Der Schmerzpatient 2021; 4(02): 56-62
DOI: 10.1055/a-1345-2330
Schwerpunkt

Orofaziale Schmerzen: Definition, Klassifikation und Prävalenz

Nikolaos Nikitas Giannakopoulos
 

Was sind orofaziale Schmerzen, und wie unterscheiden sie sich von Kopfschmerzen? Eine Definition ist schwierig, die Differenzierung kompliziert, die Diagnostik diffizil. Selbst hochkomplexe Klassifikationssysteme wie die jüngst publizierte ‚International Classification of Orofacial Pain‘ sind für Kliniker eher impraktikabel. Erst der Blick auf ausgewählte Studien gibt Klarheit: Zahn- und Mundschmerzen sind die häufigste Form orofazialer Schmerzen. Als weitere Schmerzgeneratoren gelten die Kaumuskulatur sowie die Kiefergelenke – anatomische Strukturen mit besonderer Relevanz für die Physiotherapie.


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(Quelle: maya2008/stock.adobe.com – Stock photo)

Definitionen

Mund- und Gesichtsschmerzen werden unter dem Begriff „orofaziale Schmerzen“ [lat.: os = Mund; facies = Gesicht] subsummiert. Während der Bereich des Mundes noch klar definiert ist, bleibt die Ausdehnung des Gesichts unklar. Aus anatomischer Sicht ist das Gesicht zwar eindeutig ein Teil des Kopfes, je nach Spezialisierung wird das Gesicht jedoch unterschiedlich abgegrenzt. Diese Divergenz wird anhand diverser Definitionsversuche deutlich.

IHS Die ‚International Headache Society‘ (IHS) definierte Gesichtsschmerz als „Schmerz unterhalb der orbitomeatalen Linie, anterior der Ohrmuscheln und oberhalb des Halses“ [1]. Die Orbitomeatallinie bezeichnet im seitlichen Topogramm die Verbindung der oberen Orbitabegrenzung mit dem Porus acusticus externus. Dementgegen schließen andere Begriffsbestimmungen zusätzlich die Region oberhalb der Orbitomeatallinie und somit die Stirn mit ein.

Zahnmedizin In der Zahnheilkunde beinhaltet der Begriff „Gesicht“ alle extraoralen Strukturen, welche dem stomatognathen System zugeordnet sind. Als stomatognathes System bezeichnet man die Gesamtheit aller Strukturen im Kopf-, Mund/Kiefer- und Halsbereich mit ihren weitgehenden Interaktionen und wechselseitigen Abhängigkeiten. Zahnmedizinisch gehören also sämtliche Kaumuskeln, wie etwa die Mm. temporalis und masseter, aber auch die suprahyoidale Muskulatur, die Kiefergelenke und die Schilddrüsen zum Gesichtsbereich. Im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis werden die Nase und die Augen in der Zahnmedizin nicht zum Gesicht gezählt.

Kopfschmerz Kopfschmerzen werden meistens auf orofaziale Regionen bezogen et vice versa. Sie können ausschließlich innerhalb der orofazialen Region lokalisiert sein, wohingegen orofazialer Schmerz sich auch auf andere Kopfregionen übertragen kann. Angesichts dieser Diskrepanz wird deutlich, dass der Begriff „Mund- und Gesichtsschmerz“ sowie sein Pendant „Kopfschmerz“ keine exakte Abgrenzung und Differenzierung voneinander zulassen. Infolgedessen werden Mund- und Gesichtsschmerzen zumeist nur als Unterkategorien von Kopf- und Nackenschmerzen betrachtet [2].


