Schlüsselwörter
BtMVV - BtMVVÄndV - Evaluation - Opioidabhängigkeit - Opioidsubstitutionstherapie
- OST
Key words
NDPO - evaluation - opioid dependence - opioid substitution therapy - OST
Einleitung
Die Behandlung opioidabhängiger Menschen mit Substitutionsmedikamenten ist weltweit
die verbreitetste und effektivste Therapieoption der Opioidabhängigkeit [1]. Die Opioidsubstitutionstherapie (opioid substitution treatment – OST) zielt darauf
ab, Drogenbeschaffung sowie den illegalen Opioidkonsum zu unterbinden. Sie reduziert
die Mortalität, den Gebrauch von illegalen Substanzen sowie das HIV- und Hepatitis-C-Risikoverhalten
und wirkt sich positiv auf die soziale Stabilisierung und (Re-)Integration der PatientInnen
aus [2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]. Weiterhin entsteht durch eine OST eine enge ärztliche Anbindung und somit ein regelmäßiger
Zugang zur medizinischen Grundversorgung.
Die gesetzliche Grundlage für die Etablierung der Opioidsubstitution in Deutschland
als eine anerkannte und von den Krankenkassen finanzierte Behandlungsform wurde 1992
durch die Verankerung im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) gelegt. Während anfangs lediglich
Levomethadon als Substitutionsmedikament zur Verfügung stand, ermöglichen heute diverse
Wirkstoffe wie Levomethadon, Buprenorphin, retardiertes Morphin, Codein/Dihydrocodein
oder Diamorphin mit ihren spezifischen Wirkungs- und Nebenwirkungsprofilen eine stärker
individualisierte Substitutionsbehandlung von Opioidabhängigen
[8]
[9]
.
Da Anfang der 1990er-Jahre noch keine Leitlinien für die Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger
vorlagen, gaben die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) sowie die Richtlinien
über neue Untersuchungs-und Behandlungsmethoden (NUB-Richtlinien) die Therapieinhalte
und -ziele vor. Die Bundesärztekammer (BÄK) veröffentlichte erstmals 2002 eine Richtlinie
zur Substitutionsbehandlung, die in 2009/2010 überarbeitet und in 2017 letztmalig
novelliert wurde
[10]
[11].
In Deutschland befindet sich etwa die Hälfte aller opioidabhängigen Personen in einer
Substitutionsbehandlung. In 2019 wurden 78.700 substituierte Opioidabhängige von 2607
substituierenden ÄrztInnen behandelt
[8]
[12]. Die Anzahl der Substituierten wie auch die der Behandelnden war in den letzten
10 Jahren relativ konstant bzw. auf die substituierenden ÄrztInnen bezogen leicht
abnehmend. Dem Bericht zum Substitutionsregister des BfArM [8] ist zu entnehmen, dass v. a. in ländlichen Gebieten schon derzeit keine substituierenden
ÄrztInnen tätig sind [8]. Perspektivisch werden in naher Zukunft eine Vielzahl der Substituierenden altersbedingt
ihre Praxen aufgeben und grundsätzlich Probleme haben, NachfolgerInnen zu finden [13]
[14]. Zudem führten in einigen Bundesländern Verstöße gegen das Abstinenzziel oder die
Duldung des Konsums weiterer psychoaktiver Substanzen (‚Beikonsum‘) zu strafrechtlichen
Verfahren gegen substituierende ÄrztInnen, was die Gewinnung neuer ÄrztInnen für diese
Art der Behandlung von Opioidabhängigen zusätzlich erschwert hat [15].
Den Fortbestand und die Qualität der Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger in Deutschland
auch in Zukunft durch eine ausreichende Anzahl substituierender ÄrztInnen zu sichern,
war ein Hauptmotiv für den Beschluss der 3. Verordnung zur Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung
(3. BtMVVÄndV) im Mai 2017. Übergeordnete Ziele dieser Novellierung waren die Verbesserung
der Rechtssicherheit für substituierende ÄrztInnen und die Durchführung der Substitutionsbehandlung
entsprechend dem neuesten wissenschaftlichen Stand und praktischen Erfordernissen.
Erstmals werden die medizinisch-therapeutischen Aspekte der Substitutionsbehandlung
ausschließlich durch die Richtlinie der BÄK geregelt [16], während sich die BtMVV weitgehend auf die Verordnung der zugelassenen Substitutionsmedikamente
und Aspekte der Betäubungsmittel (BtM)-Sicherheit beschränkt [17]. In die Richtlinienkompetenz der BÄK wurden im Wesentlichen die Therapieziele, die
Voraussetzungen für die Einleitung und Fortführung einer Substitutionsbehandlung sowie
die Erstellung eines Therapiekonzepts überführt [16]
[18]. Mit der Veröffentlichung dieser Richtlinie im Bundesanzeiger trat die 3. BtMVVÄndV
am 02.10.2017 in Kraft.
Eine wichtige Änderung ist die Bewertung ärztlich-therapeutischer Sachverhalte durch
die Landesärztekammern (LÄK), was die bisherige Strafbewehrung von Verstößen gegen
die Therapieziele aufhebt. Die LÄK sind nun, wie bei anderen ärztlichen Tätigkeiten
auch, Ansprechpartner bei eventuellen Verstößen gegen die ärztlichen Berufspflichten
im Rahmen der Substitutionsbehandlung. Die Opioidabstinenz der PatientInnen als ein
Behandlungsziel (neben weiteren), soll ohne zeitliche Vorgaben angestrebt werden.
Für die Aufgabe von zeitlichen Vorgaben zur Erreichung einer Opioidabstinenz im Rahmen
der Substitutionsbehandlung liegt ausreichend Evidenz vor [3]
[19]
[20]. In der deutschen PREMOS-Studie konnten lediglich 8% der Teilnehmenden eine temporäre
und 4% eine stabile Opioidabstinenz innerhalb von 6 Jahren erreichen [6].
Bezüglich der Bewertung und Behandlung des Konsums weiterer psychotroper Substanzen
einschließlich Alkohol (‚Beikonsum‘) gibt die 3. BtMVVÄndV den BehandlerInnen die
therapeutische Freiheit, die Substitutionsbehandlung auch bei fortgesetztem Konsum
anderer psychotroper Substanzen weiterzuführen, wobei deren Reduktion als ein Therapieziel
verfolgt werden sollte. Es gilt aber nicht mehr, dass keine Substanzen gebraucht werden
dürfen, deren Konsum nach Art und Menge den Zweck der Substitution gefährden. Ein
Therapieabbruch oder eine Beendigung der Substitutionsbehandlung ohne alternative
Anschlussbehandlung sollte möglichst vermieden werden, unter anderem, da ein Abbruch
der Substitutionsbehandlung das Mortalitätsrisiko im Fall einer Wiederaufnahme des
Drogenkonsums aufgrund geringerer Opioidtoleranzen erhöht [20]
[21]
[22].
