Hamostaseologie 2021; 41(02): 164-166
DOI: 10.1055/a-1354-5562
Mitteilungen des Vorstandes des Berufsverbandes der Deutschen Hämostaseologen e.V. (BDDH)

Evaluation der Vertriebswegänderung und der gesetzlichen Folgeänderungen für Gerinnungsfaktorenzubereitungen; Digitalisierung im Gesundheitswesen: Elektronische Patientenakte; Aktueller Stand bzgl. neuer GOÄ

Jürgen Koscielny
1   Charité Universitätsmedizin Berlin, Germany
,
Christoph Sucker
2   COAGUMED Gerinnungszentrum, Berlin, Germany
3   Medizinische Hochschule Brandenburg, Brandenburg an der Havel, Germany
,
Günther Kappert
4   Gerinnungszentrum Rhein Ruhr, Duisburg, Germany
› Author Affiliations
 

Evaluation der Vertriebswegänderung und der gesetzlichen Folgeänderungen für Gerinnungsfaktorenzubereitungen zur Behandlung von Hämophilie

Wie bereits im Vorfeld kommuniziert, wurde per 1.9.2020 mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) vom 9. August 2019 (BGB1. 1 S. 1202) die bislang im Arzneimittelgesetz (AMG) vorgesehene Ausnahme vom Apothekenvertriebsweg für Gerinnungsfaktorenzubereitungen zur Behandlung von Hämophilie aufgehoben. Abgesehen von einer Notfallversorgung, die weiterhin durch direkte Abgabe der pharmazeutischen Unternehmen und Großhändler möglich ist, hat die Abgabe der Präparate seither über die Apotheken zu erfolgen.

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat im Rahmen der Beschlussfassung des Bundesrates vom 28.6.2019 erklärt, dass es 6 Monate nach Inkrafttreten der Änderung unter Einbeziehung von Betroffenenverbänden und Versorgungszentren einen Bericht erstellen wird, in dem die Erfahrungen der durchgeführten Veränderungen dargestellt und etwaige Probleme behoben werden können.

Folgende Aspekte sollen hierbei geklärt werden:

  1. Wie gestaltet sich in den Apotheken die Umsetzung der Vertriebswegänderung und der gesetzlichen Folgeänderungen im Hinblick auf die Organisation, Lagerung, Finanzierung, Aufzeichnung und Abgabe der Hämophilie-Präparate?

  2. Haben die Vertriebswegänderung und die gesetzlichen Folgeänderungen Auswirkungen auf die Versorgungssituation der Hämophilie-Patientinnen und -Patienten in den Hämophiliezentren und den spezialisierten Arztpraxen? Wenn ja, welche?

  3. Welche Vor- und Nachteile haben sich aus Ihrer Sicht für die Hämophilie-Patienten durch die Abgabe der Hämophilie-Präparate über die Apotheken gezeigt?

  4. Welche Erfahrungen wurden im Rahmen der Notfallversorgung im Hinblick auf die Organisation des in den ärztlichen Einrichtungen gelagerten Notfallvorrats und den Rückgriff auf diesen gesammelt?

  5. Welche Auswirkungen haben die Vertriebswegänderung und die gesetzlichen Folgeänderungen auf die Erstattung der Hämophilie-Präparate durch die Krankenversicherungen (z.B. im Hinblick auf den Abschluss von Versorgungs- oder Rabattverträgen) und auf die Ausgaben für diese Präparate?

  6. Welche sonstigen Erfahrungen wurden gemacht, die nicht in den Fragen 1 bis 5 adressiert sind?

Der Vorstand des Berufsverbandes der Deutschen Hämostaseologen (BDDH) ermutigt seine Mitglieder, ihre Erfahrungen nach der Umstellung des Vertriebsweges und insbesondere positive und negative Aspekte und Veränderungsbedarf an den Vorsitzenden, Herrn Privatdozent Dr. Jürgen Koscielny, zu übermitteln. Dies ist hilfreich für die weitere Kommunikation mit den zuständigen Entscheidungsträgern.


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Digitalisierung im Gesundheitswesen: Geplante Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA)

Ungeachtet der aktuellen Corona-Pandemie und den hiermit verbundenen Herausforderungen und Belastungen für Kliniken und niedergelassene Ärzte wird durch die politischen Entscheider die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter vorangetrieben. An diesem Mammutprojekt wurde 16 Jahre gearbeitet, der Start zum 01. Januar 2021–inmitten der Corona-Pandemie – ist mehr als unglücklich und alles andere als gelungen. Ab dem Quartal 2021 hat jeder Versicherte Anspruch darauf, eine ePA von seiner Krankenkasse zu erhalten. Aber nur ausgewählte Arztpraxen in Berlin und Westfalen-Lippe werden in einer ersten (!) Testphase schon vernetzt. Erst im Juli 2021 sind alle Ärzte verpflichtet, sich an die ePA anzubinden. Erstaunlicherweise gehen die Entscheidungsträger in der Politik bisher nicht auf die erhebliche Kritik von Ärzten und anderer ein.

