1. Einleitung
1.1. Grundlagen des primären Lymphödems
Das Lymphödem entsteht durch ein Missverhältnis zwischen der mikrovaskulären Filtration
und dem Abtransport von Lymphflüssigkeit bzw. Lymphe, die sich u. a. aus proteinreicher
Flüssigkeit und Immunzellen zusammensetzt. Durch eine verringerte Transportkapazität
der Lymphgefäße kommt es dabei zu einer Flüssigkeitseinlagerung im Interstitium [1]. Aus diesem tritt die Lymphflüssigkeit, deren genaue Zusammensetzung je nach Herkunftsort
variieren kann, zunächst durch kleinste, blind beginnende initiale Lymphgefäße in
das Lymphgefäßsystem ein. Die initialen Lymphgefäße münden in Präkollektoren und im
weiteren Verlauf in größerlumige Kollektoren. Während die Präkollektoren durch einzelne
Zellen glatter Muskulatur gekennzeichnet sind, besitzen die Kollektoren und größeren
Lymphstämme eine Schicht glatter Muskulatur. Klappen in den Präkollektoren und Kollektoren
verhindern einen Rückfluss der Flüssigkeit der Gravitation folgend und ermöglichen
den unidirektionalen Fluss der Lymphe. Durch das Zusammenwirken der Klappen und der
Kontraktion glatter Muskulatur verfügt das Lymphgefäßsystem somit über einen eigenen
Transportmechanismus. Dieser wird durch die Bewegungen der umgebenen Skelettmuskulatur
und Gefäße unterstützt [2]
[3].
Beim Lymphödem, das also durch eine Beeinträchtigung des Lymphgefäßsystems entsteht,
unterscheidet man 2 Typen: Während das sekundäre Lymphödem Folge einer Vorerkrankung,
eines Traumas oder einer iatrogen bedingten Schädigung ist, beruht das primäre Lymphödem
auf einer angeborenen, in der Regel genetisch bedingten Fehlbildung der Lymphgefäße
oder -klappen [3]
[4].
1.2. Klinische Manifestationen
In Abhängigkeit vom assoziierten Gen und der zugrunde liegenden genetischen Veränderung
unterscheiden sich sowohl die klinischen Manifestationen als auch der Ausprägungsgrad
des Lymphödems [5]. Dabei tragen periphere und systemische Manifestationen zum letztendlichen Phänotyp
bei. Periphere Manifestationen des primären Lymphödems sind Schwellungen im Bereich
des Gesichts, des Stamms, der Genitalien oder der Extremitäten, wobei die untere Extremität
am häufigsten betroffen ist. Zu den systemischen Manifestationen zählen Aszites, intestinale
und pleurale Lymphangiektasien, Chylothorax, Pleura- und Perikarderguss, aber auch
der Hydrops fetalis [5]
[6]. Diesem generalisierten Ödem des Fötus mit pathologisch vermehrter Flüssigkeitsansammlung
in fetalen serösen Körperhöhlen und Weichteilen liegt ein Ungleichgewicht der fetalen
Flüssigkeitsbewegung zwischen dem Gefäßsystem und dem interstitiellen Raum zugrunde.
Es handelt sich jedoch nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild, sondern um ein
Symptom oder Endstadium einer Vielzahl verschiedener Erkrankungen. Zu den Ursachen
des Immun-Hydrops fetalis zählen insbesondere maternofetale Immunreaktionen wie die
Rhesus-Inkompatibilität oder Myasthenie. Häufiger jedoch liegt ein Non-Immun-Hydrops
fetalis (NIHF) vor. Dieser beruht unter anderem auf hämatologischen Erkrankungen wie
der genetisch bedingten Alpha-Thalassämie, kardiovaskulären oder anderen organischen
Ursachen, Infektionen oder Stoffwechselstörungen, und kann idiopathisch, multifaktoriell
oder im Rahmen eines genetisch bedingten Syndroms auf Basis größerer struktureller
chromosomaler Veränderungen oder monogen, also auf Basis von Punktmutationen in einzelnen
Genen, auftreten [7]
[8]
[9]. Insbesondere bei den monogen bedingten Störungen der embryonalen Lymphangiogenese
kann der Hydrops fetalis Erstmanifestation des primären Lymphödems sein. Allerdings
muss er nicht zwingend durch ein primäres Lymphödem begründet sein, sondern kann auch
bei nicht lymphovaskulären Erkrankungen auftreten [5]
[7].
2. Klassifikation des primären Lymphödems
Da die ursprüngliche Klassifikation in kongenitales Lymphödem, Lymphoedema praecox
(Manifestation in der Pubertät) und Lymphoedema tarda (Manifestation nach dem 35.