Eine psychosoziale Betreuung (PSB) soll den substituierten Opioidabhängigen weiterhin
regelhaft empfohlen werden, ist aber nicht mehr grundsätzlich erforderlich, um eine
Substitutionsbehandlung durchführen zu dürfen. Neuere Literaturübersichten kamen zu
dem Ergebnis, dass eine PSB keinen signifikanten Einfluss auf den Erfolg einer Substitutionsbehandlung
hat [7]
[23].
Die Möglichkeit, die Take-Home-Verordnung (von einer Apotheke ausgehändigte Substitutionsmittel
zur eigenverantwortlichen Einnahme zu Hause) von 7 auf bis zu 30 Tage sowie die Ausnahme
vom Sichtbezug (unmittelbare Substitutionsmitteleinnahme unter Aufsicht) von 2 auf
5 Tage auszudehnen, soll den substituierten PatientInnen mehr Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben ermöglichen und somit bspw. den (Wieder-)Einstieg in das Berufsleben erleichtern.
Eine weitere Änderung besteht darin, dass ÄrztInnen ohne eine suchtmedizinische Weiterbildung
anstatt wie bisher 3 nunmehr 10 PatientInnen unter Betreuung durch einen Konsiliarius
substituieren können. Während noch von Opiatabhängigen gesprochen wurde, wurde der
Terminus 2017 in Opioidabhängige geändert. Dies eröffnet die Möglichkeit, alle Opioidabhängigen
zu substituieren, also auch Menschen, die von ärztlich verschriebenen (halb-)synthetischen
Opioiden wie bspw. Fentanyl, Tramadol oder Tilidin abhängig geworden sind [24]. Die Voraussetzung für eine Substitutionsbehandlung ist die missbräuchliche Verwendung
der Opioide. Eine Opioidabhängigkeit als Nebenwirkung einer regulären Behandlung mit
Opioiden, z. B. im Rahmen von Schmerzbehandlungen, sollte dagegen in erster Linie
durch Reduktion oder schrittweisen Entzug der Opioide behandelt werden.
Im Juni 2018 hat die Gesundheitsministerkonferenz der Länder einstimmig die Evaluation
der Neuregelung zur substitutionsgestützten Behandlung opioidabhängiger Menschen beschlossen
[25]. Das vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS)
ausgearbeitete Evaluationskonzept umfasst modular aufgebaute quantitative und qualitative
Erhebungsstrategien sowie Sekundärdatenanalysen über einen Zeitraum von 3 Jahren.
Hierbei werden mögliche Effekte aus Sicht von PatientInnen sowie VersorgerInnen (ÄrztInnen,
ApothekerInnen) untersucht. In diesem Artikel werden die Ergebnisse der ersten bundesweit
durchgeführten Befragung von substituierenden ÄrztInnen vorgestellt. Im Mittelpunkt
stehen dabei die Darstellung der Charakteristika der substituierenden ÄrztInnen unter
besonderer Berücksichtigung des Alters und Art der Durchführung der Substitution (mit
oder ohne suchtmedizinische Weiterbildung), die Bewertung und praktische Umsetzung
der neuen Richtlinien zur Substitution sowie die Analyse versorgungsrelevanter Unterschiede
zwischen städtischen und ländlichen Gebieten.
Methodik
Studiendesign
Die Befragung fand als Teilprojekt im Rahmen der Evaluation der 3. Verordnung zur
Änderung der BtMVV vom 22.05.2017 („Substitutions-Novelle“) – EVASUNO im Zeitraum
von August bis Dezember 2019 statt. Von der Bundesopiumstelle des BfArM wurden deutschlandweit
alle substituierenden ÄrztInnen (Stichtag 12.08.2018) angeschrieben und um die Beantwortung
eines Fragebogens gebeten. Darüber hinaus erfolgte über den Zugangsweg der regionalen
Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) eine Befragung von nicht oder schon länger nicht
mehr substituierenden ÄrztInnen in den durch das Evaluationsprojekt definierten Modellregionen
Hamburg, Bayern, Nordrhein-Westfalen (Westfalen-Lippe, Nordrhein) sowie Sachsen. Die
hierfür angeschriebenen ÄrztInnen hatten in der Vergangenheit eine Substitutionsgenehmigung
erhalten. Es handelte sich bei beiden Vorgehensweisen um anonyme Befragungen, die
aggregiert ausgewertet wurden. Der zuständigen Ethikkommission der Landesärztekammer
Hamburg wurde das Projektvorhaben zur Begutachtung vorgelegt. Das Vorgehen wurde als
nicht ethikrelevant eingestuft.
Die Bundesopiumstelle sowie die KVen der vier Modellregionen erhielten vorfrankierte
Briefumschläge mit einem jeweils angepassten Anschreiben, dem Fragebogen und einem
Rückumschlag. Die zuvor frankierten und verschlossenen Umschläge wurden von der Bundesopiumstelle
und den KVen mit Adressaufklebern versehen und verschickt. Alle ÄrztInnen hatten darüber
hinaus die Möglichkeit, den jeweiligen Fragebogen auch webbasiert, über die Online-Umfrage-Applikation
LimeSurvey, zu beantworten.
Parallel zu dieser Befragung wurden alle KVen in Deutschland gebeten, einen Kurzfragebogen
u. a. zum Alter der substituierenden ÄrztInnen zu beantworten.
Erhebungsinstrument
Der Fragebogen wurde in Kooperation mit substituierenden ÄrztInnen und dem für Substitutionsfragen
zuständigen Bereichsleiter der BÄK entwickelt. Daraufhin erfolgte eine Pilotisierung
mit dem Studienteam bekannten substituierenden ÄrztInnen, die zu einer leichten Überarbeitung
des Fragebogens führte. Die Inhalte der Befragung bezogen sich auf strukturelle Merkmale
( z. B. ärztliches Fachgebiet, Qualifikation zur Substitution, Anzahl Substituierter,
Art der Praxis) sowie auf die in der 3. BtMVVÄndV beschlossenen Neuerungen. Die Änderungen
der 3. BtMVVÄndV sollten hinsichtlich der Relevanz für die eigene Substitutionsbehandlung
kategorial beurteilt werden. Hierfür wurden die Änderungen vorgegeben:
-
Größere Rechtssicherheit durch Bewertung ärztlich-therapeutischer Sachverhalte durch
die Landesärztekammern.
-
Substitution von PatientInnen mit (ausschließlicher) Abhängigkeit von synthetischen
Opioiden möglich.
-
Keine zeitlichen Vorgaben für das Erreichen einer Opioidabstinenz.
-
Neue Bewertung des Umgangs mit dem Konsum weiterer psychotroper Substanzen (‚Beikonsum‘).
-
Konsiliarbehandlung von 10 PatientInnen möglich.
-
Ausnahme vom Sichtbezug auf 5 Tage ausgedehnt.
-
Take-Home-Verordnung auf 30 Tage ausgedehnt.
-
Herausnahme der Erforderlichkeit psychosozialer Betreuungsmaßnahmen.
