Zum einen
drückt sie sich in Äskulaps Dasein als Halbgott aus, mithin als
göttlich-menschliches Mischwesen, zum anderen spiegelt sie sich in dem
Mischwesen, welches ihn bei sich in Obhut nahm: Cheiron. Der wegen seiner Weisheit
und Gerechtigkeit hochgerühmte Kentauer, selbst Mischwesen in Pferde- und
Menschengestalt, unterrichtete den schon bei Geburt verwaisten Halbgott in der
Heilkunst seines göttlichen Vaters Apollo. In dieser bildhaften Sprache
dürfte sich unter anderem die Einsicht um die biografischen Brüche
und unterschiedlichen Seiten unseres Menschseins spiegeln: Die biologisch-triebhafte
Basis ebenso wie eine diese übersteigende Fähigkeit zu
Rationalität und Einsicht. Dass die Trennung zwischen Biologie und Geist bei
näherer Betrachtung selbst wiederum nur vorläufig ist, ist eine
Erkenntnis moderner Ethologie und neurobiologischer Hirnforschung und daran
anknüpfender Analysen zur sog. Philosophie des Geistes. Für die
ärztliche Praxis und ebenso für eine Tätigkeit im Bereich
Public Health/Öffentliche Gesundheit bleibt sie jedoch hilfreicher
Bezugs- und Ausgangspunkt, um so von den Widersprüchlichkeiten menschlicher
Existenz in Gesundheit und Leid nicht allzu überrascht zu werden und sie
auch als solche annehmen zu können.
Wie drückt sich diese Doppelnatur heute aus? Hier sei als Beispiel das Thema
Impfen aufgegriffen, konkret zu Zeiten der Corona-Pandemie der Jahre
2020/21. Merk- und denkwürdige Risse ziehen sich dabei durch die
aufgeklärten Gesellschaften der westlichen Kulturen. Wissenschaftlichkeit
kämpft gegen Pseudowissenschaftlichkeit, Wissen mit Halbwissen, ernsthafte
Abwägung mit leichtfertigem Denialismus, politische Zwänge
mit fachwissenschaftlicher Differenzierung. Während einerseits
Katastrophenfall, gesellschaftlicher Lockdown und das Schließen von
Gastronomie und Kultureinrichtungen als wirtschaftlicher Shutdown zur
Vermeidung exponentiell wachsender Fallzahlen zum Einsatz kommen, beklagen andere
Gruppen eine vermeintliche Überreaktion bis hin zur Verleugnung der Existenz
einer gesundheitlichen Notlage. Dass gezieltere Infektionsschutzmaßnahmen
auf Basis differenzierter Analysen und belegter Wirksamkeit als quasi chirurgisch
präzise Eingriffe mit begrenzten gesellschaftlichen Belastungen die
präferierte Option wäre, ist zunächst eine kontrafaktische
Überlegung. Da diese eine kluge und vorausschauende Forschungs- und
Strukturpolitik und mittel- und langfristige auch entsprechende Investitionen im
Bereich öffentlicher Gesundheit erfordert, wird vorerst wie so oft die
Stimme fachlich-wissenschaftlicher Vernunft vergleichsweise leise bleiben
müssen, den Göttern sei’s geklagt. Billig und einfach ist
Gesundheit eben nicht zu haben, weder in der Individualmedizin noch im Bereich der
öffentlichen Gesundheit, einem schmerzhaft und chronisch unterfinanzierten
Bereich.
Im weiteren Verlauf geben zudem die unvermeidliche Knappheit zu Beginn der
Impfstoffverfügbarkeit und anfängliche Pannen bei durchaus
herausfordernder Logistik vordergründigen Anlass zu Kritik und in der Sache
größtenteils ungerechtfertigter Schuldzuweisungen. Zu
möglichen wenig rationalen Beweggründen für solche Kritik
wie existenzieller Angst oder sozialem Impfneid sind die weiteren
Forschungsergebnisse abzuwarten (siehe auch das COSMO Snapshot monitoring [1]). Und während anfänglich noch
die Diskussionen um Priorisierungen unter Bedingungen von Knappheit im Vordergrund
stehen, ist absehbar, dass bald darauf die Diskussionen um Risiken und
Nebenwirkungen, individuelle Freiheiten und gesellschaftliche Solidarität
und um die möglichen Impfziele des Schutzes der Hochrisikogruppen, der
Abschwächung des pandemischen Verlaufs und der effektiven Eindämmung
gegenüber einer Herdenimmunität als für sich stehende
Alternativen folgen werden. Im Anschluss daran wird dann möglicherweise in
einer dritten Phase, wenn alle reservierten Kontingente verfügbar sind, so
mancher vorbestellte und mit Bitterkeit eingeforderte Impfstoff auf unbestimmte Zeit
in den Tiefkühlschränken liegen bleiben bzw. seinen verschlungenen
Weg in weniger begüterte Gesellschaften finden. Womit die Pandemie zur
Episode wird, bis zur nächsten Runde im Karussell des Lebens.