Lebensjahr) zu vereinfacht ist und den Phänotyp nicht mit einbezieht, haben Connell
et al. 2010 einen Diagnostikalgorithmus entwickelt, um die verschiedenen Krankheitsbilder
des primären Lymphödems anhand klinischer und genetischer Kriterien zu klassifizieren
[4]
[10]. Er ermöglicht eine Zuordnung der Form und ein gezieltes diagnostisches Vorgehen,
wurde mehrfach überarbeitet und unterscheidet aktuell 5 Kategorien: Lymphödeme, die
mit vaskulären beziehungsweise kutanen Malformationen und segmentalen Wachstumsstörungen
einhergehen, und 4 weitere Kategorien des sogenannten typischen primären Lymphödems
[5]
[10]
[11] ([Abb. 1]).
Abb. 1 Diagnostikalgorithmus für die Einteilung des primären Lymphödems in 5 farbkodierte
Kategorien. Es wird unterschieden zwischen (A) Krankheitsbildern, die auf einem somatischen
Mosaik beruhen und mit segmentalen Störungen des Wachstums bzw. Beteiligungen des
vaskulären Systems einhergehen (grau), sowie (B) Krankheitsbildern, die mit einem
typischen primären Lymphödem einhergehen. Diese bilden wiederum 4 weitere Kategorien:
Lymphödeme als Teil einer syndromalen Erkrankung (B1, blau), Krankheitsbilder mit
systemischen Beteiligungen (B2, rot), kongenitale Krankheitsbilder, die vor der Vollendung
des ersten Lebensjahres auftreten (B3, grün), und Krankheitsbilder, die nach der Vollendung
des ersten Lebensjahres auftreten (B4, gelb). Assoziierte genetische Veränderungen
bzw. Gene sind rot markiert [11].
[Tab. 1] Darstellung der bekannten mit einem primären Lymphödem assoziierten Krankheitsbilder
inklusive der assoziierten genetischen Veränderungen und der entsprechenden diagnostischen
Verfahren. Genauere Informationen zu den Krankheitsbildern finden sich mithilfe der
OMIM-Nummer unter www.omim.org.
Tab. 1
Krankheitsbilder und ihre assoziierten genetischen Veränderungen.
klinischer Subtyp
|
Krankheitsbild
|
OMIM-Nummer
|
genetische Veränderung
a) chromosomale Veränderung
b) Einzelgen-Mutation
|
|
Diagnostik-Methode
|
a
|
b
|
syndromale Erkrankungen (B1)
|
Turner-Syndrom
|
|
45,X
|
X
|
|
Karyogramm
|
Phelan-McDermid-Syndrom
|
606232
|
Ringchromosom 22
|
X
|
|
Deletion 22q13
|
X
|
|
Array-CGH
|
SHANK3
|
|
X
|
molekulargenetische Methoden
|
Prader-Willi-Syndrom
|
176270
|
15q11 Mikrodeletion
|
X
|
|
zunächst Untersuchung der DNA-Methylierung, danach zytogenetische Untersuchungen
|
unbalancierte Translokation
|
X
|
|
maternale uniparentale Disomie 15
|
X
|
|
andere Veränderung des Chromosoms 15
|
X
|
X
|
velokardiofasziales Syndrom
|
192430
|
Mikrodeletion 22q11
|
X
|
|
Array-CGH
|
Thrombozytopenie mit fehlendem Radius
|
274000
|
Mikrodeletion 1q21.1
|
X
|
|
RBM8A
|
|
X
|
molekulargenetische Methoden
|
Noonan-Syndrom
|
163950
|
u. a. PTPN11, RIT1, SOS1, KRAS, BRAF, MAP2K1, MAP2K2
|
|
X
|
Hypotrichose-Lymphödem-Teleangiektasien-renales Syndrom
|
137940
|
SOX18
|
|
X
|
Emberger-Syndrom
|
614038
|
GATA2
|
|
X
|
Mikrozephalie-Chorioretinopathie-Lymphödem-Syndrom
|
152950
|
KIF11
|
|
X
|
okulo-dento-digitales Syndrom
|
164200
|
GJA1
|
|
X
|
Fabry Disease
|
301500
|
GLA
|
|
X
|
Ruvalcaba-Syndrom
|
180870
|
PTEN
|
|
X
|
Costello-Syndrom
|
218040
|
HRAS
|
|
X
|
Sotos-Syndrom
|
117550
|
NSD1
|
|
X
|
tuberöse Sklerose
|
191100
|
Typ 1: TSC1
|
|
X
|
613254
|