Stichprobe
Über die Bundesopiumstelle wurden 2.503 ÄrztInnen (Rücklaufquote: 34,1%) und über
die KVen 563 ÄrztInnen (Rücklaufquote: 22,2%) angeschrieben. Lediglich 11 StudienteilnehmerInnen
nutzten die webbasierte Antwortmöglichkeit. Für die Überprüfung der Repräsentativität
der erhaltenen Fragebögen wurde die Teilnahmequote der substituierenden ÄrztInnen
pro Bundesland der Quote der durch die Bundesopiumstelle versendeten Fragebögen pro
Bundesland gegenübergestellt. Insgesamt 16 der bundesweit 17 Landes-KVen nahmen an
der Befragung teil. 12 KVen übermittelten in anonymer Form aktuelle Altersangaben
ihrer insgesamt 1629 substituierenden ÄrztInnen. Diese Angaben wurden ebenfalls für
die Abschätzung der Repräsentativität der Befragung verwendet.
Auswertung
Die Auswertungen erfolgten quantitativ mithilfe des Statistikprogramms IBM® SPSS® Statistics 22 (IBM Corporation 2013). Die regionale Zuordnung der Praxiseinrichtungen
nach städtischen und ländlichen Bereichen, den Kreisregionen der Bundesrepublik Deutschland,
erfolgte anhand der ersten 3 Ziffern der Postleitzahl der jeweiligen Einrichtungen
[26]. Kreisregionen werden vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
in siedlungsstrukturelle Kreistypen unterteilt. Auf diese Weise können 4 siedlungsstrukturelle
Kreistypen unterschieden werden: kreisfreie Großstädte, städtische Kreise, ländliche
Kreise mit Verdichtungsansätzen sowie dünn besiedelte ländliche Kreise. Diese Einordnung
berücksichtigt, dass die Lebensbedingungen der Kreise sowie ihre Veränderungen von
der Entwicklung sowie Struktur der jeweiligen Region, vielmehr des Regionstyps abhängig
sind [27]. In einigen Fällen war es aufgrund identischer Postleitzahlziffern der ersten 3
Stellen nicht möglich, eine eindeutige Zuordnung zu einem Kreistypen vorzunehmen.
Für weitergehende Analysen wurden die beiden Kreistypen ‚ländlicher Kreis mit Verdichtungsansätzen‘
und ‚dünn besiedelter ländlicher Kreis‘ zu dem Kreis ‚ländlicher Kreis‘ zusammengefasst.
Ergebnisse
Regionale Repräsentativität
Der Auflistung der Bundesopiumstelle war zu entnehmen, wie viel Prozent der insgesamt
verschickten 2503 Fragebögen an substituierende ÄrztInnen in den unterschiedlichen
Bundesländern verschickt wurden. So wurden z. B. 28,2% der 2.503 Fragebögen an BehandlerInnen
in Nordrhein-Westfalen versandt, verglichen mit 1,7% an BehandlerInnen in Sachsen.
Dementsprechend war es möglich, die Teilnahmequoten an der Befragung pro Bundesland
mit den Quoten der tatsächlich versandten Fragebögen zu vergleichen. Es zeigte sich
eine nahezu identische Verteilung der verschickten Fragebögen und der Teilnahmequoten
pro Bundesland. Kein Bundesland ist deutlich über- oder unterrepräsentiert, so dass
Auswertungen für die einzelnen Bundesländer erfolgen konnten.
ÄrztInnen mit einer suchtmedizinischen Qualifikation sind in dieser Umfrage mit 86,3%
überrepräsentiert im Vergleich zu 78,2% laut dem Bericht zum Substitutionsregister
für das Jahr 2019 [8]. ÄrztInnen die 3 oder weniger PatientInnen substituieren, sind in der vorliegenden
Erhebung im Vergleich zum selben Bericht zum Substitutionsregister unterrepräsentiert
(15 vs. 27%) und diejenigen, die mehr als 50 PatientInnen substituieren überrepräsentiert
(31 vs. 23%). Die Repräsentativität der über die KVen angeschriebenen ÄrztInnen kann
nicht überprüft werden. Die Repräsentativität der Befragung kann, wenn auch eingeschränkt,
zusätzlich an den Altersangaben der KVen überprüft werden. 12 KV-Bezirke übermittelten
in anonymer Form aktuelle Altersangaben ihrer insgesamt 1629 substituierenden ÄrztInnen.
Die ÄrztInnen waren im Mittel 58,6 (SD=8,9) Jahre alt. In unserer Stichprobe lag der
Altersmittelwert der ÄrztInnen aus den entsprechenden 12 KV-Bezirken bei 58,2 (SD=8,7)
Jahren.
Aktuell substituierende Ärztinnen und Ärzte
Von den 833 aktuell substituierenden ÄrztInnen waren knapp zwei Drittel männlich.
Das Durchschnittsalter der Befragten betrug 57,9 Jahre (Spannweite: 30–80), 19,1%
waren über 65 Jahre alt. Mehrheitlich wurde als ärztliches Fachgebiet Allgemeinmedizin
und/oder Innere Medizin angegeben. Die allermeisten arbeiteten als niedergelassene
ÄrztInnen, entweder in einer eigenen Praxis und dort überwiegend alleine oder in einer
Gemeinschaftspraxis, Praxisgemeinschaft oder einem medizinischen Versorgungszentrum
(MVZ) mit substituierenden KollegInnen ([Tab. 1]). Von denen in anderen Einrichtungsformen Tätigen arbeiteten 44 in Justizvollzugsanstalten.
Drei Viertel der Befragten waren in städtischen Gebieten tätig. Die durchschnittliche
Anzahl substituierter PatientInnen lag bei 46,4 (Spannweite: 1–550). Die meisten Befragten
gaben an, dass die Anzahl von ihnen Substituierter im Vergleich zum Vorjahr stabil
geblieben war. Die am häufigsten eingesetzten Substitutionsmedikamente waren Levomethadon,
Buprenorphin, razemisches Methadon und retardiertes Morphin ([Tab. 1]).