Die eng mit den Pockenepidemien verknüpfte Geschichte des Impfens ist dabei
durchaus bunt. Wohl schon im zweiten vorchristlichen Jahrtausend war die
Variolation (lat. Variola – die Pocken) in Asien bekannt und
wurde als Exposition gegenüber kleineren Erregermengen der Pocken durch
Schnupfen, Inhalation oder über die angeritzte Haut praktiziert. Um die
erste nachchristliche Jahrtausendwende wurde sie auch vom persischen
Universalgelehrten Avicenna (Ibn Sina) beschrieben. Die Technik einer aktiven
Schutzimpfung mit Ausbildung einer bleibenden Immunität blieb in Europa
zunächst unbeachtet und wurde erst durch die Schriftstellerin Lady Mary
Montagu in England popularisiert. Sie hatte 1718 in ihren Briefen aus Konstantinopel
darüber berichtet, dort ihren Sohn und nach ihrer Rückkehr nach
England im Jahr 1721 auch ihre Tochter auf diese Weise impfen lassen – unter
Aufsicht u. a. des Vorsitzenden des Royal College of Physicians und anderer
Hofärzte. Nachdem im gleichen Jahr auch noch sechs Strafgefangene gegen das
Angebot einer Amnestie und sechs Waisenkinder ohne bleibenden Schaden geimpft worden
waren, wurde die Methode von König Georg I. allgemein gebilligt. Die Methode
fand in England und später auch in Nordamerika breiten Zuspruch, nicht
zuletzt auch mit Anwendungen zu militärmedizinischen Zwecken. Auf dem
europäischen Kontinent blieb sie zunächst umstritten. Nachdem der
englische Arzt Edward Jenner die mildere und risikoärmere Vakzination
mit Kuhpocken (lat. Vacca – die Kuh), wie schon andere Ärzte vor
ihm, im Jahr 1796 mit Erfolg ausprobiert hatte, ersetzte sie zunehmend die
Variolation und verbreitete sich auch auf dem europäischen Festland. Einer
der Vorkämpfer in Deutschland war der Hannoveraner Hofmedicus Johann
Christian Ballhorn, der Jenners Publikation schon ein Jahr nach ihrem Erscheinen
1798 ins Deutsche übersetzte und popularisierte [2]. Die Keimtheorie zur Ätiologie der Infektionskrankheiten blieb
dabei zunächst unbeachtet, sie wurde erst im späteren 19.
Jahrhundert durch Louis Pasteur zur Geltung gebracht. Im weiteren Verlauf wurde im
neuen Königreich Bayern 1807 als erstem Land weltweit eine Impfpflicht
– gegen die Pocken – eingeführt, andere Länder
folgten. Im Deutschen Reich wurde die Pockenimpfung 1874 verpflichtend und ein
Jahrhundert später, 1976 nach erfolgreicher weltweiter Eradikation der
Pocken, in unserer heutigen Bundesrepublik aufgehoben.