Typ 2: TSC2
|
|
X
|
kongenitales Glykosylierungsdefekt (CDG)-Syndrom/Congenital Disorders of Glycosylation
(CDG)-Syndrome der Typen 1a, 1b und 1h
|
212065
|
Typ 1a: PMM2
|
|
X
|
602579
|
Typ 1b: MPI
|
|
X
|
608104
|
Typ 1h: ALG8
|
|
X
|
mit systemischer Beteiligung (B2)
|
Hennekam-Syndrom
|
235510
|
Typ 1: CCBE1
|
|
X
|
616006
|
Typ 2: FAT4
|
|
X
|
618154
|
Typ 3: ADAMTS3
|
|
X
|
generalisierte lymphatische Dysplasie nach Fotiou
|
616843
|
PIEZO1
|
|
X
|
lymphatisch-assoziierter fetaler Hydrops (LRFH)
|
617300
|
EPHB4
|
|
X
|
Hypotrichose-Lymphödem-Teleangiektasien-Syndrom
|
607823
|
SOX18
|
|
X
|
CHARGE-Syndrom
|
214800
|
CDH7
|
|
X
|
Choanalatresie-Lymphödem
|
613611
|
PTPN14
|
|
X
|
Cholestase-Lymphödem-Syndrom (Aagenaes-Syndrom)
|
214900
|
|
|
|
ektodermale Dysplasie, anhidrotisch, Immundefizienz, Osteopetrose und Lymphödem (OL-EDA-ID
syndrome)
|
300291
|
IKBKG (NEMO)
|
|
X
|
kongenital (B3)
|
Milroy-Erkrankung
|
153100
|
FLT4 (VEGFR3)
|
|
X
|
Milroy-ähnliche Erkrankung
|
615907
|
VEGFC
|
|
X
|
Late Onset (B4)
|
Lymphödem-Distichiasis-Syndrom
|
153400
|
FOXC2
|
|
X
|
4-Extremitäten-Lymphödem
|
613480
|
GJC2
|
|
X
|
Meige-Erkrankung
|
153200
|
|
|
|
keine, da noch keine assoziierte genetische Veränderung bekannt ist
|
Meige-ähnliche Erkrankung
|
|
|
|
|
Mosaik:
Wachstumsstörungen (A)
|
PIK3CA-assoziierte Überwuchs-Syndrome
|
612918
|
PIK3CA, somatisch
|
|
X
|
molekulargenetische Methoden aus Gewebeproben des betroffenen Areals
|
Proteus-Syndrom
|
176920
|
AKT1, somatisch
|
|
X
|
2.1. Kategorie A: Lymphödem assoziiert mit vaskulären und kutanen Malformationen sowie
segmentalen Wachstumsstörungen
Meist liegt den Krankheitsbildern, die mit segmentalen Wachstumsstörungen und vaskulären
Malformationen assoziiert sind, ein somatisches Mosaik zugrunde. Dabei liegt die ursächliche
genetische Veränderung nur in einem Teil der Körperzellen vor, weil sie nicht von
Anfang an vorhanden war, sondern zu einem späteren postzygotischen Zeitpunkt während
der Embryogenese aufgetreten ist. Dementsprechend ist nur der Bereich des Körpers
betroffen, der aus dieser ursprünglich mutierten Zelle hervorgegangen ist oder in
ihrem Einflussbereich liegt [12]. Die assoziierten Gene besitzen überwiegend eine anti-apoptotische Funktion. Somit
begünstigt die pathogene Mutation ein übermäßiges Wachstum der betroffenen Gewebe,
wobei neben dem lymphatischen System auch Blutgefäße, Bindegewebe, Fettgewebe und
Knochen betroffen sein können [5].
Aktivierende Mutationen im PIK3CA-Gen und im AKT1-Gen führen durch eine Aktivierung des PI3K-AKT-mTOR-Signalwegs zu einer Steigerung
der Proliferation, des Zellwachstums und des Zellüberlebens. Bei den PIK3CA-assoziierten Überwuchs-Syndromen (CLOVE-Syndrom, OMIM #612 918) betrifft die zugrunde
liegende somatische Mutation das PIK3CA-Gen, das für die katalytische Untereinheit der Phosphatidylinositol-3-Kinase (PI3K)
kodiert [13]. Aktivierende somatische Mutationen im AKT1-Gen verursachen das Proteus-Syndrom (OMIM #176 920), ein hochvariables Krankheitsbild
mit asymmetrischem und disproportionalem Überwuchs von Körperteilen, dysreguliertem
Fettgewebe und vaskulären Fehlbildungen. Viele dieser Merkmale finden sich auch bei
anderen Überwuchssyndromen [5]
[14].