Tab. 1 Charakteristika der substituierenden ÄrztInnen mit und ohne suchtmedizinische Weiterbildung
|
Substituierende ÄrztInnen
|
Gesamt (N=827)
|
Statistik Chi2-Test #T-Test
|
mit suchtmed. Weiterbildung (N=714)
|
ohne suchtmed. Weiterbildung (N=113)
|
Alter in Jahren (M, SD) (N=809)
|
58,0 (8,8)
|
57,2 (8,1)
|
57,9 (8,7)
|
p=0,368#
|
Geschlecht (N=808)
|
|
|
|
|
männlich
|
444 (63,6%)
|
77 (70,0%)
|
521 (64,5%)
|
|
weiblich
|
254 (36,4%)
|
33 (30,0%)
|
287 (35,5%)
|
p<0,193
|
Siedlungsstrukturelle Kreistypen (N=627)
|
|
|
|
|
Kreisfreie Großstädte
|
225 (41,1%)
|
9 (11,3%)
|
234 (37,3%)
|
|
Städtische Kreise
|
185 (33,8%)
|
34 (42,5%)
|
219 (34,9%)
|
|
Ländliche Kreise
|
137 (25,0%)
|
37 (46,3%)
|
174 (27,8%)
|
p<0,001
|
Fachgebiet (N=822)
|
|
|
|
|
Allgemeinmedizin
|
434 (61,2%)
|
80 (70,8%)
|
514 (62,5%)
|
|
Innere Medizin
|
85 (12,0%)
|
22 (19,5%)
|
107 (13,0%)
|
|
Psychiatrie/Neurologie
|
140 (19,7%)
|
6 (5,3%)*
|
146 (17,8%)
|
|
Anderes Fachgebiet
|
50 (7,1%)
|
5 (4,4%)
|
55 (6,7%)
|
p<0,001
|
Arbeitsstruktur (N=808)
|
|
|
|
|
Einzelpraxis
|
259 (37,2%)
|
64 (57,7%)
|
323 (40,0%)
|
|
Gemeinschaftspraxis, Praxisgemeinschaft, MVZ
|
258 (37,0%)
|
37 (33,3%)
|
295 (36,5%)
|
|
Substitutionsambulanz
|
77 (11,0%)
|
0
|
77 (9,5%)
|
|
Psychiatrische Institutsambulanz
|
39 (5,6%)
|
1 (0,9%)
|
40 (5,0%)
|
|
Andere Versorgungseinrichtung ( z. B. JVA, Gesundheitsamt)
|
64 (9,2%)
|
9 (8,1%)
|
73 (9,0%)
|
p<0,001
|
Jahre in Substitution tätig (M, SD) (N=818)
|
15,3 (8,9)
|
8,6 (7,2)
|
14,4 (9,0)
|
p<0,001#
|
Alter bei Beginn der Substitution (M, SD) (N=802)
|
42,8 (7,3)
|
48,8 (8,0)
|
43,6 (7,7)
|
p<0,001#
|
PatientInnenanzahl (M, SD) (1. Quartal 2019) (N=814)
|
53,2 (54,2)
|
3,5 (3,4)
|
46,4 (53,1)
|
p<0,001#
|
Substitutionsmittel (Mehrfachangaben)
|
|
|
|
|
Levomethadon
|
648 (91,3%)
|
67 (59,8%)
|
715 (87,0%)
|
p<0,001
|
Buprenorphin
|
626 (88,0%)
|
61 (54,5%)
|
687 (83,5%)
|
p<0,001
|
Razemisches Methadon
|
544 (76,5%)
|
39 (34,8%)
|
583 (70,8%)
|
p<0,001
|
Retardiertes Morphin
|
260 (36,6%)
|
6 (5,4%)
|
266 (32,3%)
|
p<0,001
|
Buprenorphin-Depot
|
78 (11,0%)
|
3 (2,7%)
|
81 (9,8%)
|
p=0,006
|
Codein/Dihydrocodein
|
40 (5,6%)
|
2 (1,8%)
|
42 (5,1%)
|
p=0,086
|
Durchschnittliche Anzahl unterschiedlicher Substitutionsmittel (M, SD) (N=827)
|
|
|
|
|
Änderung der Anzahl Substituierter im Vergleich zum Vorjahr (N=822)
|
3,1 (1,1)
|
1,6 (0,7)
|
2,9 (1,2)
|
p<0,001#
|
Verringert
|
77 (10,8%)
|
6 (5,4%)
|
83 (10,1%)
|
p=0,196
|
In etwa gleich geblieben
|
472 (66,4%)
|
80 (72,1%)
|
552 (67,2%)
|
|
Erhöht
|
162 (22,8%)
|
25 (22,5%)
|
187 (22,7%)
|
|
*Die Antwortkategorie ‚Psychiatrie/Neurologie‘ wurde nicht getrennt abgefragt. Da
die Inhalte der Zusatzweiterbildung Suchtmedizinische Grundversorgung nicht immer
integraler Bestandteil der Facharztweiterbildung Psychiatrie und Psychotherapie waren,
ist es möglich, dass diese Personen ihre suchtmedizinische Grundausbildung nicht automatisch
erworben haben oder es sich um FachärztInnen für Neurologie handelt.
Von den befragten ÄrztInnen verfügten 714 (86,3%) über eine suchtmedizinische Zusatzqualifikation
(Weiterbildung in suchtmedizinischer Grundversorgung [N=650] oder Fachkunde Sucht
[N=64]). Der Vergleich von ÄrztInnen mit und ohne suchtmedizinische Zusatzqualifikation
zeigte einige bedeutsame Unterschiede ([Tab. 1]). ÄrztInnen ohne suchtmedizinische Weiterbildung substituierten (bei vergleichbarem
Durchschnittsalter) seit deutlich kürzerer Zeit, waren somit bei Beginn ihrer Substitutionstätigkeit
älter, häufiger FachärztInnen für Allgemeinmedizin und/oder Innere Medizin und praktizierten
seltener in kreisfreien Großstädten als jene mit suchtmedizinischer Weiterbildung.
Von den 113 ÄrztInnen, die unter der Konsiliarregelung tätig waren, nutzten bisher
lediglich 6 (5,4%) die Möglichkeit, ihre PatientInnenzahl auf maximal 10 zu erhöhen,
während 73 (65,2%) ÄrztInnen weiterhin 1 bis 3 PatientInnen substituierten; die restlichen
29,4% substituierten zwischen 4 und 9 PatientInnen.
22 der 855 ÄrztInnen mit einer Substitutionsgenehmigung gaben an, aktuell nicht zu
substituieren. Diese waren im Durchschnitt 58,3 Jahre alt (Spannweite: 37 bis 74)
und 23,8% waren weiblich. In der Mehrzahl (63,6%) verfügten sie über keine suchtmedizinische
Zusatzqualifikation und substituierten vormals im Rahmen der Konsiliarregelung. Eine
fachärztliche Ausbildung für Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie besaßen 31,8%.
Alter
Der Vergleich mit den Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)[1] zeigte, dass die substituierenden AllgemeinärztInnen/InternistInnen in der Altersklasse
ab 60 Jahre überrepräsentiert und in der Altersklasse von 49 Jahre und jünger unterrepräsentiert
waren [28] ([Abb. 1]).
Abb. 1 Vergleich der Altersangaben der befragten substituierenden AllgemeinärztInnen/InternistInnen
in eigenen Praxen, Praxisgemeinschaften oder Gemeinschaftspraxen mit denen aller niedergelassenen
HausärztInnen nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Alterskategorien
entsprechend der KBV-Statistik.
Beurteilung der Änderungen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung von städtischen
und ländlichen Regionen im Vergleich
Signifikante Unterschiede zwischen ÄrztInnen in städtischen und ländlichen Regionen
bezogen sich auf die durchschnittliche Anzahl der von ihnen substituierten PatientInnen
im 1. Quartal 2019 (kreisfreie Großstadt: 63,9; städtischer Kreis: 40,3; ländlicher
Kreis: 36,7; F=16,58, p<0,001) sowie auf den suchtmedizinischen Weiterbildungsstatus
(kreisfreie Großstadt: 96,2%; städtischer Kreis: 84,5%; ländlicher Kreis: 78,7%; Chi2=29,51, p<0,001).
