Einleitung
Die Opioidsubstitutionstherapie (opioid substitution treatment – OST) ist die wichtigste
Therapieoption zur Behandlung der Opioidabhängigkeit in Deutschland. Etwa die Hälfte
aller Opioidabhängigen in Deutschland befinden sich jährlich in einer OST [1], die nachweislich den Gebrauch von illegalen Substanzen, das HIV- und Hepatitis-C-Risikoverhalten
sowie die Todesraten durch Opioid-Überdosierungen reduziert, die soziale Integration
fördert und die Beschaffungskriminalität verringert [2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]. Trotz der sichtbaren individuellen und gesamtgesellschaftlichen Effekte der Behandlung
limitieren strukturelle, insbesondere rechtliche Rahmenbedingungen die Ausweitung
der OST [9]
[10]. Heute haben bereits viele substituierende ÄrztInnen das Renteneintrittsalter erreicht
oder stehen kurz davor und es zeigen sich, insbesondere in ländlichen Gegenden, grundsätzliche
Probleme, NachfolgerInnen für die Kassensitze zu finden [11]
[12]. Selbst bei Kassensitzübernahmen ist nicht gewährleistet, dass die Substitutionsbehandlung
weitergeführt wird [13]. Nicht nur auf Seite der Behandelnden, auch patientenseitig steht die OST vor Herausforderungen.
Mit zunehmendem Alter der PatientInnen zeigen sich Veränderungen hinsichtlich altersbedingter,
chronischer und multipler Komorbiditäten [14]
[15]. Hieraus ergeben sich zukünftig neue Aufgaben für die OST, wie beispielsweise eine
Ausweitung der Behandlung in Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege.
Um den Anforderungen einer zukünftigen Versorgung opioidabhängiger Menschen gerecht
zu werden und letztendlich auch die Anzahl substituierender ÄrztInnen in Deutschland
zu erhöhen, wurde im Mai 2017 die 3. Verordnung zur Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung
(3. BtMVVÄndV) verabschiedet [16]. Übergeordnete Ziele waren die Verbesserung der Rechtssicherheit für substituierende
ÄrztInnen und die Anpassung der Durchführung von Substitutionsbehandlungen an den
neusten wissenschaftlichen Stand sowie an praktische Erfordernisse. Dazu werden in
Deutschland zukünftig die medizinisch-therapeutischen Aspekte der Substitutionsbehandlung
ausschließlich durch die Richtlinie der Bundesärztekammer (BÄK) geregelt [17]. In die neue Richtlinienkompetenz der BÄK wurden im Wesentlichen die Therapieziele,
die Voraussetzungen für die Einleitung und Fortführung einer Substitutionsbehandlung
sowie die Erstellung eines Therapiekonzepts überführt. Die BÄK hatte dazu in ihrer
„Richtlinie zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger“
den aktuellen wissenschaftlichen Stand zur Opioidsubstitutionsbehandlung erarbeitet
[18]. Die neuen Richtlinien sind in [Tab. 1] im Vergleich zu den zuvor gültigen dargestellt.
Tab. 1 Alte und neue Richtlinien zur Durchführung der Substitutionsbehandlung.
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Alte Substitutionsrichtlinien
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Neue Substitutionsrichtlinien nach Inkrafttreten der 3. BtMVVÄndV am 02.10.2017
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Rechtssicherheit
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Alle Regelungen nur im Rahmen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV).
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Regelungen, die ärztlich-therapeutische Bewertungen betreffen, werden aus dem Rahmen
der BtMVV in die Richtlinienkompetenz der BÄK überführt. Verfolgungsmöglichkeiten
durch die Justiz sind dadurch eingeschränkt.
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Konsum weiterer psychotroper Substanzen (Beikonsum)
|
Es dürfen keine Substanzen gebraucht werden, deren Konsum nach Art und Menge den Zweck
der Substitution gefährden.
|
Der Beikonsum anderer psychotroper Substanzen und Alkohol soll kontrolliert und während
der Substitution berücksichtigt und ggf. therapiert werden.