2.2. Kategorie B: Primäres Lymphödem
Ursächlich für das primäre Lymphödem sind dagegen Keimbahnmutationen. Diese sind entweder
ererbt oder bei Betroffenen neu (de novo) entstanden, betreffen jedoch stets sämtliche Körperzellen. Die assoziierten Gene
spielen eine wichtige Rolle in der Lymphangiogenese. Ist diese gestört, kommt es durch
Fehlbildung oder Fehlfunktion der Lymphgefäße oder -klappen zum Lymphödem [3]. Entsprechende Krankheitsbilder lassen sich einer der verbliebenen 4 Kategorien
zuteilen [11]. Zur ersten Kategorie des primären Lymphödems, den syndromalen Erkrankungen, zählen
vorrangig Erkrankungen, bei denen das primäre Lymphödem zwar typischerweise auftritt,
aber nicht dominierendes Merkmal ist [10]. Im Gegensatz dazu werden Syndrome, bei denen das primäre Lymphödem im Vordergrund
steht, einer der übrigen 3 Kategorien zugeteilt [5].
2.2.1. Kategorie B1: Syndromale Erkrankungen
Ursächlich für genetisch bedingte Syndrome sind größere strukturelle Veränderungen
der Chromosomen oder Veränderungen in einzelnen Genen. Das Turner-Syndrom geht typischerweise
mit einem primären Lymphödem einher und wird durch den durchgängigen Karyotyp 45,X,
aber auch verwandte gonosomale Mosaike wie 45,X/46,XX oder 45,X/46,XY verursacht,
bei denen in den betroffenen Zellen ein Geschlechtschromosom fehlt und nur noch ein
X-Chromosom vorliegt. Betroffene entwickeln einen weiblichen Phänotyp. Viele Schwangerschaften
mit dieser chromosomalen Aberration gehen durch einen schwerwiegenden Hydrops fetalis
bereits vor der Geburt verloren. Auch bei Lebendgeborenen mit Turner-Syndrom kann
in vielen Fällen pränatal ein Hydrops fetalis diagnostiziert werden, der sich jedoch
weitestgehend zurückbildet, sodass postnatal oftmals nur noch ein Pterygium colli
und ein primäres Lymphödem der Hand- und Fußrücken zu sehen sind. Weitere Auffälligkeiten
beim Turner-Syndrom sind unter anderem angeborene Herzfehler, Kleinwuchs und Gonadendysgenesie.
Die Bestimmung des zugrunde liegenden Karyotyps ist wichtig, da Mosaike mit einer
46,XY-Zelllinie mit einem Risiko für maligne Keimzelltumoren assoziiert sind. Klinisch
kann das Turner-Syndrom variabel ausgeprägt sein, wobei das primäre Lymphödem typischerweise
lediglich ein Teilsymptom darstellt [15]
[16].
Zu den auf Genmutationen beruhenden monogenen Syndromen, die mit einem primären Lymphödem
assoziiert sind, zählen insbesondere das Emberger-Syndrom (OMIM #614038), das Noonan-Syndrom
(OMIM #163950), das Mikrozephalie-Chorioretinopathie-Lymphödem-Syndrom (OMIM #152 950)
und die okulo-dento-digitale Dysplasie (OMIM #164 200).
Ursächliche Mutationen für das Emberger-Syndrom finden sich im GATA2-Gen. Dieses kodiert für einen Transkriptionsfaktor, der insbesondere in hämatopoetischen
Stammzellen und Endothelzellen exprimiert wird. Klinisch kann die Kombination eines
spätmanifesten primären Lymphödems der unteren Extremitäten und Genitalien mit einer
Myelodysplasie, die sich zu einer akuten myeloischen Leukämie (AML) weiterentwickeln
kann, beobachtet werden [17]. Daher ist bei Betroffenen mit Emberger-Syndrom eine engmaschige Kontrolle zur Früherkennung
der AML erforderlich, und das GATA2-Gen sollte grundsätzlich bei primärem Lymphödem differenzialdiagnostisch mituntersucht
werden.
Neben dem primären Lymphödem zählen zu den klinischen Zeichen des Noonan-Syndroms
postnataler Kleinwuchs, charakteristische faziale Dysmorphie, angeborene Herzfehler,
Fehlbildungen des Urogenitaltrakts und manchmal auch Entwicklungsverzögerungen [18]
[19]. Je nach assoziiertem Gen wird das molekulargenetisch bestätigte Noonan-Syndrom
mit verschiedenen Typen bezeichnet, gehört aber wie das CFC-Syndrom (OMIM #115 150)
und das Costello-Syndrom (OMIM #218 040) zu den sogenannten RASopathie-Syndromen.
Allen gemeinsam ist, dass sich ursächliche Mutationen in einem der Gene befinden,
die für Proteine der RAS-Signalkaskade kodieren. Dieser Signalweg vermittelt die Aktivierung
der Zellproliferation, des Zellüberlebens und der Zelldifferenzierung nach der Bindung
extrazellulärer Liganden wie Wachstumshormone oder Zytokine [18]. Die Signaltransduktion kann durch Mutationen in einem der Gene PTPN11, RIT1, SOS1, KRAS, BRAF, MAP2K1, MAP2K2 gestört sein, wobei etwa 50 % der nachweisbaren ursächlichen Mutationen das PTPN11-Gen betreffen [5]
[18].