Die [Tab. 2] zeigt die Bewertung der Änderungen der BtMVV sowie damit zusammenhängende relevante
Ergebnisse bezogen auf die PSB und Versorgungsstrukturen. Mehr als drei Viertel der
befragten substituierenden ÄrztInnen fühlten sich über die Änderungen der BtMVV ausreichend
informiert, deutlich mehr in den kreisfreien Großstädten. Während sich ÄrztInnen mit
einer suchtmedizinischen Weiterbildung zu 81,3% ausreichend informiert fühlten, waren
es ohne suchtmedizinische Weiterbildung lediglich 54,9% (Chi2=39,3, p<0,001). Keine zeitliche Vorgabe für das Erreichen einer Opioidabstinenz,
die neue Bewertung des Konsums weiterer psychotroper Substanzen einschließlich Alkohol
(‚Beikonsum‘), die Möglichkeit, die Take-Home-Verordnung auf 30 Tage auszudehnen sowie
die größere Rechtssicherheit wurden am relevantesten eingeschätzt. Etwas über ein
Drittel der Befragten sah die Versorgung substituierter PatientInnen weder aktuell
noch zukünftig gesichert. In den ländlichen und städtischen Kreisen war die Einschätzung
negativer als in den kreisfreien Großstädten.
Tab. 2 Bewertung der Änderungen der BtMVV durch befragte substituierende ÄrztInnen und relevante
Parameter der Versorgung substituierter PatientInnen nach Kreistypen.
|
Kreisfreie Großstadt N=234
|
Städtischer Kreis N=220
|
Ländlicher Kreis N=174
|
Gesamt N=628
|
Statistik Chi2-Test
|
Ausreichende Information über Änderungen der BtMVV vorhanden (N=620)
|
|
|
|
|
|
Ja
|
198 (85,3%)
|
162 (75,3%)
|
128 (74,0%)
|
488 (78,7%)
|
p=0,007
|
Nein
|
34 (14,7%)
|
53 (24,7%)
|
45 (26,0%)
|
132 (21,3%)
|
|
Relevante Änderungen (Mehrfachangaben)
|
|
|
|
|
|
Keine zeitliche Vorgabe für das Erreichen einer Opioidabstinenz
|
198 (86,8%)
|
182 (84,3%)
|
143 (84,6%)
|
523 (85,3%)
|
p=0,711
|
Neue Bewertung Beikonsum*
|
175 (76,8%)
|
144 (66,7%)
|
116 (68,6%)
|
435 (71,0%)
|
p=0,048
|
Take-Home-Verordnung: max. 30 Tage
|
155 (68,0%)
|
158 (73,1%)
|
116 (68,6%)
|
429 (70,0%)
|
p=0,447
|
Größere Rechtssicherheit
|
163 (71,8%)
|
136 (63,0%)
|
106 (62,7%)
|
405 (66,2%)
|
p=0,078
|
Herausnahme der Erforderlichkeit von PSB
|
122 (53,5%)
|
88 (40,7%)
|
68 (40,2%)
|
278 (45,4%)
|
p=0,008
|
Ausnahme vom Sichtbezug: 5 Tage
|
63 (27,6%)
|
76 (35,2%)
|
61 (36,1%)
|
200 (32,6%)
|
p=0,125
|
Substitution von PatientInnen mit primärer Abhängigkeit von synthetischen Opioiden
|
74 (32,5%)
|
48 (22,2%)
|
54 (32,0%)
|
176 (28,7%)
|
p=0,032
|
Konsiliarbehandlung max.10 PatientInnen
|
21 (9,2%)
|
31 (14,4%)
|
39 (23,1%)
|
91 (14,8%)
|
p=0,001
|
Änderung der eigenen Arbeit durch die Reform (N=623)
|
|
|
|
|
|
Eher positiv
|
124 (53,0%)
|
104 (48,4%)
|
69 (39,7%)
|
297 (47,7%)
|
|
Eher negativ
|
6 (2,6%)
|
5 (2,3%)
|
3 (1,7%)
|
14 (2,2%)
|
p=0,207
|
Nicht verändert
|
71 (30,3%)
|
70 (32,6%)
|
71 (40,8%)
|
212 (34,0%)
|
|
Noch nicht beurteilbar
|
33 (14,1%)
|
36 (16,7%)
|
31 (17,8%)
|
100 (16,1%)
|
|
Versorgung substituierter PatientInnen im Umfeld gesichert (N=610)
|
|
|
|
|
|
Aktuell und in der Zukunft gesichert
|
77 (33,8%)
|
50 (23,1%)
|
29 (17,5%)
|
156 (25,6%)
|
|
Aktuell gesichert, aber innerhalb der nächsten 5 Jahre gefährdet
|
100 (43,9%)
|
86 (39,8%)
|
44 (26,5%)
|
230 (37,7%)
|
|
Weder aktuell noch zukünftig gesichert
|
51 (22,4%)
|
80 (37,0%)
|
93 (56,0%)
|
224 (36,7%)
|
p<0,001
|
Entfernung zur nächsten substituierenden Einrichtung (N=625)
|
|
|
|
|
|
In der Nähe, im Umkreis von ca. 5 km
|
198 (84,6%)
|
108 (49,8%)
|
48 (27,6%)
|
354 (56,6%)
|
p<0,001
|
Ca. über 5 bis 15 km entfernt
|
31 (13,2%)
|
59 (27,2%)
|
30 (17,2%)
|
120 (19,2%)
|
|
Ca. über 15 bis 30 km entfernt
|
2 (0,9%)
|
44 (20,3%)
|
46 (26,4%)
|
92 (14,7%)
|
|
Über 30 km entfernt
|
3 (1,3%)
|
6 (2,8%)
|
50 (28,7%)
|
59 (9,4%)
|
|
Die Mehrheit der subsituierenden Einrichtungen/Praxen befand sich nicht weiter als
5 km voneinander entfernt, was vornehmlich auf großstädtische Regionen zutrifft. Lediglich
9,4% der Befragten berichteten Entfernungen von mehr als 30 km. In den ländlichen
Kreisen waren die Entfernungen zwischen den substituierenden Einrichtungen signifikant
größer. Die ÄrztInnen wurden gefragt, wie viele ihrer PatientInnen eine PSB benötigen
und wie viele diese tatsächlich in Anspruch nehmen. Ein ausgeglichenes Verhältnis
gaben 41,7% der Befragten an, während 33,7% einen höheren Bedarf an PSB-Plätzen hatten.
Demgegenüber berichteten 24,6%, dass sie eigentlich weniger PSB-Plätze benötigen,
als zum Zeitpunkt der Befragung vorhanden waren. Dieses Verhältnis zeigte sich mehr
oder weniger in allen Kreistypen. Bezüglich der vereinfachten Möglichkeit, bspw. auch
in Pflegeeinrichtungen substituieren zu können, zeigten sich hingegen Unterschiede
zwischen den Kreistypen. Die Überlegungen, die Substitutionsbehandlung durch die Entstehung
weiterer Substitutionsambulanzen oder Abteilungen in psychiatrischen Kliniken sowie
durch eine verstärkte Einbindung von FachärztInnen für Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie
zu sichern, wurde je nach Kreistyp ebenfalls uneinheitlich bewertet.