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Orofaziale Innervation

Der Mund- und Gesichtsbereich wird sensorisch sowohl über die Spinalnervenpaare C2 und C3 als auch über fünf Hirnnervenpaare versorgt:

  • N. oculomotorius (III)

  • N. trigeminus (V):

    • N. ophthalmicus (V1)

    • N. maxillaris (V2)

    • N. mandibularis (V3)

  • N. intermedius des N. facialis (VII)

  • N. glossopharyngeus (IX)

  • N. vagus (X)

Die angeführten Hirnnerven gewährleisten auch die autonome Innervation ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Die sensorische Innervation von Mund- und Gesichtsbereich wird durch die Spinalnerven C2 und C3 sowie über die Hirnnerven III, V, VII, IX und X realisiert. Die Abbildung zeigt die die Ursprünge der Hirn- und Spinalnerven (links) sowie deren Versorgungsgebiete (rechts).(Quelle: N. Giannakopoulos; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Trigeminusnerv Die sensorische Versorgung der orofazialen Region erfolgt in erster Linie durch die drei Äste des N. trigeminus (V1 – 3). Auf Grund der mächtigen Repräsentation des 5. Hirnnervs im sensorischen Kortex haben orofaziale Schmerzen mitunter massive funktionelle und soziale Auswirkungen. Diese reichen von Einschränkungen bei alltäglichen Aktivitäten wie Essen, Trinken, Sprechen, Lachen, Singen, Küssen, Schminken, Rasieren und Schlafen bis hin zu Beeinträchtigung des sozialen Lebens und Störungen der Selbstwahrnehmung [3], [4].

Je nach Versorgungsstufe – d. h. in der Allgemeinpraxis, in einer Klinik oder Spezialklinik – werden Zahnärzte und andere medizinische Professionen wie z. B. Neurologen unterschiedlich oft mit den verschiedenen Formen von Mund- und Gesichtsschmerz konfrontiert.


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Klassifikationssysteme

Aufgrund der Komplexität von Mund- und Gesichtsschmerzen existieren mehrere internationale Klassifikationssysteme, die mehr oder weniger auch orofaziale Schmerzen berücksichtigen. Am bekanntesten sind:

  • die Klassifikation der ‚International Association for the Study of Pain‘ (IASP)

  • die ‚International Classification of Headache Disorders‘ (ICHD-3) der IHS

  • die Klassifikation der ‚American Academy of Orofacial Pain‘ (AAOP)

  • die ‚(Research) Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disordersʼ ((R)DC/TMD) vertreten durch das ‘International Network for Orofacial Pain and Related Disorders Methodologyʼ (INfORM)

Andere weitverbreitete Einteilungen sind die Klassifikationen nach Jeffrey Okeson oder Joanna Zakrzewska [5], [6] ([Tab. 1], [Tab. 2]).

Tab. 1 Ausschnitt der Klassifikation von Mund- und Gesichtsschmerzen nach Okeson mit vier Beispielen [5].

Achse 1 = physikalische Bedingungen

Achse 2 = psychologische Zustände

1 Der neurovaskuläre Schmerz wird bei Okeson auch unter dem Unterpunkt „viszeral“ aufgelistet.

somatisch

neuropathisch

affektive Störungen

Angststörungen

somatoforme Störungen

andere Störungen

oberflächlich

tief
Beispiele:

  • muskuloskelettal:

    • Muskelschmerz

    • Kiefergelenkschmerz

  • viszeral:

    • pulpitischer Schmerz

episodisch
Beispiele:

  • paroxysmaler neuralgischer Schmerz:

    • Trigeminusneuralgie

  • neurovaskulärer Schmerz1

anhaltend

Tab. 2 Klassifikation von Mund- und Gesichtsschmerzen nach Zakrzewska [6].