Das Mikrozephalie-Chorioretinopathie-Lymphödem-Syndrom ist charakterisiert durch Fehlbildungen
des Gehirns, der Augen und des lymphatischen Systems. Im Besonderen ist es meistens
assoziiert mit einer milden bis moderaten Intelligenzminderung, einer Chorioretinopathie
und einem primären Lymphödem der unteren Extremität, im Besonderen der Fußrücken.
Auftreten und Kombination der Merkmale sind variabel. Ursächliche Mutationen stören
die Mitose und den Transport von Vesikeln und finden sich im KIF11-Gen, das ein Motorprotein kodiert [5].
Die okulo-dento-digitale Dysplasie ist mit einem primären Lymphödem assoziiert, betrifft
aber insbesondere die Augen (okulo) mit Mikrophthalmie und anderen Augenanomalien,
die Zähne (dento) mit kleinen oder fehlenden Zähnen sowie schwachem Zahnschmelz und
die Finger (digital) mit einer Kamptodaktylie oder einer Syndaktylie zwischen dem
vierten und fünften Finger, manchmal auch der Zehen [20]. Ursächlich sind Mutationen im GJA1-Gen, das für das Protein Connexin 43 kodiert. Gap Junctions, die von Connexin-43-Proteinen
gebildet werden, finden sich in vielen Geweben, unter anderem auch in den Klappen
der Lymphgefäße, was diese Assoziation erklärt [5]
[21].
2.2.2. Kategorie B2: Primäres Lymphödem mit systemischer Beteiligung
Die zweite Kategorie des primären Lymphödems umfasst Krankheitsbilder mit systemischer
Beteiligung, bei denen das Lymphödem das Leitsymptom ist. Ein Beispiel hierfür ist
das Hennekam-Syndrom, bei dem es zu einem progredienten, kongenitalen primären Lymphödem
kommt, das den gesamten Körper betreffen kann. Systemische Manifestationen wie intestinale
Lymphangiektasien, Hydrops fetalis, Chylothorax und Aszites sind häufig. Zudem finden
sich spezifische faziale Auffälligkeiten. Ursächlich für das Hennekam-Syndrom sind
Mutationen im CCBE1-Gen (Hennekam-Syndrom Typ 1, OMIM #235510), im FAT4-Gen (Hennekam-Syndrom Typ 2, OMIM #616006) oder im ADAMTS3-Gen (Hennekam-Syndrom Typ 3, OMIM #618154) [5]. Mutationen in FAT4 beeinträchtigen die Ausbildung der Lymphgefäßklappen [5]. Im Gegensatz dazu spielen CCBE1 und ADAMTS3 eine Rolle in der Prozessierung des
lymphatischen Wachstumsfaktors VEGF-C und somit in der Migration von lymphatischen
Endothelzellen (LEC) während der embryonalen Entwicklung. Da VEGF-C der dominierende
Wachstumsfaktor ist, der die Lymphangiogenese vorantreibt, beeinflussen CCBE1 und
ADAMTS3 durch Modulation der VEGF-C-Aktivität die Migration der LECs und die Proliferation
der Lymphgefäße [3]
[5]
[22]. Auf VEGF-C selbst wird unter 2.2.3 genauer eingegangen, da Mutationen im VEGFC-Gen mit der Milroy-ähnlichen Erkrankung assoziiert sind, die einer anderen Kategorie
zugeordnet wird.
Die generalisierte lymphatische Dysplasie nach Fotiou (OMIM #616843) ähnelt dem Bild
eines Hennekam-Syndroms, jedoch ist das primäre Lymphödem geringer ausgeprägt. Ursächlich
sind Mutationen im PIEZO1-Gen, das für einen mechanosensitiven Ionenkanal kodiert. Dieser beeinflusst die Lymphangiogenese
über die Vermittlung mechanischer Reize [23].
Ein weiteres Syndrom, das mit einem Lymphödem mit systemischen Beteiligungen assoziiert
ist, ist das Hypotrichose-Lymphödem-Teleangiektasien-Syndrom (HLTS, OMIM #607823),
bei dem das Lymphödem hauptsächlich die untere Extremität betrifft. Die systemischen
Beteiligungen umfassen hauptsächlich einen Hydrops fetalis, eine Hydrozele bei männlichen
Patienten und Beteiligungen der Haut mit Teleangiektasien. Ursächlich sind Mutationen
in SOX18
[5]. SOX18 spielt eine kritische Rolle in der embryonalen Lymphangiogenese, weil es
die Expression des lymphatischen Master-Transkriptionsfaktors PROX1 induziert, der
wiederum die Differenzierung von LECs aus venösen Blutendothelzellen initiiert [3]. Bei Betroffenen mit Mutationen im SOX18-Gen kann es auch zu einer renalen Beteiligung kommen. In diesem Fall lautet die Diagnose
Hypotrichose-Lymphödem-Teleangiektasien-Renales-Syndrom (HLTRS, OMIM#137940). Allerdings
wird dieses Syndrom im Gegensatz zum HLTS laut Algorithmus der Kategorie B1 Syndromale Erkrankungen zugeteilt [5].