Keine Unterschiede zwischen den Kreistypen fanden sich hinsichtlich des Alters der
substituierenden ÄrztInnen, ihres Geschlechts sowie ihrer fachärztlichen Qualifikation.
Ebenso zeigten sich keine Unterschiede in Bezug auf die Änderung der Anzahl Substituierter
im Vergleich zum Vorjahr sowie der Anzahl der Jahre, welche die ÄrztInnen bereits
Substitutionsbehandlungen durchführten.
Mögliche Beendigung der Substitutionstätigkeit und Bedingungen für die eigenständige Durchführung
der Substitutionsbehandlung
42,8% der befragten substituierenden ÄrztInnen gaben an, noch nie eine Beendigung
ihrer Substitutionstätigkeit in Betracht gezogen zu haben. Als Hauptmotive für eine
mögliche Aufgabe der Substitutionsbehandlung wurden Altersgründe, ein (zu) hoher bürokratischer
Aufwand und Beweggründe, welche die eigene Praxisorganisation betreffen genannt ([Tab. 3]). Lediglich 7% gaben finanzielle Gründe an. Zwischen den ÄrztInnen mit und ohne
suchtmedizinische Weiterbildung fanden sich keine signifikanten Unterschiede. Für
die meisten ÄrztInnen, die unter der Konsiliarregelung tätig waren, ist die Substitutionsbehandlung
ein randständiger Bereich ihrer ärztlichen Tätigkeit. 35,9% konnten sich vorstellen,
zukünftig eine suchtmedizinische Zusatzweiterbildung zu absolvieren und eigenständig
zu substituieren.
Tab. 3 Von substituierenden ÄrztInnen genannte Gründe für eine mögliche Beendigung der Substitutionstätigkeit
und Bedingungen für eine eigenständige Durchführung der Substitutionsbehandlung von
ÄrztInnen, die unter Konsiliarregelung tätig waren.
Substituierende ÄrztInnen (gesamt)
|
N (%)
|
Gründe, aus denen eine Beendigung der Substitutionstätigkeit überlegt wurde (Mehrfachangaben)
|
|
Fortgeschrittenes Alter
|
218 (26,8%)
|
Zu hoher Aufwand/zu bürokratisch
|
194 (23,9%)
|
Praxisorganisation
|
127 (15,7%)
|
Finanzielle Gründe
|
57 (7,0%)
|
Andere, z. B. Rechtsunsicherheit, juristische Ermittlungen, Einbrüche, Diebstähle,
aggressive PatientInnen
|
85 (10,5%)
|
ÄrztInnen, die unter Konsiliarregelung tätig waren (Mehrfachangaben)
|
|
Gründe, warum eine Substitutionstätigkeit nur unter Konsiliarregelung durchgeführt
wurde
|
|
Substitution soll kein Schwerpunkt werden
|
82 (77,4%)
|
Substitution nur, weil PatientInnen sonst nicht versorgt wären
|
52 (50,0%)
|
Nicht genügend Kapazitäten, um eigenständig zu substituieren
|
24 (23,1%)
|
Tätig vorwiegend als Urlaubsvertretung oder aus kollegialen Gründen
|
4 (3,8%)
|
Bedingungen, um zukünftig selbstständig zu substituieren (Mehrfachangaben)
|
|
Eigene Praxisorganisation müsste verändert werden
|
49 (53,8%)
|
Eigene Fortbildung müsste erfolgen
|
44 (48,4%)
|
Substitutionsbehandlung müsste stärker von Regularien befreit werden
|
35 (38,0%)
|
Netzwerk von ärztlichen KollegInnen
|
26 (28,6%)
|
Substitutionsbehandlung müsste angemessenerer honoriert werden
|
26 (28,3%)
|
Ärztinnen und Ärzte, die nicht oder nicht mehr substituieren
Von den 125 nicht substituierenden ÄrztInnen aus den 4 Modellregionen, die über eine
Zulassung zur Substitution verfügten, waren 72,0% männlich und der Altersdurchschnitt
lag bei 57,9 Jahren (SD=9,5). Lediglich 56,8% verfügten über eine suchtmedizinische
Zusatzqualifikation. 81,5% hatten in der Vergangenheit schon einmal Substitutionsbehandlungen
durchgeführt. Über die Hälfte dieser ÄrztInnen gab die Substitutionstätigkeit aufgrund
eines zu hohen zeitlichen sowie Dokumentationsaufwands auf. Gut ein Drittel meinte,
Substituierte würden nicht mit den anderen PatientInnen der Praxis harmonieren ([Tab. 4]). Für jeweils knapp die Hälfte der ÄrztInnen wären Voraussetzungen für die Aufnahme
einer Substitutionstätigkeit, dass diese angemessener honoriert und noch mehr von
bestehenden Regularien befreit werden müsste.
Tab. 4 Gründe für die Beendigung und Voraussetzungen für die (Wieder-)Aufnahme der Substitutionstätigkeit
bei nicht substituierenden ÄrztInnen.
ÄrztInnen, die nicht oder nicht mehr substituierten (N=124)
|
N (%)
|
Gründe für Aufgabe der Substitution (N=101) (Mehrfachangaben)
|
|
Substitutionsbehandlung ist zu aufwendig (Zeit, Dokumentation)
|
50 (53,8%)
|
SubstitutionspatientInnen harmonieren nicht mit anderen PatientInnen
|
33 (35,5%)
|
Substitutionsbehandlung ist rechtlich zu unsicher
|
29 (31,2%)
|
Substitutionsbehandlung wird nicht ausreichend honoriert
|
28 (30,1%)
|
Organisatorisch nicht mehr möglich
|
27 (29,0%)
|
Nicht genügend eigene Kapazitäten
|
18 (19,4%)
|
Altersgründe/Aufgabe der Praxis
|
6 (6,5%)
|
Anderes
|
41 (44,1%)
|
Wenn noch niemals substituiert, ist die Aufnahme der Substitution vorstellbar? (N=23) (Mehrfachangaben)
|
Grundsätzlich vorstellbar
|
4 (17,4%)
|
Nur PatientInnen mit Opioidanalgetika-Abhängigkeit (nicht Heroin)
|
3 (13,0%)
|
Wenn PatientInnen nicht anderweitig versorgt werden können
|
2 (8,7%)
|
Hat sich bisher noch nicht ergeben
|
2 (8,7%)
|
Nur vorübergehend bzw. in Vertretung
|
3 (13,0%)
|
Was müsste sich verändern, damit Substitutionstätigkeit aufgenommen würde? (N=104)
(Mehrfachangaben)
|
Angemesseneres Honorar
|
51 (49,0%)
|
Weniger Regularien
|
51 (49,0%)
|
Änderung der eigenen Praxisorganisation (und ggf. Struktur)
|
50 (48,1%)
|
Netzwerkbildung aus weiteren ärztlichen KollegInnen
|
32 (30,8%)
|
Kontinuierliche Konsultationsmöglichkeit einer/s erfahrenen SuchtmedizinerIn oder
eine Fachambulanz
|
31 (29,8%)
|
Mehr eigene Fortbildung
|
22 (21,2%)
|
Interessierte KollegIn in der Praxis
|
11 (10,6%)
|
Diskussion und Schlussfolgerungen
Diskussion und Schlussfolgerungen
Das Ziel dieser Untersuchung war es, substituierende und nicht (mehr) substituierende
ÄrztInnen zu ihrer Bewertung der Veränderungen der 3. BtMVVÄndV, die zum Befragungszeitpunkt
seit etwa 2 Jahren in Kraft war, sowie deren Relevanz für die praktische Arbeit zu
befragen.
