Z Sex Forsch 2021; 34(01): 57-58
DOI: 10.1055/a-1367-9054
Buchbesprechungen

Pädophilie. Eine psychoanalytische Untersuchung

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Cosimo Schinaia (unter Mitarbeit von Paolo F. Peloso, Luisella Peretti, Franca Pezzoni, Clara Pitto und Giuseppina Tabò). Pädophilie. Eine psychoanalytische Untersuchung. Gießen: Psychosozial 2018 (Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse). 319 Seiten, EUR 36,90

Das von einem bekannten Psychoanalytiker aus Genua (mit fünf italienischen Mitautor_innen) konzipierte Buch ist schon 2001 auf Italienisch erschienen und inzwischen in fünf Sprachen übersetzt. Erst jetzt erscheint es in deutscher Übersetzung (von Klaus Laermann). Angelika Ebrecht Laermann führt diese späte deutsche Übersetzung auf Tabuierung beziehungsweise das große Unbehagen von Psychoanalytiker_innen zurück, sich mit Patienten auseinanderzusetzen, die „an Pädophilie erkrankt“ sind. Das mag in der Schwierigkeit begründet sein, die oft fast unerträgliche Verleugnung des Aggressionsgehalts pädoerotischer Fantasien in der Gegenübertragung zu „halten“ und die oft zunächst abgespaltenen paranoiden Einstellungen der Patienten zu bearbeiten, die besonders „chronisch“ Pädophile gegenüber einer Welt entwickeln, die Erotik mit Kindern kritisch sieht. Das führt bei Therapeut_innen zu einem Gefühl, solche Patienten überhaupt nicht erreichen zu können. Cosimo Schinaia begegnet diesem Unbehagen auf zweifache Weise. Zunächst beschreibt er auf etwa 140 Seiten den Reichtum an pädophilen Inhalten in Mythen und Märchen und der belletristischen Literatur bis heute sowie soziale und kulturelle Aspekte, die für pädophile Fantasiebildungen und Impulse geradezu als förderlich angesehen werden müssen, bevor er sich der Geschichte der medizinischen, psychologischen und psychoanalytischen Konzeptualisierungen dieses Phänomens in einem relativ kurz gefassten Überblick widmet. Dieser Reichtum an pädophilen Inhalten in unserer Kultur legt den Schluss nahe, dass es gleichzeitig eine sehr massive Abwehr gegen einschlägige Fantasien in uns allen geben muss, die uns die Begegnung mit ausagierter Pädophilie bzw. offener Bekenntnis zur erotischen Attraktivität von Kindern erschwert (von Ödipus sprechen alle, von Laios, Vater des Ödipus, der den jungen Chrysippos verführte und dafür von den Göttern bestraft wurde, niemand).

Im Kapitel über die psychoanalytischen Theorien zur Pädophilie geht der Autor zunächst auf den von Freud hervorgehobenen narzisstischen Beziehungstyp (sich selbst zum Objekt nehmen) ein, bevor er sehr differenziert die Aufgabe der Verführungstheorie und ihre Folgen für die Konzeptualisierung von Trauma und deren Verarbeitung bei unterschiedlichen Autor_innen beschreibt. Nur Ferenczi habe sich weiter mit der Realität des Traumas für das unreife Kind beschäftigt. Zu den verschiedenen Formen von Pädophilie hätten Autor_innen einerseits die Abwehr von Kastrationsängsten in den Vordergrund gestellt, andererseits die Abwehr viel tieferer Ängste, die die Kohäsion des Selbst betreffen und psychotischen Charakter haben sollen.

Erst gegen Ende des Buches werden zwei Fallbeispiele von Psychoanalysen mit einschlägigen Patienten dargestellt. Es wird zwischen einer Pädophile mit perverser Struktur und einer Pädophilie als „Perversität“ unterschieden. Im ersten Fall ist die abgespaltene Aggression noch symbolisierbar und kann in der Übertragung soweit gehalten werden, dass die Übertragungsbeziehung insgesamt tragfähig bleibt und dem Patienten einen neuen kreativen Zugang zu sich selbst ermöglicht. Im zweiten Fall ist die Aggression gegenüber den zentralen Bezugspersonen (meist bedingt durch frühe Traumatisierung) so massiv und bedingt eine so starke Spaltung, dass die Destruktivität nicht mehr symbolisierbar und daher kaum durch Hemmung steuerbar erscheint. Damit kann auch die Beziehung zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin von paranoiden Fantasien nicht befreit werden, bleibt sie ohne jedes Containment muss der Patient fliehen, meist bricht er dann die Therapie ab. Die Massivität der Spaltung scheint hier alles zu entscheiden.

Besonders verdienstvoll ist der Abschnitt des Buches, in dem von der Intervisionsgruppe des „Projektes Pädophilie“ gesprochen wird und der absoluten Notwendigkeit der Supervision für Analytiker_innen, die sich der Herausforderung einer Psychoanalyse mit betroffenen Patienten stellen. Cosima Schinaia macht überzeugend deutlich, dass ein Gelingen eines solchen Unterfangens nicht nur von der psychischen Haltefähigkeit der individuellen Therapeut_innen, sondern genauso von den dynamischen Prozessen in einer Intervisionsgruppe und der Haltefähigkeit der Gruppe abhängt. Diese Beschreibung macht dann auch eine Diagnostik, die sich nur auf Konstitution und Psychodynamik des Patienten bezieht, fragwürdig, weil sie eben nicht die Veränderbarkeit von psychischen Zuständen im Kontext von Übertragung und Gegenübertragung und einer haltenden Supervision genügend vorhersagen kann. Es besteht die Gefahr, dass rückwirkend aus der Dynamik von Therapie und Supervision ausschließlich auf das Zustandsbild des Patienten geschlossen wird und demzufolge ihm zugeschrieben wird, was bei anderen Behandlungsbedingungen vielleicht ganz anders gelaufen wäre.

Den unzweifelhaften Stärken des Buches stehen einige Schwächen gegenüber, die nicht unerwähnt bleiben sollen. So weiß man zum Beispiel nicht, in welchem Setting die Analysen durchgeführt wurden, wie lange sie gedauert haben (der Autor hat mehrere Analysen zu zwei beispielhaften verdichtet). Das Spektrum, in dem wir klinisch dem Symptom „pädosexuelle Interessen“ begegnen, ist viel zu groß, als dass man es auf die zwei genannten Grundformen („Perversion versus Perversität“) zurückführen könnte. Die Argumentationen bleiben oft bildhaft angedeutet, unentschieden, was möglicherweise der Nähe zum psychoanalytischen Deutungsmuster geschuldet sein mag. Trotzdem kann man sagen, dass man viel gerade über psychoanalytisches Denken in Italien zu diesem Thema erfährt. Außerdem kommt für uns der psychoanalytische Ansatz in der Auseinandersetzung um die behandlungsbedürftigen Formen der Pädophilie gerade zur rechten Zeit. Denn erst vor Kurzem haben die bisher im englischen Strafvollzug und in dessen Programmen gefeierten Ansätze, die dem kognitiv-behavioralen und Schema-Therapie-Spektrum angehören, durch mangelnden Nachweis ihres Effektes einen herben Rückschlag erlitten.

Wolfgang Berner (Wien)



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Article published online:
16 March 2021

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