Doch auch Misserfolge und unerfüllte Hoffnungen bzw. unerwartete
Nebenwirkungen blieben nicht aus. Zu nennen sind noch im 19. Jahrhundert Robert
Kochs erfolglose Tuberkuloseimpfung mittels Tuberkulin, im 20. Jahrhundert
z. B. die gehäuften Fälle von
Guillain-Barrée-Syndrom (GBS) nach den Schutzimpfungen gegen Schweingrippe
1976/77 in den USA und das Auftreten von Darmverschlüssen bei
Kindern 1998 bei erstmaliger Einführung eines Rotavirusimpfstoffes,
woraufhin die Impfstoffe wieder vom Markt genommen werden mussten. Hinzu kommen sehr
seltene Nebenwirkungen verschiedener handelsüblicher Impfstoffe, welche in
einer Nutzen-Risikoabwägung wegen des weitaus überwiegenden Nutzens
in Kauf genommen werden [3]
[4]. Aktuelle und noch nicht vollständig
geklärte Fragen betreffen darüber hinaus die Thematiken Narkolepsie
nach Impfungen gegen die Neue Grippe 2009 [5] oder
die eines Antibody-dependent Enhancement (ADE) bei Zweitinfektionen mit SARS-CoV-2
[6]. Manche vermeintliche Impfnebenwirkung ist
auch schlicht eine interessensgeleitete Falschbehauptung [7], psychologische Faktoren sind von erheblicher
Bedeutung [8].
Welche Lehren lassen sich daraus für eine Impfkampagne, die mehr ist als eine
Summe von Angeboten der Einzelimpfung, gewinnen? Gerade für den
überlegten, evidenzorientierten Ansatz einer Impfkampagne ist mit der
menschlichen Doppelnatur zu rechnen. Der biomedizinische „leibliche“
Ansatz verlangt eine sorgfältige, empirische Evaluation der
Impfeffektivität in den verschiedenen Alters- und Zielgruppen und
für die unterschiedlichen Impfprinzipien und –strategien: Welcher
Anteil an Erkrankungen lässt sich verhindern und lässt sich
darüber hinaus eine sterile Immunität erreichen, das heißt
eine Weitergabe des Virus durch die geimpften Personen unterdrücken? Welche
Risiken und Nebenwirkungen treten auf – kurz-, mittel- und langfristig und
wie sind diese gegenüber den Risiken einer Erkrankung zu gewichten? Lassen
sich überhaupt schon Aussagen zu Langzeiteffekten treffen und falls ja, mit
welchen Limitationen? Wie sieht es mit sehr seltenen Nebenwirkungen aus, die
gleichwohl mit sehr großen Impfzahlen politisch brisant werden
können? Wie lassen sich solche Überlegungen in eine konkrete
Impfstrategie übersetzen – sollte vor diesem Hintergrund vielleicht
bewusst nur eine Impfung von besonderen Risikogruppen mit eindeutig positivem
Nutzen-Risikoverhältnis forciert werden? Sollte eine auf
Fremdnützigkeit ausgerichtete Herdenimmunität überhaupt
angestrebt werden, womöglich unter Einbeziehung von Kindern und
Jugendlichen, solange nicht umfassende Daten zu langfristigen Risiken gewonnen
sind?
Gleichzeitig ist auch die Diskussion zu führen, welche in Ergänzung
zur biomedizinischen Perspektive das menschliche Sozial- und Geistesleben als zweite
Natur angeht: Was ängstigt die Einzelnen, welche Diskurse und Narrative
prägen Denken und Einstellungen [9]?
Welche individuellen und gesellschaftlichen Freiheitsrechte sind mit dem
biomedizinisch sinnvollen Vorgehen in Balance zu bringen? Wieviel
Solidarität schulden wir uns gegenseitig und welche Form der
Solidarität darf nur als Akt der Freiheit angesprochen werden? Wo endet eine
immer auch subjektive Diskussion über Vernunft und Unvernunft –
vernünftig ist immer nur der oder die, welche meinen Standpunkt teilt?
Verantwortungsvolle politische Entscheidungen sind darüber hinaus durch
Evidenz immer nur zu informieren. Sie enthalten nicht nur die Abwägung
„richtig/falsch“, sondern auch Abwägungen zur
sozialen Akzeptanz, zur Nachhaltigkeit und Anschlussfähigkeit an andere
Maßnahmen, zum (verfassungs)rechtlich Erlaubten und gesellschaftlich
Erwünschten, nicht zuletzt auch zu den ökonomischen
Opportunitätskosten. Auch wenn das Infektionsschutzgesetz die
Einschränkung von Grundfreiheiten angesichts des Höchstwertes des
menschlichen Lebens erlaubt – sie ist keine „Carte blanche“,
Würde und Freiheit sind Teil dieses Höchstwertes und stehen in der
Güterabwägung i.d.R. noch über der Gesundheit. Auch sind
politische und administrative Entscheidungen oft auch nur unter Zeitdruck und
Unsicherheit zu treffen und bedingen Abstriche bei mancher fachlich
wünschenswerten, aber zeitlich nicht einlösbaren
Präzisierung [10]. Die Anforderungen an
einen gelingenden Umgang mit der strategischen Handlungs- und
Krisenbewältigungsoption Impfen sind somit im 21. Jahrhundert komplex. Sie
verlangen eine dieser Komplexität und auch der menschlichen Daseinsweise
entsprechende breite, biomedizinische und sozial- und geisteswissenschaftliche
Kompetenz. Gleichzeitig sind sie mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts fachlich
disziplinär und transdisziplinär auf eine Weise bearbeitbar, die
früheren Zeiten verschlossen war.