2.2.3. Kategorie B3: Kongenitales primäres Lymphödem
Wenn das primäre Lymphödem weder im Rahmen einer übergeordneten syndromalen Erkrankung
auftritt noch mit systemischen Beteiligungen assoziiert ist, erfolgt die weitere Einteilung
anhand des Zeitpunkts der ersten klinischen Manifestation. Man unterscheidet zwischen
dem kongenitalen und dem spätmanifestierenden (Late-Onset) primären Lymphödem. Das
kongenitale primäre Lymphödem tritt bereits pränatal oder innerhalb des ersten Lebensjahres
auf [5]
[10].
Das klassische Krankheitsbild des kongenitalen Lymphödems ist die Milroy-Erkrankung
(OMIM #153100). Sie ist eine der häufigsten Ursachen für ein primäres Lymphödem und
zeichnet sich durch ein meist bilaterales Lymphödem der unteren Extremitäten aus,
welches vorwiegend unterhalb des Knies und dabei im Besonderen auf dem Fußrücken auftritt.
Das Ausmaß des Lymphödems bleibt bei den meisten Betroffenen im Laufe des Lebens konstant.
Des Weiteren liegen bei den Betroffenen oft Varikosen am Bein und Fuß vor. Ursächlich
für die klassische Milroy-Erkrankung sind Mutationen im FLT4-Gen, das für den vaskulären Wachstumsfaktor-Rezeptor namens Vascular Endothelial
Growth Factor Receptor 3 (VEGFR-3) kodiert [24]. Dieser Rezeptor wird von LECs exprimiert und unter anderem durch die Bindung von
VEGF-C aktiviert [3]. So erklärt sich, weshalb Mutationen im VEGFC-Gen zur selteneren Milroy-ähnlichen Erkrankung (OMIM #615907) führen, die sich klinisch
wie die klassische Milroy-Erkrankung mit einem kongenitalen Lymphödem der unteren
Extremität, im Besonderen unterhalb des Knies, und Varikosen präsentiert [25]. Betroffene mit Milroy- oder Milroy-ähnlicher Erkrankung haben typischerweise eine
positive Familienanamnese für kongenitale Lymphödeme. Eine negative Familienanamnese
bei bilateralem Ödem der unteren Extremität schließt diese Verdachtsdiagnosen jedoch
nicht aus [5].
Darüber hinaus gibt es einige Formen des kongenitalen Lymphödems, bei denen das assoziierte
Gen bislang unbekannt ist, wie multisegmentale und unilaterale Ödeme sowie Ödeme mit
Beteiligung der Genitalien [5].
2.2.4. Kategorie B4: Late-Onset-primäres Lymphödem
Betroffene mit einem Late-Onset-Lymphödem sollten zuerst auf Vorliegen einer Distichiasis
untersucht werden. Dabei handelt es sich um eine zweite Reihe von Wimpern oder auch
nur einzelne Wimpern, die aus den Meibom´schen Drüsen auf der Innenseite des Augenlids
wachsen. Das Vorliegen einer Distichiasis in Verbindung mit einem meist in der Pubertät
auftretenden primären Lymphödem und dem frühen Auftreten von Varikosen ist charakteristisch
für das Lymphödem-Distichiasis-Syndrom (OMIM #153400) [5]
[26]. Ursächlich sind Mutationen im FOXC2-Gen. Der kodierte Transkriptionsfaktor reguliert unter anderem die Entwicklung der
Klappen in Lymphgefäßen und Venen. Bei Fehlbildung dieser kommt es über einen gestörten
Abtransport der Flüssigkeit mit Reflux zur Ausbildung des Lymphödems und der Varikosen
[3]
[5].
Wie das Lymphödem-Distichiasis-Syndrom gehört die Meige-Erkrankung (OMIM #153200)
zu den häufigsten Krankheitsbildern mit einem primären Lymphödem. Sie geht ebenfalls
mit einem Lymphödem der unteren Extremität einher, das sich erst in der Adoleszenz
oder im Erwachsenenalter ausprägt, unterscheidet sich jedoch durch das isolierte Auftreten
des Lymphödems ohne Varikosis. Zwar zeigt die Meige-Erkrankung eine familiäre Häufung,
bisher konnte jedoch kein assoziiertes Gen identifiziert werden [10]
[11].