Die Informationen zu den Änderungen der BtMVV wurden über ÄK und KVen, Verbände und
Gesellschaften, über Materialien der Substitutionsmittelhersteller aber auch unter
den ÄrztInnen gut verbreitet. Trotz regionaler Unterschiede fühlt sich die große Mehrheit
der befragten StudienteilnehmerInnen ausreichend gut über die Änderung der BtMVV informiert.
Dass sich substituierende ÄrztInnen in kreisfreien Großstädten insgesamt besser informiert
fühlten, lässt sich mit den höheren Anteilen an ÄrztInnen mit suchtmedizinischer Weiterbildung
und einer ggf. besseren Vernetzung aufgrund einer höheren Praxisdichte in kreisfreien
Großstädten erklären.
Die Aufgabe einer zeitlichen Vorgabe für das Erreichen einer Opioidabstinenz war für
die substituierenden ÄrztInnen mit Abstand die bedeutendste Änderung der BtMVV, gefolgt
von den Neuerungen im Umgang mit Beikonsum, der Ausweitung der Take-Home-Verordnungen
und der grundsätzlich größeren Rechtssicherheit. Diese Neuerungen scheinen für die
substituierende Ärzteschaft von besonderer Bedeutung, da Verstöße v. a. bei der Fortführung
der Substitution bei nachgewiesenem Konsum weiterer psychotroper Substanzen einschließlich
Alkohol (‚Beikonsum‘) in der Vergangenheit zu Gerichtsverfahren und Verurteilungen
zu Geldstrafen bis hin zum Entzug der Approbation geführt hatten [29]. Die Substitutionsbehandlung hat sich zu einer langjährigen und oft lebenslangen
Therapie entwickelt, die nur ein geringer Prozentsatz an Substituierten regulär mit
einer stabilen Abstinenz von Opioiden beendet [6]. Die Anforderungen, sich möglicherweise für eine therapeutisch angemessene langjährige
Substitutionsbehandlung gegenüber KVen, Medizinischen Diensten der Krankenversicherung
oder Krankenkassen rechtfertigen zu müssen und ggf. stabil substituierte Opioidabhängige
in eine abstinenzorientierte Behandlung zu drängen, ist entfallen. Es gilt für die
Behandelnden nicht mehr, wie Backmund noch 2015 ausführte: „Der Arzt ist somit täglich
damit konfrontiert, zwischen möglicher Strafverfolgung und Behandlung nach heutigem
Stand der Wissenschaft zum Wohle der Patienten zu entscheiden“ [30], S.15].
Die Ausdehnung der Take-Home-Vergabe auf 30 Tage ermöglicht es den substituierenden
ÄrztInnen, flexibel auf die Lebenssituation der stabil Substituierten zu reagieren.
Berufliche Reisetätigkeiten oder Urlaubswünsche können nunmehr unter Beibehaltung
der Substitution ohne organisatorischen Mehraufwand realisiert werden. Damit wird
ein wichtiges Therapieziel der Substitutionsbehandlung, die soziale (Re-)Integration,
also eine verbesserte Teilhabe der PatientInnen am Leben in der Gesellschaft und am
Arbeitsleben, nicht mehr durch Verordnungen behindert.
Gemessen an den Ergebnissen dieser Studie, scheint die durchschnittliche Verfügbarkeit
von PSB-Plätzen in Deutschland ausreichend zu sein. Sie unterliegt zwar regionalen
Schwankungen, aber folgt nicht den häufig angenommenen Stadt-Land-Unterschieden bei
der Versorgung von Opioidabhängigen. Da sich die Bedarfe an PSB-Plätzen in allen Kreistypen
in einem vergleichbaren Verhältnis widerspiegelten, können ländliche oder kleinstädtische
Gebiete, bezogen auf PSB-Plätze, genauso über- wie unterversorgt sein. Allerdings
kann keine Aussage darüber getroffen werden, inwiefern sich PSB-Angebote in Wohnortnähe
der substituierten PatientInnen befinden.
Es fällt auf, dass die Herausnahme der Erforderlichkeit der PSB von weniger als der
Hälfte der Befragten als relevant eingestuft wird. Hier spiegelt sich insgesamt eine
ambivalente Haltung der Ärzteschaft zum Stellenwert der PSB wider. Allerdings muss
angemerkt werden, dass die PSB ein Sammelbegriff unterschiedlicher psychosozialer
Maßnahmen ist. Dementsprechend empfehlen die Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation
(World Health Organization – WHO), substituierten PatientInnen den Zugang zur PSB
zu ermöglichen, die Substitutionsbehandlung jedoch nicht von der Teilnahme an einer
PSB abhängig zu machen [1]. Die Möglichkeit, abhängige PatientInnen, die primär (halb-)synthetische Opioide
(z. B. opioidhaltige Schmerzmittel) missbräuchlich konsumieren, in eine reguläre Opioidsubstitution
überführen zu können, ist den StudienteilnehmerInnen bekannt, jedoch werden die Auswirkungen
auf die Routineversorgung als gering eingeschätzt. Die gefürchtete ‚Opioidwelle‘,
wie sie aus den USA bekannt ist, wird in dieser Form in Deutschland nicht erwartet.
Substituierende ÄrztInnen ohne suchtmedizinische Weiterbildung betreuen nur 1% aller
substituierten PatientInnen [8]. Da lediglich 5,4% dieser ÄrztInnen in der vorliegenden Studie ihre PatientInnenzahl
auf bis zu 10 erhöht haben, scheint die Möglichkeit der Aufstockung von einer untergeordneten
Bedeutung zu sein. Es ist anzunehmen, dass sie zumeist lediglich aus kollegialer Gefälligkeit
bekannten ÄrztInnen oder PatientInnen gegenüber substituieren. Gleichwohl könnte sich
gut ein Drittel der ÄrztInnen vorstellen, sich suchtmedizinisch weiterzubilden. Neben
hemmenden Bedingungen, die grundsätzlich auch von suchmedizinisch weitergebildeten
ÄrztInnen geäußert wurden, wie zu viele Regularien oder eine nicht ausreichende Vergütung,
wurde auch zu wenig Zeit für eine Weiterbildung oder der Wunsch nach einem Netzwerk
von substituierenden KollegInnen genannt. Dies adressiert zum einen an die Landesärztekammern
in ihren Funktionen als Fortbildungsträger sowie an bestehende Netzwerke substituierender
ÄrztInnen oder Qualitätszirkel, ihre Tätigkeit zu bewerben.
