Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(03): 81-83
DOI: 10.1055/a-1344-7900
Editorial

Medizinisches Cannabis und Fahrtauglichkeit

Medical Cannabis and driving abilities
Jens Kuhn
,
Udo Bonnet

Cannabis ist heutzutage die in Europa am häufigsten konsumierte illegale Substanz. Entsprechend der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) haben 7,4 % der 15–64 Jährigen und sogar 14,4 % der jungen Erwachsenen (15–34 Jahre) in Europa in 2018 Cannabis konsumiert [1], mit weiter ansteigendem Trend [2]. Das Führen eines Fahrzeugs unter Einfluss von Cannabis (nach Freizeitkonsum) gilt wegen potenziell beeinträchtigter Fahreignung als Ordnungswidrigkeit und kann unter bestimmten Bedingungen in einem Führerscheinentzug münden [3]. Nach derzeitigem Rechtsverständnis deutet schon eine analytische Konzentration von 1 ng/ml Tetrahydrocannabinol (THC) auf ein sorgfaltswidriges Verhalten hin, selbst wenn der Konsum mit deutlichem zeitlichen Abstand stattgefunden hat [4]. Von „Cannabis-Lobbyisten“ wird eine Höhersetzung dieses Grenzwertes gefordert – auch unter Verweis auf den 0,5 Promillewert beim Alkoholkonsum – zumal in anderen Regionen, so zum Beispiel in der Schweiz, den Niederlanden, Großbritannien oder einigen US-Bundesstaaten Grenzwerte zwischen 4-6 ng/ml hinsichtlich der Fahrtauglichkeit toleriert werden. Von neuropsychologischer Seite wurden aber bereits THC-Spiegel im Serum zwischen 2 und 5 ng/ml als untere Grenzwerte für kognitive Beeinträchtigungen im Verkehrssimulator beschrieben [5].

Die Hauptinhaltstoffe verschiedener Cannabis-Pflanzen, nämlich Cannabidiol (CBD) und Tetrahydrocannabinol (THC) werden bekanntermaßen auch zu medizinisch therapeutischen Zwecken eingesetzt. Seit der diesbezüglichen Änderung des Betäubungsmittelgesetzes im März 2017, wonach Ärzte unabhängig von ihrer Fachrichtung unter bestimmten Bedingungen Cannabis-Blüten, Zubereitungen und Präparate auf BtM-Rezept und zu Lasten der Kostenträger verordnen dürfen, steigen die Verschreibungszahlen kontinuierlich an [6]. Allein in den ersten 3 Quartalen des Jahres 2020 erfolgten 241.744 Verordnungen zu medizinischem Cannabis mit einem Umsatz von über 111 Millionen Euro zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungen [7]. Schwerpunktmäßig erfolgte ein Einsatz in der Schmerzmedizin, aber auch für andere neuropsychiatrische Indikationen. Zu nennen sind hier etwa Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie, Appetitsteigerung bei AIDS, Spastik bei Multipler Sklerose, bestimmte Epilepsiesyndrome, fortgeschrittene Parkinsonerkrankungen [8] und das Tourette-Syndrom [9]. Trotz des zunehmenden Einsatzes ist die wissenschaftliche Datenlage zum medizinischen Nutzen von Cannabis als Heilmittel weiterhin gering und es bedarf mehr methodisch hochwertiger prospektiver Studien [10].