Beim Late-Onset-Lymphödem ist die untere Extremität am häufigsten betroffen. Allerdings
gibt es auch Krankheitsbilder, bei denen das Lymphödem im Bereich der oberen Extremität
oder in der Genitalregion auftreten kann. Ein Beispiel hierfür ist das 4-Extremitäten-Lymphödem
(OMIM #613480), das ebenfalls überwiegend in der Adoleszenz beginnt. Meist sind zunächst
die Beine betroffen. Dann breitet sich das progrediente Lymphödem auch auf die Arme
aus, die jedoch üblicherweise weniger schwer betroffen sind. Ursächlich sind Mutationen
im GJC2-Gen, welches für Connexin 47 kodiert. Gap Junctions aus Connexin-47-Proteinen werden
wie Gap Junctions aus Connexin 43 in den Lymphgefäßklappen etabliert. Beide sind für
die Signaltransduktion zwischen den Klappen-Endothelzellen und somit für die korrekte
Ausbildung der Klappen essenziell. Daher ist sowohl bei der GJA1-assoziierten okulo-dento-digitalen Dysplasie als auch beim GJC2-assoziierten 4-Extremitäten-Lymphödem davon auszugehen, dass eine Fehlbildung und
Funktionsstörung der Klappen besteht [5].
3. Genetische Diagnostik
Konnte ein Patient aufgrund seiner Klinik einer der 5 Kategorien zugeordnet werden,
erfolgt die Suche nach der zugrunde liegenden genetischen Veränderung im Rahmen einer
Stufendiagnostik. Grundsätzlich sind in der genetischen Diagnostik die Methoden der
konventionellen Zytogenetik (Chromosomenanalyse) von den molekularzytogenetischen
Methoden wie Array-CGH (Array-basierte Comparative Genom Hybridisierung) und FISH
(Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung) und der Molekulargenetik (Sequenzanalyse, MLPA:
für Englisch Multiplex Ligation-dependent Probe Amplification) zu unterscheiden. Bei
der postnatalen Suche nach Veränderungen der Keimbahn, die sämtliche Körperzellen
betreffen, wird typischerweise das Blut als Stellvertreterorgan untersucht. Dies betrifft
somit Erkrankungen der Kategorie B, während die Ursache bei Erkrankungen der Kategorie
A, denen somatische Mutationen zugrunde liegen, nur anhand einer Untersuchung im betroffenen
Gewebe geklärt werden kann ([Abb. 2]).
Abb. 2 Übersicht über mögliche diagnostische Verfahren in der Humangenetik bei Verdacht
auf Vorliegen eines primären Lymphödems. Durch zytogenetische Untersuchungen können
chromosomale Veränderungen wie Inversionen, Deletionen und Translokationen (Chromosomenanalyse)
sowie Mikrodeletionen und Mikroduplikationen (Array-CGH) festgestellt werden. Mit
den molekulargenetischen Untersuchungen können Veränderungen in einzelnen Genen untersucht
werden – entweder mittels Einzelgenanalyse oder mittels Next Generation Sequencing
(NGS), beispielsweise im Rahmen einer Paneldiagnostik, Exomdiagnostik oder Genomdiagnostik
(vorwiegend für Forschungszwecke).
3.1 Chromosomenanalyse und Array-CGH
Bei der konventionellen zytogenetischen Diagnostik, also der klassischen Chromosomenanalyse,
handelt es sich um eine lichtmikroskopische Analyse der Metaphase-Chromosomen aus
Lymphozyten. Für die Chromosomenanalyse können nur lebendige Zellen verwendet werden,
die zunächst kultiviert werden, um dann die Zellteilung in der Metaphase anzuhalten
und die kondensierten Chromosomen zu bändern. Geeignetes Material für diese Untersuchung
sind daher ca. 5–10 ml heparinisiertes Vollblut. Eine pränatale Diagnostik aus Amnion-,
Chorionzotten- oder fetalen Blutzellen ist ebenfalls möglich.
Anhand der Analyse von meist 20 Metaphasen können numerische (Aneuploidien) und strukturelle
Veränderungen der Chromosomen wie Inversionen, Deletionen und Translokationen entdeckt
werden. Der erhobene Befund wird sodann im Karyotyp zusammengefasst. Der unauffällige
Chromosomensatz des Menschen umfasst 46 Chromosomen: 22 Autosomenpaare (geschlechtsunabhängige
Chromosomen) und 2 Geschlechtschromosomen. Somit beschreibt der Karyotyp 46,XX einen
unauffälligen weiblichen und der Karyotyp 46,XY einen unauffälligen männlichen Chromosomensatz.
Mit dieser Untersuchung sind nur lichtmikroskopisch sichtbare Veränderungen an den
Chromosomen erfasst.