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Take-Home, Ausnahme vom Sichtbezug
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Eine Take-Home-Verordnung von bis zu 7 Tagen ist möglich und bis zu 2 Tagen zur Überbrückung
bei grundsätzlichem Sichtbezug.
|
Eine Take-Home-Verordnung von bis zu 30 Tagen ist möglich und bis zu 5 Tagen zur Überbrückung
bei grundsätzlichem Sichtbezug.
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Abstinenz
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Ziel der Substitutionstherapie ist die schrittweise Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz.
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Eine Opioidabstinenz ist anzustreben, muss aber nicht erreicht werden. Zeitliche Vorgaben
bestehen nicht.
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Psychosoziale Begleitung (PSB)
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Substitution nur unter der Voraussetzung, dass eine erforderliche PSB einbezogen wird.
|
PSB soll weiterhin regelhaft empfohlen werden, ist aber keine Voraussetzung mehr für
die Substitutionsbehandlung.
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Konsiliararztmodell
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Suchtmedizinisch nicht qualifizierte ÄrztInnen dürfen bis zu 3 PatientInnen mit Substitutionsmitteln
unter der Aufsicht suchtmedizinisch qualifizierter ÄrztInnen (Konsiliarii) behandeln.
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Suchtmedizinisch nicht qualifizierte ÄrztInnen dürfen bis zu 10 PatientInnen mit Substitutionsmitteln
unter der Aufsicht suchtmedizinisch qualifizierter ÄrztInnen (Konsiliarii) behandeln.
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Synthetische Opioide
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Substitution ist die Anwendung eines ärztlich verschriebenen Betäubungsmittels bei
einer opiatabhängigen PatientIn.
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PatientInnen, die ausschließlich von synthetischen Opioiden (z. B. Tilidin oder Tramadol)
abhängig sind, können in die Substitutionsbehandlung aufgenommen werden.
|
Abgabe des Substitutionsmittels
|
Das Substitutionsmittel ist PatientInnen in einem Krankenhaus oder in einer Apotheke
oder in einer hierfür von der zuständigen Landesbehörde anerkannten anderen geeigneten
Einrichtung oder, im Falle einer ärztlich bescheinigten Pflegebedürftigkeit, bei einem
Hausbesuch zum unmittelbaren Verbrauch zu überlassen.
|
Das Substitutionsmittel darf durch medizinisches, pharmazeutisches oder pflegerisches
Personal in einer stationären Einrichtung der medizinischen Rehabilitation, einem
Gesundheitsamt, einem Alten- oder Pflegeheim, einem Hospiz oder einer anderen geeigneten
Einrichtung, die zu diesem Zweck von der zuständigen Landesbehörde anerkannt sein
muss, abgegeben werden.
|
Mit diesen Änderungen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) wurden
die seit langem vertretenen Forderungen der Interessenvertreter weitgehend erfüllt.
Die Studie von Schulte et al. befragte 2009 substituierende ÄrztInnen in Deutschland
zu strukturellen Barrieren in der Substitutionsbehandlung. Jeweils etwa 80% sahen
diese insbesondere durch mögliche rechtliche Konsequenzen bei Verstößen gegen die
BtMVV sowie durch einen daraus resultierenden hohen Verwaltungsaufwand gegeben [19].
Um zu überprüfen, wie die Neuregelung zur substitutionsgestützten Behandlung opioidabhängiger
Menschen in der Praxis bewertet und angenommen wird, wurde von der Gesundheitsministerkonferenz
der Länder einstimmig deren Evaluation beschlossen [20]. In diesem Artikel werden die Ergebnisse leitfadengestützter Interviews mit substituierenden
ÄrztInnen in 4 deutschen Bundesländern vorgestellt. Die Bewertung und praktische Umsetzung
der neuen Richtlinien zur Substitution, strukturelle Voraussetzungen der Substitutionsbehandlung
sowie Vorstellungen für deren zukünftige Gestaltung standen im Fokus der Befragung.