Hinsichtlich der Fahrtauglichkeit unter medizinischem Cannabis scheint die derzeitige Rechtssituation wenig eindeutig. So wurde 2017 im Deutschen Ärzteblatt die Bundesregierung – angefragt auf diese Thematik – folgendermaßen zitiert: „Cannabispatienten dürfen am Straßenverkehr teilnehmen, sofern sie aufgrund der Medikation nicht in ihrer Fahrtüchtigkeit eingeschränkt sind… (es) drohe keine Sanktion, wenn Cannabis aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt …Eine Entziehung der Fahrerlaubnis sei jedoch bei missbräuchlicher Einnahme ….möglich… die Fahrtüchtigkeit (kann allerdings) … in der Einstellungs- und Eingewöhnungsphase… beeinträchtigt sein“ [11]. Ob sich bei einer THC-Grenzwertüberschreitung (s. o. ) eines Fahrzeugführers infolge medizinisch verabreichten Cannabis jedes Gericht dieser Empfehlung anschließt, ist zu hinterfragen. Es könnte auch deswegen weiterhin Anlass zu Diskussionen geben, da in einem jüngst in JAMA veröffentlichten und sehr lesenswerten Artikel Auswirkungen von THC und CBD auf die Fahrtauglichkeit von gesunden Kontrollprobanden untersucht wurden [12]. Der Einsatz von „On-Road“-Fahrtauglichkeit Tests, neben weiteren neuropsychologischen Untersuchungen und die Anwendung von THC- bzw. CBD-dominanten Wirkstoffen, einer THC / CBD-Mischung sowie von Cannabis-Placebo werten die Analyse auf. Als Zusammenfassung lässt sich der Studie entnehmen, dass sowohl die Inhalation von THC (in einer recht geringen Dosis) als auch des 1:1 Gemisches von THC / CBD nach 40 bis 100 Minuten zu einer relevanten Veränderung der Fahrleistung führt, die in etwa der einer Alkoholwirkung von 0,5 Promille entspricht. Bei reiner CBD-Inhalation ist dies nicht zu beobachten. 4 h nach einmaliger Inhalation führen alle Cannabis-Varianten nicht mehr zu einer bedeutsamen Veränderung der Fahrtauglichkeit. Limitierend muss allerdings berücksichtigt werden, dass die für die Studie ausgewählten gesunden Versuchsteilnehmer, die anamnestisch allenfalls gelegentlich Cannabis konsumierten, nicht zwingend zu vergleichen sind mit regelmäßigen „Freizeit-Konsumenten“, die durch den wiederholten Konsum dauerhafte Wirkstoffspiegel aufweisen. Und auch die Dosierungen waren wahrscheinlich zu niedrig gewählt, um die fehlende Einflussnahme von CBD auf die Fahrtauglichkeit generalisieren zu können. Trotz dieser Einschränkungen tragen Arkell et al. mit den analysierten und publizierten Daten zu einem ganz elementaren Wissenszuwachs bei [12].

Bei weltweit ansteigendem Freizeitkonsum von Cannabis ist zu berücksichtigen, dass Cannabis insbesondere THC, aber auch die Kombination mit CBD (bzw. trotz der Kombination mit CBD) die Fahrtauglichkeit beeinträchtigt. Auch hinsichtlich des medizinischen Einsatzes müssen diese Studienergebnisse bedacht werden, bedeuten sie doch womöglich eine veränderte Einschätzung der o. g. unklaren Rechtslage und damit assoziierte Einschränkungen in der autonomen Lebensführung der behandelten Patienten. Gleichzeitig gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass in der zitierten Studie die Auswirkungen von medizinischem Cannabis auf neuropsychiatrisch erkrankte Personen nicht erfasst worden sind. Im Kontext der Verschreibung von medizinischem Cannabis scheinen aber Beobachtungen an Patienten mit Depression und ADHS bemerkenswert: Bei schweren depressiven Episoden oder ausgeprägter ADHS-Symptomatik bewirkt die Erkrankung selber die vermutlich stärkste Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit. Eine wirksame Therapie mit Antidepressiva bzw. Stimulantien, die für sich alleine genommen, nicht ohne Auswirkungen auf die Fahrtauglichkeit ist, kann die krankheitsbedingte Fahrtauglichkeit bessern [z. B. [13]]. Ein ähnlicher Effekt scheint bei ausgewählten neuropsychiatrischen Indikationen unter der Behandlung mit medizinischen Cannabinoiden durch neuromodulative Effekte zumindest nicht gänzlich ausgeschlossen [14].

Das Manuskript von Arkell et al. berücksichtigend sollten in zukünftigen Studien die Effektstärke der Erkrankung und die Auswirkungen einer Therapie mit medizinischem Cannabis auf die jeweilige Indikation unbedingt separat untersucht werden [12]. Nicht zwingendermaßen können die hier erhobenen Untersuchungen an ansonsten gesunden Personen generell immer übertragen werden.

Gerade in der jetzigen „globalen Stress-Situation“ der COVID Pandemie führt die oft mit einer gewissen Erleichterung und Entspannung einhergehende psychotrope Wirkung von Cannabis vielleicht sogar bei einigen Menschen zu einem vermehrten Konsum [15]. Es gibt auch vereinzelte Arbeiten, die zweifellos der wissenschaftlichen Replikation bedürfen, die es möglich erscheinen lassen, das von extern zugeführte Cannabinoide aufgrund ihrer Einflussnahme auf das Immunsystem, verlaufsbegünstigend bei COVID-19 und ARDS (Adult Respiratory Distress Syndrome) sein könnten [16].

Auch vor diesem Hintergrund besteht weiterhin viel Forschungsbedarf hinsichtlich der allgegenwärtigen Thematik der Therapie der Covid-Erkrankung, des Nutzens von Cannabis generell und dessen Auswirkung auf die Fahrtauglichkeit im Speziellen. Davon unabhängig wünschen wir Ihnen mit der vorliegenden März-Ausgabe der Fortschritte Neurologie und Psychiatrie viel Lesefreude.



Publication History

Article published online:
08 March 2021

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