Kleinere strukturelle Aberrationen (Mikrodeletionen und Mikroduplikationen) können
zwar gezielt durch eine FISH auf den präparierten Metaphasen oder in Interphase-Kernen
abgeklärt werden, lassen sich aber mit der höher auflösenden Array-CGH genomweit darstellen.
Hierfür wird eine EDTA-Blutprobe (2–5 ml) des Patienten benötigt. Der Ausschluss gewebespezifischer
oder schwacher Mosaike ist aus methodischen Gründen prinzipiell nicht möglich. Veränderungen
an einzelnen Genen (Genmutationen) oder Kopie-neutrale Veränderungen sind mit dieser
Methode nicht nachweisbar. Sofern keine konkrete Verdachtsdiagnose vorliegt, stellen
die Chromosomenanalyse und Array-CGH in der Regel die ersten Schritte der genetischen
Diagnostik bei unklaren syndromalen Erkrankungen dar.
3.2 Molekulargenetische Diagnostik
Je nach Umfang der molekulargenetischen Diagnostik, für die ebenfalls EDTA-Blut verwendet
wird, unterscheiden wir zwischen einer oder mehreren Einzelgenanalysen oder der parallelen
Sequenzierung mehrerer Gene (Multi-Gen-Analyse, Paneldiagnostik), aller bekannten
Protein-kodierenden Gene (Exomsequenzierung) und der Gesamtgenomsequenzierung. Anhand
der Untersuchung der Gensequenzen können Punktmutationen, also Veränderungen einzelner
oder weniger benachbarter Basenpaare der DNA, detektiert werden.
Bei starkem klinischem Verdacht auf eine bestimmte Erkrankung (z. B. bei Vorliegen
charakteristischer klinischen Manifestation eines Distichiasis-Lymphödem-Syndroms)
kann gezielt das assoziierte Gen im Rahmen einer Einzelgen-Analyse sequenziert werden (in diesem Fall das FOXC2-Gen). Ergänzend können Kopienzahlveränderungen in einzelnen Genen mithilfe der MLPA
abgeklärt werden.
Mittels der inzwischen weit verbreiteten Hochdurchsatz-Sequenzierungstechnik (Next
Generation Sequencing, NGS) können mehrere Gene parallel sequenziert werden (Multi-Gen-Analyse, Paneldiagnostik). Die NGS-basierten Panelanalysen können wie die Einzelgen-Diagnostik im Rahmen der
Regeldiagnostik veranlasst werden und sind kassenärztliche Leistungen. Die umfangreichste
Paneldiagnostik stellt die sogenannte Exomsequenzierung dar, bei der die kodierenden Bereiche und flankierenden Intronbereiche aller bekannten
Protein-kodierenden menschlichen Gene erfasst werden. Bis vor kurzem war diese Analyse
nur im Rahmen von Forschungsprojekten möglich. Inzwischen kommt sie jedoch auch in
der Regelversorgung zum Einsatz, wobei dann aktuell nur bis zu 25kb der erhobenen
Sequenzen befundet und abgerechnet werden dürfen. Der große Vorteil der Exomdiagnostik
ist die umfassende Sequenzierung, sodass sie sich insbesondere für unklare syndromale
Erkrankungen mit Verdacht auf eine seltene Ursache eignet und dabei dennoch eine schnelle
Diagnosestellung ermöglicht. Die Exomsequenzierung bietet zudem die Möglichkeit, neue
Kandidatengene zu identifizieren, die mit der bestehenden Symptomatik bislang noch
nicht in Verbindung gebracht werden konnten. Insbesondere bei betroffenen Kindern
wird aktuell häufig eine sogenannte Trio-Exomsequenzierung durchgeführt, bei der neben dem betroffenen Kind auch beide gesunden Eltern sequenziert
werden, um so insbesondere De-novo-Mutationen effizient nachzuweisen oder bei vermutetem autosomal-rezessivem Erbgang
das biallelische Vererbungsmuster zu bestätigen. Krankheitsrelevante genetische Veränderungen
können jedoch auch in nichtkodierenden Genen und Abschnitten des Genoms lokalisiert
sein. Diese Bereiche werden selbst bei der Exomsequenzierung nicht erfasst. Die derzeit
umfassendste Stufe der Sequenzanalyse stellt nach aktuellem Wissensstand die Genomsequenzierung dar, die jedoch derzeit nur im Rahmen von Forschungsprojekten angeboten werden kann.
Die Herausforderung all dieser molekulargenetischen Methoden und damit auch der größte
Zeitaufwand begründet sich jedoch nicht in der Sequenzierung selbst, sondern in der
Bewertung der gefundenen Varianten, also der Vielzahl von Abweichungen von der Referenzsequenz,
die mit dem Umfang der Diagnostik ansteigt.