dentoalveolär/oral/mukosal

muskuloskelettal

neurovaskulär

1 Dentininfraktur: unvollständige Frakturen und Risse im koronalen Dentin (Zahnbein), die bis in die Pulpa (Zahnmark oder Zahnnerv) und das Wurzeldentin reichen können. 2 Kieferhöhlenentzündung. 3 systemische Gefäßentzündung (Vaskulitis), die v. a. bei älteren Menschen die Schläfenarterien befällt; Synonyme: Riesenzellarteriitis (RZA), Morbus Horton, Horton-Magath-Brown-Syndrom. 4 Trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen (TAK) sind eine Gruppe attackenartiger, einseitiger Kopfschmerzen im Bereich des Trigeminusnervs, die mit autonomen parasympathischen Symptomen im Kopfbereich, wie z. B. Augentränen oder laufender Nase, einhergehen. 5 Die Glossopharyngeusneuralgie imponiert mit anfallsweise auftretenden Schmerzen am Gaumenbogen, die u. a. beim Schlucken, lautem Sprechen oder Gähnen auftreten. Schmerzausstrahlung in Zunge, Kieferwinkel und Halsregion; Synonyme: Collet-Sicard-Syndrom, Weisenburg-Sicard-Robineau-Syndrom etc. 6 Beim Burning-Mouth-Syndrom bestehen Missempfindungen, Schmerzen und Brennen an der Zunge und in der Mundhöhle. Die Beschwerden sind nicht durch andere Erkrankungen oder ärztliche Befunde erklärbar. 7 neuropathischer Dauerschmerz der Zähne.

  • dental

  • parodontal

  • pulpitisch

  • ‚Cracked tooth‘1

  • Sinusitis maxillaris2

  • Krebs

  • Speicheldrüsen-Erkrankung

  • orale/mukosale Erkrankung

  • Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)

  • myofasziale Schmerzen

  • Kiefergelenkdysfunktion

  • degenerative Veränderungen des Kiefergelenks

  • primärer Kopfschmerz:

    • Migräne

    • Spannungskopfschmerz

    • Arteriitis temporalis3

    • Trigemino-autonome Kopfschmerzen (TAK)4

  • neuropathischer Schmerz:

    • episodisch:

      • Trigeminusneuralgie

      • Glossopharyngeusneuralgie5

    • anhaltend:

      • neuropathischer Trigeminusschmerz

      • postherpetische Neuralgie

      • ‚Burning-Mouth-Syndrome‘ (BMS)6

  • andere:

    • zentraler Schlaganfall-Schmerz

    • chronischer idiopathischer Gesichtsschmerz

    • atypische Odontalgie7

ICOP-Klassifikation

Angesichts der Divergenz der angeführten Klassifikationssysteme versuchte die ‚Orofacial and Head Pain Special Interest Group of the IASP‘ (OFHP SIG) in Kooperation mit der IHS, der AAOP und INfORM, eine erste einheitliche internationale Klassifikation von Mund- und Gesichtsschmerzen zu formulieren [7].

Inhalt

Die im Vorjahr publizierte ‚International Classification of Orofacial Pain‘ (ICOP) ist außerordentlich umfassend. Sie deckt alle Arten von Schmerzen ab, die auf dentoalveoläres Gewebe, orofaziale Muskeln und die Kiefergelenke zurückzuführen sind. Gleichzeitig berücksichtigt die ICOP auch Verletzungen und Erkrankungen des Trigeminusnervs, Gesichtsschmerzen, welche eine gewisse Ähnlichkeit mit Kopfschmerzen haben, und schließlich auch die idiopathischen Arten orofazialer Schmerzen.


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Aufbau

In ihrem Aufbau folgt die ICOP den gleichen Prinzipien wie die internationale Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD-3) der IHS [1]. Zwei ihrer Grundkonzepte sind die Unterscheidung zwischen chronischen, d. h. länger als drei Monate dauernden, primären und sekundären orofazialen Muskel- und Kiefergelenkschmerzen sowie die Einordnung der Schmerzfrequenz anhand operationalisierter Kriterien in „sporadisch“, „häufig“, „sehr häufig“ und „anhaltend“.


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Domänen

In der ICOP werden orofaziale Schmerzen in sieben Bereiche unterteilt. Jede Domäne wird ausführlich beschrieben, kommentiert und bietet zumeist auch diesbezügliche diagnostische Kriterien unterschiedlicher Spezifität.