Die Offenheit des wissenschaftlichen Diskurses bleibt daher auch beim Impfen eine
elementare Voraussetzung für erfolgreiche Impfkampagnen, auf der Ebene der
Biomedizin wie auf der Ebene der gesellschaftlichen Vernunft. In diesem offenen
wissenschaftlichen Sinn wollen auch die Beiträge dieser Ausgabe wieder ganz
allgemein einen Beitrag leisten: Die Themen sind die Frage nach einer erfolgreichen
Strategie gegen den drohenden Landärztemangel, Erfahrungen mit der
Delegation von Hausbesuchen und Qualifikation nicht-ärztlicher Mitarbeiter
in sächsischen Hausarztpraxen, eine gelingende interprofessionelle
Versorgung von Patienten mit rheumatoider Arthritis aus hausärztlicher
Sicht, Prädiktoren der Inanspruchnahme von kardiovaskulären und
respiratorischen Notfallaufnahmen, Referenzwerte für die
kardiorespiratorische Fitness der allgemeinen Bevölkerung aus der Studie zur
Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1), die Vereinbarkeit von Beruf und
Pflege und die Auswirkungen der Erwerbstätigkeit auf die Gesundheit
pflegender Angehöriger, ein Bericht zum Brandenburger Netzwerk Gesunde
Kinder sowie Prädiktoren der Teilnahmebereitschaft von Jugendlichen in
Langzeitstudien aus der Ohrkan-Studie zur Freizeitlärmexposition.
Um am Ende noch einmal den Anfang aufzugreifen: Um den eingangs angesprochen
mythischen Arzt Asklepios spinnen sich noch vielerlei weitere Erzählungen.
So werden ihm u. a. 2 Töchter zugeschrieben, Hygieia und Panakeia.
Zu Hygieia, in deren göttliche Zuständigkeit Maß und gesunde
Lebensführung fallen, hat uns der Maler Gustav Klimt ein beeindruckendes
Gemälde geschenkt: Es zeigt die schöne Göttin, welche aus
einem Füllhorn ihre Wohltaten ausschüttet – die
Früchte eines klug und verantwortlich geführten Lebens. Zu Panakeia
fehlt ein Bild. In ihre göttliche Zuständigkeit sind die Heilmittel
bei Krankheiten gegeben – die sprichwörtliche Bezeichnung Panazee
für ein mythisches Allheilmittel ist ihrem Namen entlehnt (und vize versa).
Allerdings war es mit dieser Tochter nicht so einfach, da sie häufig nur
schwer aufzufinden war. Eine Deutung für das 21. Jahrhundert? Über
eine gefundene wirksame und nebenwirkungsarme Impfung als Heilmittel gegen COVID-19
sollten und dürfen wir uns freuen, die (Ordnungs-)Lehren der Hygieia sollten
wir trotzdem beherzigen – sie sind anders als Panakeias
medikamentöser Beistand auch kurzfristig verlässlich
verfügbar. In einem gelingenden dialektischen Schritt könnte aus
dieser vielschichtigen Auseinandersetzung mit scheinbar
unüberbrückbaren Gegensätzen darüber hinaus ein
großer Schritt in Richtung eines ökosystemischen One Health-Ansatzes
folgen [11] – als Beitrag zu einer
nachhaltig verträglichen Koexistenz menschlichen Lebens mit anderen das
menschliche Leben tragenden Lebensformen, als „Leben, das leben will
inmitten von Leben, das Leben will“ (Albert Schweitzer).