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Herr Prof. Ulrich Kelber, hatte bereits im August des vergangenen Jahres Verstöße des Patientendatenschutzgesetzes (PDSG) gegen die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) festgestellt und Konsequenzen seiner Behörde angedroht. Somit drohen bereits aufgrund der datenschutzrechtlichen Bedenken Verzögerungen für die Einführung der ePA. Es wird insbesondere darauf hingewiesen, dass Patienten bei Einführung der ePA die volle Datenhoheit besitzen müssten, da die Gesundheitsdaten höchst schützenswerte und intime Daten enthalten. Insbesondere problematisch sei, dass nur bei Nutzung geeigneter Endgeräte ein datenschutzrechtlich korrekter Zugriff auf die eigene ePA erfolgen kann mit Kontrolle, wer welche Informationen einsehen kann. Das „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ für den Datenzugriff sei nicht zu akzeptieren. Er wies abschließend darauf hin, dass gemäß Bestimmungen der DSGVO durch ihn auch entsprechende Anweisungen und Untersagungen verfügt werden könnten.

Aus ärztlicher Sicht sind bislang viele Fragen bezüglich der Einführung der ePA ungelöst und es existieren zahlreiche Probleme, aufgrund derer die Einführung der ePA zum jetzigen Zeitpunkt als kritisch anzusehen ist:

Stabilität der Telematik-Infrastruktur: Die ePA könnte langfristig einen Nutzen bringen. Ob sie immer funktioniert, ist eine andere Sache. Laut Praxis- Barometer Digitalisierung 2020 der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) kritisierten 82 Prozent der befragten Ärzte die Fehleranfälligkeit ihrer Systeme. Ausfälle gab es teils monatlich, teils sogar wöchentlich. Dabei ist eine funktionierende Telematik-Infrastruktur eine unabdingbare Grundvoraussetzung für eine sinnvolle Nutzung der ePA. Wie soll diese Problematik bei der rückständigen digitalen Infrastruktur behoben werden?

Komplexität des Zugangs von Patienten zur ePA: Letztlich soll die ePA allen Patienten zugutekommen, auch ohne Informatik-Studium. Weit gefehlt: Selbst diesbezüglich versierte Patienten haben Probleme. Die Datenübertragung von eGA zu ePA läuft nicht ideal (selbst hochgeladene Dokumente verschwinden). Die Registrierung ist hürdenreich: Für die PIN-Zustellung müssen die Patienten derzeit im Service-Center persönlich vorstellig werden. Und das ist gerade zu Zeiten der Corona-Pandemie bekanntlich ein Problem, weil die Servicestellen der Krankenkassen im Lockdown für den Kundenkontakt in der Regel geschlossen sind. Die erforderliche App stürzt nach der Videoidentifikation (WebID Identify) regelmäßig ab. Nach erneutem Installieren erkennt die App nicht das Telefon als autorisiert an – Identifizierung wieder von vorne. Wie sollen ältere Patienten diese Hürden bewältigen, die sich ohnehin mit der neuen Technik schwertun?

Inadäquate Honorierung: Laut KBV erhalten Ärzte und Krankenhäuser einmalig 10 Euro für die erste Befüllung der ePA. Der Zeitaufwand kann aber, bei umfangreicher Vorgeschichte der Patienten, erheblich sein. Niedergelassene Ärzte aus Bayern bezeichneten es als „schlechten Scherz“ für rund 30 Minuten Arbeitszeit 10 Euro zu erhalten. Dazu seien sie nicht bereit. Wie soll die Akzeptanz der Ärzte gebessert werden, wenn eine in keinster Weise kostendeckende und leistungsgerechte Verfügung für die Befüllung und Pflege der ePA besteht?

Datenschutz versus adäquate Behandlung: Bekanntlich können Versicherte steuern, welcher Arzt räumlich oder zeitlich Zugriff zur ePA bekommen soll. Ab 2022 wird es darüber hinaus möglich sein, über die App für jedes Dokument einzeln festzulegen, wer darauf zugreifen darf. In der Arztpraxis bzw. bei weiteren Leistungserbringern kann der Zugriff ab 2022 auch auf bestimmte Kategorien von Dokumenten und Datensätzen innerhalb der ePA, wie beispielsweise Fachgebietskategorien, begrenzt werden. Wie soll ein Arzt Patienten adäquat behandeln, wenn nur ein Teil der Befunde einsehbar sind ? Woher weiß der Patient, welche Dokumente für welchen Arzt von Bedeutung sind? Welche Diskussionen werden zwischen Ärzten und Patienten hinsichtlich der Freigabe von Dokumenten entstehen? Und wie viele Menschen entwickeln medizinische Probleme Jahr für Jahr aufgrund fehlender Daten oder aufgrund von Mehrfachverordungen diverser Pharmaka (Polypharmazie) ? Ein „Ärzte-Hopping“ kann dann sehr schnell zum medizinischen Risiko für den Patienten und zu einer nicht unerheblichen Arzthaftung führen.