Merke

ICOP-Einteilung orofazialer Schmerzen

  1. orofaziale Schmerzen, welche auf eine Dysfunktion der dentoalveolären und anatomisch verwandten Strukturen zurückzuführen sind

  2. myofasziale orofaziale Schmerzen

  3. orofaziale Schmerzen aus den Kiefergelenken (TMJ)

  4. orofaziale Schmerzen auf Grund einer Läsion oder Erkrankung der Hirnnerven

  5. orofaziale Schmerzen, die primären Kopfschmerzen ähneln

  6. idiopathische orofaziale Schmerzen

  7. psychosoziale Beurteilung von Patienten mit orofazialen Schmerzen

Beispiel In der ICOP werden pulpitische Schmerzen unter der Zahlenfolge 1.1.1 kodiert und als „Schmerzen, die durch eine Läsion oder Störung der Zahnpulpa verursacht werden“ definiert. Hierfür gelten folgende diagnostische Kriterien:

  1. jeder Schmerz in einem Zahn, der Kriterium C erfüllt

  2. klinische, labortechnische, bildgebende und/oder anamnestische Hinweise auf eine bekanntermaßen Pulpaschmerz auslösende Läsion, Krankheit oder ein Trauma

  3. Nachweis der Kausalität durch folgende zwei Charakteristika:
    1. die Schmerzlokalisation entspricht der/den Stelle(n) der Läsion, Krankheit oder des Traumas
    und
    2. eine/beide Aussage/n trifft/treffen zu:
    a) der Schmerz entwickelte sich in zeitlichem Zusammenhang mit dem Auftreten der Läsion, der Krankheit oder des Traumas, oder der Schmerz führte zu dessen/deren Entdeckung
    b) der Schmerz wird verstärkt durch einen physikalischen Reiz, der auf den betroffenen Zahn einwirkt

  4. die Symptomatik ist nicht besser durch eine andere ICOP-Diagnose erklärbar

Im Anschluss werden die verschiedenen Ursachen der Pulpaschmerzen als Unterpunkte aufgelistet – bspw. „Pulpaschmerz aufgrund einer Überempfindlichkeit“, „Pulpaschmerz aufgrund einer Pulpitis“ etc. Die ICOP ist äußerst detailliert, so dass manche Schmerz-Untergruppen durch bis zu sieben Unterpunkte kodiert werden.


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Kritische Würdigung

Von den inhärenten Leitprinzipien einer Klassifikation erfüllt die ICOP die biologische Plausibilität, die Vollständigkeit, die gegenseitige Ausschließlichkeit der Elemente und größtenteils auch die Zuverlässigkeit. Allerdings bleibt die Einfachheit der Nutzung für jeden, der im Bereich der Zahnmedizin oder Neurologie tätig ist, teilweise unbefriedigend. Die Sinnhaftigkeit der Einteilung nach Schmerzfrequenz müsste sich auch für nicht-kopfschmerzassoziierte Schmerzen bewähren. Folglich scheint die ICOP primär für Lehr- und Forschungszwecke nützlich zu sein. Im klinischen Alltag wird dieses detaillierte Werk eine effiziente Diagnosestellung vermutlich kaum unterstützen.

Ausblick

Prävalenz Ein wertvolles Element, was die ICOP und auch jede andere, zukünftige Klassifizierung zweckdienlicher für die Diagnostik gestalten könnte, wären Informationen zur Prävalenz jeder aufgelisteten Entität. Die Erwähnung der Häufigkeit des Auftretens einer bestimmten Form orofazialer Schmerzen ließe sich bspw. in Form des Mittelwerts ausgewählter Studien realisieren. Das Wissen über die Prävalenz würde eine zielgerichtete Differentialdiagnostik erheblich erleichtern. Ein Kliniker, der weiß, wie häufig ein bestimmtes Krankheitsbild auftritt, kann sein differentialdiagnostisches Handeln entsprechend ausrichten. Hiervon profitieren würden nicht nur alle medizinischen Professionen in sämtlichen Versorgungsstufen von der hausärztlichen Allgemeinpraxis bis hin zur Spezialklinik, sondern v. a. auch Patienten mit orofazialen Schmerzen.

