäufigkeiten gegen die von anderen Einrichtungen ohne solche Vorbeugemittel zu vergleichen. Interessierte Bürger denken da weniger kompliziert: Sie wenden einfach verfügbare und dazu preiswerte „Mittel“ zur Vorbeugung an und lassen sich von der Kritik durch halb informierte „Experten“ nicht abschrecken.

Wenn der bayerische Gesundheitsminister zum 200. Geburtstag von Sebastian Kneipp sich dahingehend äußert, dass die Kneipptherapie für die Behandlung von Long-Covid viel verspreche, so interpretiere ich dies als seine persönliche Einschätzung, die ich im Prinzip teile; allerdings fehlt hier streng genommen jegliche Erfahrung und Evidenz. Hingegen wollte dieser Minister sich nicht für prophylaktischen Einsatz von Pflanzen aussprechen. Ob Long-Covid aber überhaupt auf dieselben Verfahren und Pflanzen anspricht wie andere Erschöpfungssyndrome oder Folgen von schweren Infektionen, muss sich wirklich erst zeigen. Vielleicht sollte der Minister dazu recht bald ein entsprechendes und pragmatisches Studienprogramm aufsetzen – an interessierten Testpersonen dürfte es nicht mangeln und die von Kneipp gebauten Kureinrichtungen in Bad Wörishofen stehen derzeit leer …

Bernhard Uehleke



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Article published online:
16 June 2021

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