Fehlender Informationsfluss: Wie oben ausgeführt, hatte die Einführung der ePA eine lange Vorlaufzeit. Trotzdem hat es das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) offenbar versäumt, alle Beteiligten richtig zu informieren. Darauf deutet zumindest eine Umfrage der KBV unter 1.000 Ärzten vom Juli 2020 hin. Nur 27 % fühlten sich gut oder sehr gut darauf vorbereitet, Patienten über die ePA aufzuklären – oder die Technologie effizient einzusetzen, um etwa Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Und 57 % wünschten sich, mehr über Potenziale der ePA bei der Zusammenarbeit mit Kollegen zu erfahren. Ob sich die Zahlen inzwischen arg verbessert haben, ist zu bezweifeln. Und dass die schlechte Informationspolitik und die unzureichende Einbindung praktisch tätiger Ärzte in die Entwicklung der ePA die Akzeptanz innerhalb der Ärzteschaft nicht gefördert hat, bedarf keiner Erläuterung. Noch schlechter ist der Informationsstand bei Patienten: Ende Dezember 2020, kurz vor dem offiziellen Start, hatten 37 % % noch nie etwas über die ePA gehört; nur etwa die Hälfte derer, denen die ePA ein Begriff war, kannten grundlegende Funktionalitäten der ePA. Das zeigt eine repräsentative Befragung der KBV von mehr als 1.000 Personen. Auch bei vielen Patienten besteht durch unzureichende Information kein gesteigertes Interesse an der Einführung der ePA. Darüber hinaus äußern sich auch viele Patienten kritisch aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken. Wie soll bei unzureichender Information von Ärzten und Patienten Akzeptanz für die ePA generiert werden? Die Versäumnisse der letzten Jahre wird man nur schwerlich ausräumen können.

Insolvenzen der Dienstleister: Im letzten Jahr ging AvP, ein Dienstleister zur Abrechnung von Verordnungen, überraschend in den Konkurs – und hat so manche Apotheke mit in den Abgrund gerissen. Jetzt verkündete das „Research Industrial Systems Engineering“ (RISE) als Dienstleister stolz, für 87 gesetzliche Krankenkassen die ePA bereitzustellen. Was geschieht eigentlich mir den Patienten-Daten, wenn die RISE GmbH in den Konkurs geht? Dazu gibt es weder vom GKV-Spitzenverband noch vom BMG Antworten. Auch dieser Umstand ist nicht geeignet, das Vertrauen in die ePA zu fördern.

Sicherlich könnte man weitere kritische Punkte zur Einführung der ePA anführen. Aber schon die oben genannte Aufzählung macht deutlich, dass man auf die Einführung der ePA nicht ausreichend vorbereitet ist und die Akzeptanz bei Ärzten und auch bei Patienten, nicht zuletzt aufgrund unzureichender technischer Voraussetzungen, fehlender Information, inadäquater Vergütung und unzureichender Einbeziehung der ärztlich tätigen Kollegen in dieses Mammutprojekt, allenfalls gering ist. Aus Sicht des Vorstandes des BDDH besteht hier deutlicher Bedarf zur Nachbesserung. Aufgrund der zahlreichen sich ergebenden Probleme ist es als absolut kritisch einzusehen, die ePA nun gerade während der Corona-Pandemie, die niedergelassene Ärzte und Kliniken in hohem Maße belastet, einzuführen. Ein Aufschub der verbindlichen Einführung der ePA für alle Patienten zum 1.7.2021 ist daher aus ärztlicher Sicht unbedingt zu fordern.


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Aktueller Stand: Neue Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ)

Die letzte Sitzung bei der Bundesärztekammer (BÄK) mit den Vertretern der Berufsverbände, also auch mit dem BDDH e. V., fand am 5. Februar 2020 statt. Die damals diskutierte sehr vollständige Version ist bereits von der BÄK im März mit dem PKV-Verband diskutiert und auch ein Konsens zur Daten- und Kostenauswertung festgelegt worden. Wichtig war es von Seiten der BÄK nun, PKV-Verband und Beihilfestellen von dieser neuen GOÄ zu überzeugen und durch Analogberechnungen zu beweisen, dass es hierdurch nicht zu einer überhöhten Leistungsmenge kommt. Zudem ist noch die Steigerung von 5,8% pro Jahr über drei Jahre ab Inkrafttreten der neuen GOÄ, wie beim Deutschen Ärztetag beschlossen, mit diesen zu diskutieren und durchzusetzen. Die BÄK hat versprochen, voraussichtlich im Frühjahr 2021 neue Berechnungen anzustellen und uns zu informieren. Der BDDH e. V. rechnet aber bedingt durch die Pandemie und das kommende Wahljahr nicht mit einer zügigen Einführung einer neuen GOÄ.

Für den Vorstand des Berufsverbandes der Deutschen Hämostaseologen e.V. (BDDH):

  • Priv.-Doz. Dr. Jürgen Koscielny, Berlin, Vorsitzender

  • Dr. Günther Kappert, Duisburg, Stellvertretender Vorsitzender

  • Priv.-Doz. Dr. Christoph Sucker, Berlin, Beisitzer des Vorstands


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Publication History

Article published online:
15 April 2021

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