Datenquellen Die besten Datenquellen, um Prävalenzen zu ermitteln, sind Stichproben in wissenschaftlichen Untersuchungen. Die in die Studien eingeschlossenen Probanden repräsentieren hierbei entweder die gesamte Bevölkerung oder aber Patienten der ersten beiden Versorgungsstufen, d. h. in Allgemeinpraxen und Kliniken.


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Prävalenz orofazialer Schmerzen

Für orofaziale Schmerzen liefert die wissenschaftliche Literatur diverse Daten aus bevölkerungsrepräsentativen Stichproben. Diese geben Aufschluss über die Häufigkeit des Auftretens verschiedener Schmerzen. Im Folgenden werden besonders relevante Untersuchungen angeführt, die zeigen, wie oft die einzelnen Formen orofazialer Beschwerden apparent werden. Durch dieses Procedere soll sich gleichzeitig herauskristallisieren, welche orofazialen Krankheitsbilder gerade für die Physiotherapie relevant sind.

Im Jahr 2015 berichteten Orapin Horst et al. von der Universität in San Francisco über eine 16,1%ige Jahresprävalenz orofazialer Schmerzen unter jenen Patienten, die niedergelassene Zahnärzte konsultierten [8]. Von diesen Patienten litten 9,1% unter dentoalveolären Schmerzen sowie 6,6% unter muskuloskelettalen (CMD-)Schmerzen. Alle übrigen Formen des Gesichtsschmerzes waren hingegen äußerst selten [8].

Ein ähnliches Bild zeichnet die Untersuchung von Anne McMillan et al. von der Universität Hong Kong [9]. In der Studie aus dem Jahr 2006 wurden die häufigsten mit Gesichtsschmerz assoziierten Symptome in der allgemeinen Bevölkerung aufgelistet. Die Untersuchung ergab, dass einschießende Schmerzen als Zeichen neuropathischer Schmerzen am weitaus seltensten auftraten [9]. Mehrere epidemiologische Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen [10], [11], [12], [13].

Eine kurze Zusammenfassung ausgewählter Studien zur Prävalenz orofazialer Schmerzen zeigt folgende Tabelle ([Tab. 3]).

Tab. 3 Zusammenfassung ausgewählter Studien zur Prävalenz orofazialer Schmerzen in der Allgemeinbevölkerung.

Quelle

Stichprobe1

Land/Region

Zeitraum2

orofazialer Schmerz

dentoalveolär

muskulo-ligamentär

neuro-vaskulär

1 n: Anzahl der Studienteilnehmer; w: weiblich; m: männlich. 2 Angabe des Studienzeitraums in Monaten

Aggarwal et al. 2007 [14]

  • n = 2505

  • w+m

  • 18 – 75 Jahre

  • allgemeine Bevölkerung

Großbritannien

1

7,70%

2,28%

1,76%

0,80%

Chung et al. 2004 [15]

  • n = 1032

  • w+m

  • 55 – 85 Jahre

  • allgemeine Bevölkerung

Süd-Korea

6

42,00%

  • ges.: 26,8%

  • w: 26,8%

  • m: 26,8%

  • Zahn

  • ges.: 26,2%

  • w: 28,5%

  • m: 23,0%

  • Mund

  • ges.: 15,5%

  • w: 16,1%

  • m: 14,8%

  • Kiefergelenk

  • ges.: 9,3%

  • w: 9,9%

  • m: 8,5%

  • Gesicht/Wangen

  • ges.: 14,2%

  • w: 17,4%

  • m: 10,1%

  • BMS

Horst et al. 2015 [8]