Die Möglichkeit der Abgabe von Substitutionsmedikamenten in Alten- und Pflegeheimen
oder Hospizen, über ambulante Pflegedienste oder in Rehabilitationseinrichtungen und
Gesundheitsämtern wird zurückhaltend beurteilt, obgleich diese in Zukunft einer größeren
Rolle bei der flächendeckenden Absicherung der Substitutionsbehandlung zukommen. Der
Bedarf an Behandlungsmöglichkeiten in Alten- und Pflegeheimen, Hospizen oder über
ambulante Pflegedienste wird zukünftig ansteigen, da der Altersdurchschnitt der PatientInnen
und damit entsprechende Versorgungsbedarfe zunehmen. Hierbei sind möglicherweise bisher
nicht ausreichend geklärte haftungs- und vertragsrechtliche Fragen relevant. Rechtsverbindliche
Vertragsmuster, wie die Mustervereinbarung zum Sichtbezug von Substitutionsmitteln
in der Apotheke, die von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. (ABDA)
auf ihrer Internetseite zur Verfügung gestellt wird, liegen bisher für die Zusammenarbeit
von substituierenden ÄrztInnen und Pflegeeinrichtungen nicht vor.
Die Änderungen der BtMVV waren das Ergebnis eines jahrelangen aufwendigen Prozesses
im Bundesgesundheitsministerium und in der Bundesärztekammer und entsprachen mit dem
Bericht der Bundesärztekammer in 2017 dem aktuellen Stand der Erkenntnisse der medizinischen
Wissenschaft [11]. Gleichwohl beurteilte nur knapp die Hälfte der substituierenden ÄrztInnen die Alltagsrelevanz
der neuen Regularien positiv, während auch 2 Jahre nach Inkrafttreten der 3. BtMVVÄndV
die andere Hälfte der BehandlerInnen keine alltagsrelevanten Änderungen angab bzw.
diese (noch) nicht beurteilen konnte. Im ländlichen Raum ist die Bewertung der Alltagsrelevanz
noch deutlich weniger positiv. Dieses Ergebnis könnte auf eine anhaltende Unsicherheit
in der Umsetzung der Richtlinien hindeuten, auf eine geringe Motivation, die eigene
Substitutionspraxis an die veränderten Möglichkeiten anzupassen oder auch darauf,
dass weitere Faktoren hinsichtlich der Zufriedenheit mit der Substitutionsbehandlung
eine Rolle spielen. Die Stigmatisierung von OpioidpatientInnen in der Allgemeinbevölkerung
sowie der Substitutionsbehandlung könnte nach wie vor das mangelnde Interesse der
Ärzteschaft an dieser Form der ärztlichen Tätigkeit erklären. Das Versäumnis, die
Suchtbehandlung als integralen Bestandteil der ärztlichen Ausbildung zu verstehen
und ‚zu bewerben‘ zeigt sich auch im Vergleich des Durchschnittsalters der substituierenden
ÄrztInnen mit den bei der KBV registrierten HausärztInnen, wobei sich das Nachwuchsproblem
unter den Substituierenden akzentuierter darstellt. Das Aufzeigen von Perspektiven
sowie zielgerichtete Angebote für NachwuchsärztInnen, wie bspw. die Möglichkeit zur
Teilnahme an Qualitätszirkeln oder eine verbesserte Vernetzung von Nachwuchsgruppen,
könnten dazu beitragen, die zukünftige Bereitschaft für die Opioidsubstitution zu
steigern. Die drohende Unterversorgung von Substituierten durch die Aufgabe substituierender
Praxen aufgrund der Erreichung des Renteneintrittsalters der substituierenden ÄrztInnen
muss auch im Kontext der Tatsache gesehen werden, dass niedergelassene HausärztInnen
zunehmend und insbesondere in ländlichen Regionen Schwierigkeiten haben, NachfolgerInnen
für ihre Kassensitze zu finden [13]
[14]. Daher sollte die Möglichkeit, auch andere Institutionen wie Gesundheitsämter oder
Suchtberatungsstellen sowie PSB-Einrichtungen in die Substitutionsbehandlung einzubinden,
weiter ausgebaut werden.
Limitationen und Stärken
An der bundesweiten Befragung beteiligten sich 34,1% aller aktuell substituierenden
ÄrztInnen. Die Rücklaufquote ist im Vergleich mit ähnlichen Studien, deren Rücklauf
zwischen 14,7 und 24,4% lag, als zufriedenstellend zu bewerten [31]
[32]
[33]
. In einer in 2013 veröffentlichten Studie von Schulte und KollegInnen zu den strukturellen
Barrieren in der Substitutionsbehandlung, in der ebenfalls alle substituierenden ÄrztInnen
in Deutschland angeschrieben wurden, betrug der Rücklauf 25,5% [34]. Der höhere Rücklauf in der vorliegenden Befragung deutet darauf hin, dass die Auswirkungen
der 3. BtMVVÄndV für die substituierenden ÄrztInnen ein relevantes Thema darstellt.
Ebenso wie in der Studie von Schulte und KollegInnen war der Rücklauf unter den ÄrztInnen,
die mehr als 50 substituierte PatientInnen behandelten, höher im Vergleich zu ÄrztInnen
mit bis zu 3 PatientInnen. Der Anteil derjenigen, der über eine suchttherapeutische
Weiterbildung verfügte, ist unter den Teilnehmenden der Befragung höher als unter
allen substituierenden ÄrztInnen in Deutschland. Dies lässt sich möglicherweise darauf
zurückführen, dass die Auswirkungen der 3. BtMVVÄndV für ÄrztInnen mit mehr PatientInnen
eine höhere Relevanz haben als für diejenigen, die nach der Konsiliarregelung arbeiten.
Somit ist denkbar, dass sich vermehrt ÄrztInnen, denen die 3. BtMVVÄndV bekannt ist
und die ein besonderes Interesse an den Standards der Substitutionsbehandlung haben,
an dieser Befragung beteiligten, sodass eine Stichprobenverzerrung der Studienpopulation
aufgrund selektiver Effekte (Selektionsbias) möglich ist. Positiv hervorzuheben ist
die regionale Repräsentativität der Stichprobe. Die Teilnahmequote pro Bundesland
entspricht dem Anteil aller über die Bundesopiumstelle verschickten Fragebögen. Ebenso
ist der tatsächliche Altersmittelwert der substituierenden ÄrztInnen aus 12 KVen (65%
aller substituierenden ÄrztInnen) mit dem Altersmittelwert der Studie für diese KVen
nahezu identisch.
Finanzielle Förderung
Die vorliegende Arbeit ist Teil einer vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) finanziell
geförderten Studie (Förderkennzeichen ZMVI1-2519DSM206).