  • n = 1668

  • w+m

  • 18 – 93 Jahre

  • Patienten aus Zahnarztpraxen

USA
(Nordwest)

12

16,10%

9,10%

6,60%

Lipton et al. 1993 [10]

  • n = 272

  • w+m

  • 20 – 45 Jahre

  • allgemeine
    Bevölkerung

USA

6

  • ges.: 12,2%

  • w: 12,5%

  • m: 12%

  • Zahn

  • ges.: 8,4%

  • w: 8,9%

  • m: 7,8%

  • Mund

  • ges.: 5,3%

  • w: 6,9%

  • m: 3,5%

  • Kiefergelenk

  • ges.: 1,4%

  • w: 1,9%

  • m: 0,9%

  • Gesicht/Wangen

  • ges.: 0,7%

  • w: 0,8%

  • m: 0,6%

  • BMS

Macfarlane et al. 2002 [11]

  • n = 2504

  • w+m

  • 18 – 65 Jahre

  • Patienten aus allgemein-hausärztliche Praxis

Großbritannien (South East Cheshire)

1

  • ges.: 25,8%

  • w: 29,8%

  • m: 20,8%

  • 5,7%: Kiefergelenk

  • 6,0%: vor dem Ohr

  • 3,5%: beim Öffnen des Mundes

  • 3,8%: beim Kauen

  • 9,6%: in und um die Schläfen

  • 11,7%: in oder um die Augen

  • 2,8%: einschießend

  • 1,2%: brennend

McMillan et al. 2006 [9]

  • n = 1222

  • w+m

  • ≥ 18 Jahre

  • allgemeine Bevölkerung

Hong Kong

1

  • ges.: 41,6%

  • w: 42,1%

  • m: 40,8%

  • ges.: 12,5%

  • w: 11,3%

  • m: 14,3%

  • Zahn

  • ges.: 5,0%

  • w: 3,8%

  • m: 6,7%

  • Kiefergelenk

und

  • ges.: 6,9%

  • w: 7,0%

  • m: 6,7%

  • vor dem Ohr

  • ges.: 6,1%

  • w: 5,2%

  • m: 7,3%

  • beim Kauen

und

  • ges.: 3,2%

  • w: 2,0%

  • m: 5,0%

  • beim Öffnen des Mundes

  • ges.: 3,7%

  • w: 2,8%

  • m: 5,0%

  • brennend

und

  • ges.:1,1%

  • w: 1,0%

  • m: 1,2%

  • einschießend

Riley et al. 2001 [12]

  • n = 724

  • w+m

  • 45 – 96 Jahre

  • allgemeine Bevölkerung

USA
(Nord Florida)

6

42,70%

  • ges.: 12,0%

  • w: 12,0%

  • m: 11,9%

  • Zahn

  • ges.: 15,6%

  • w: 17,8%

  • m: 12,6%

  • Mund

  • ges.: 8,3%

  • w: 9,6%

  • m: 6,2%

  • Kiefergelenk

  • ges.: 3,1%

  • w: 4,0%

  • m: 1,6%

  • Gesicht

1,6%: BMS


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Schmerzchronifizierung

Das Phänomen der Schmerzchronifizierung ist ein zentraler Aspekt, der v. a. bei der Diagnose muskuloskelettaler Gesichtsschmerzen zu beachten ist. Diesen Gesichtspunkt hat die ICOP zwar eingeführt, jedoch spielt der Faktor Zeit – nach dem aktuellen Verständnis über die Schmerzverarbeitung – nur eine untergeordnete bzw. keine Rolle, um Schmerzen als chronisch zu charakterisieren. Stattdessen gilt die schmerzbedingte Dysfunktionalität auf anderen Ebenen – im Alltags-, Berufs-, Familien- und Sozialleben – als zuverlässiger Indikator für eine dysfunktionale Schmerzchronifizierung.

GCPS Die diagnostische Entscheidung darüber, ob ein muskuloskelettaler Gesichtsschmerz als „akut“, „akut-persistierend“ oder „chronisch-dysfunktional“ einzustufen ist, erfolgt mithilfe einfacher Fragebögen wie bspw. dem ‚Graded Chronic Pain Status‘ (GCPS) [16]. Diese Ergänzung zur allgemeinen Diagnostik spielt für die therapeutische Entscheidung eine bedeutende Rolle.

Beispiel Die ICOP beschreibt „primäre myofasziale orofaziale Schmerzen“ als „Schmerzen in der Kaumuskulatur, mit oder ohne Funktionsbeeinträchtigung, die nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen sind“ und unterteilt diesen anschließend in „akuten primären“ und „chronischen primären myofaszialen orofazialen Schmerz“. Leider beschränken sich die diagnostischen Kriterien auf eine Dauer von mehr als drei Monaten. Dieser Hinweis ist für die Feststellung einer Chronifizierung jedoch häufig irrelevant und kann zu einer Fehldiagnose führen, die u. U. eine nicht indizierte Therapie auslöst.


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Fazit

Aus der Vielzahl dieser wissenschaftlichen Daten und Informationen können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:

Merke

Quintessenz

  1. In der Allgemeinbevölkerung stellen Schmerzen intraoraler Ätiologie (Zahn- und Mundschmerzen) die häufigste Form orofazialer Schmerzen dar. Die zweithäufigste Schmerzquelle scheinen die Kaumuskeln zu sein, gefolgt von den Kiefergelenken. Alle anderen Schmerzen überwiegend neurovaskulärer Ätiologie sind eher selten. Ausnahmen sind das Burning-Mouth-Syndrome und verschiedene CMD-assoziierte Kopfschmerzen.

  2. Die aktuelle ICOP sollte nur zielführend eingesetzt werden. Sie eignet sich für die Lehre und für Studien im entsprechenden Bereich, um Schmerzen im Detail zu beschreiben.

  3. Bei der Differentialdiagnostik sollte der Kliniker einerseits mit den diagnostischen Kriterien der entsprechenden Schmerzformen vertraut sein, andererseits sollte er über deren Prävalenz Bescheid wissen. Folglich sollten in der Praxis zuallererst die vermehrt auftretenden Schmerzformen ausgeschlossen werden, bevor eher seltene und somit unwahrscheinlichere Diagnosen gestellt werden.

  4. Die diagnostische Entscheidung über eine dysfunktionale Schmerzchronifizierung sollte Kriterien wie die Funktionalität in Alltag, Beruf und Sozialleben berücksichtigen und nicht allein auf die Schmerzdauer fokussieren.


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Autorinnen/Autoren

PD Dr. Nikolaos Nikitas Giannakopoulos

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promovierte und habilitierte in der ‚Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik‘ in Heidelberg und ist seit 2016 in der ‚Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik‘ in Würzburg als Oberarzt tätig. Zudem ist er Vice-President der ‚Neuroscience Group‘ (IADR) und Sprecher des ‚Interdisziplinären Arbeitskreises Mund- und Gesichtsschmerzen‘ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V.


Korrespondenzadresse

PD Dr. Nikolaos N. Giannakopoulos
Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik
Pleicherwall 2
97070 Würzburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
14 April 2021

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(Quelle: maya2008/stock.adobe.com – Stock photo)
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Abb. 1 Die sensorische Innervation von Mund- und Gesichtsbereich wird durch die Spinalnerven C2 und C3 sowie über die Hirnnerven III, V, VII, IX und X realisiert. Die Abbildung zeigt die die Ursprünge der Hirn- und Spinalnerven (links) sowie deren Versorgungsgebiete (rechts).(Quelle: N. Giannakopoulos; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)