Methodik
Studiendesign
Die vorliegende Untersuchung fand als Teilprojekt im Rahmen der vom Bundesministerium
für Gesundheit (BMG) geförderten Evaluation der 3. Verordnung zur Änderung der BtMVV vom 22.5.2017 („Substitutions-Novelle“)
– EVASUNO im Zeitraum von Dezember 2019 bis April 2020 statt. Das Evaluationskonzept der Gesamtstudie
umfasst modular aufgebaute quantitative und qualitative Erhebungsstrategien sowie
Sekundärdatenanalysen über einen Zeitraum von 3 Jahren. Hierbei werden mögliche Effekte
aus Sicht der PatientInnen sowie VersorgerInnen (ÄrztInnen, ApothekerInnen) untersucht.
Ergänzend zu einer bundesweiten schriftlichen Befragung substituierender ÄrztInnen
wurden in 4 ausgewählten Modellregionen vertiefende leitfadengestützte Interviews
mit substituierenden ÄrztInnen geführt. Die Auswahl dieser Regionen erfolgte einerseits
geografisch (städtisch versus ländlich) sowie gezielt nach besser und schlechter bzw.
unterversorgten Gebieten. Als Modellregionen wurden Hamburg, Nordrhein-Westfalen (Kassenärztlicher
Vereinigungs (KV)-Bezirk Nordrhein und KV-Bezirk Westfalen-Lippe), Sachsen und Bayern
ausgewählt. Die Interviews wurden vor Ort in den Praxen der Teilnehmenden geführt.
Die ÄrztInnen wurden über die Studie aufgeklärt, gaben ihr schriftliches Einverständnis
zur Audioaufnahme und erhielten eine Aufwandsentschädigung. Ein positives Ethikvotum
der Lokalen Psychologischen Ethikkommission am Zentrum für Psychosoziale Medizin (LPEK)
des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf liegt vor (LPEK-0084).
Erhebungsinstrument
Die Inhalte des Interviewleitfadens bezogen sich auf strukturelle Merkmale (ärztliches
Fachgebiet, Qualifikation und Erfahrung, Anzahl Substituierter, Art der Praxis) sowie
auf die in der 3. BtMVVÄndV beschlossenen Neuerungen (größere Rechtssicherheit, neue
Bewertung des Beikonsums, veränderte Take-Home-Regelungen, Nutzung der Konsiliarregelung,
Herausnahme der Erforderlichkeit psychosozialer Betreuungsmaßnahmen und Kooperation
mit Apotheken sowie anderen Einrichtungen). Darüber hinaus enthielt der Leitfaden
Fragen zur Kooperation und Vernetzung substituierender ÄrztInnen und möglichen Versorgungsengpässen
in der Region.
Stichprobe
In den Modellregionen wurden insgesamt 31 Interviews mit substituierenden ÄrztInnen
geführt. In NRW und Bayern lehnten insgesamt 5 der angefragten potenziellen InterviewpartnerInnen
eine Teilnahme ab. Alle Interviewten verfügten über die Zusatzweiterbildung ‚Suchtmedizinische
Grundversorgung‘ oder die Fachkunde Sucht. In Hamburg wurden 5, in Nordrhein-Westfalen
12 (Westfalen-Lippe 6 Interviews, Nordrhein 6 Interviews), in Bayern 10 Interviews
mit ÄrztInnen aus allen 7 Regierungsbezirken (Unterfranken, Schwaben, Oberpfalz, Oberfranken,
Mittelfranken, Oberbayern, Niederbayern) und in Sachsen 4 Interviews durchgeführt.
Um sicherzustellen, dass die Interviewten Einschätzungen zur Versorgungssituation
in ihrer Region geben konnten, wurden keine substituierenden ÄrztInnen in die Befragung
aufgenommen, die unter einer Konsiliarärztin oder einem Konsiliararzt tätig waren.
Auswertung
Die Interviews dauerten zwischen 60 und 90 Minuten. Die Aufnahmen wurden innerhalb
von 5 Tagen transkribiert, anonymisiert und anschließend gelöscht. Auf wörtliche Zitate
wird in dem vorliegenden Artikel verzichtet, um die Anonymität der interviewten ÄrztInnen
zu wahren. Für den vorliegenden Artikel wurden die Transkripte von 2 ForscherInnen
entsprechend der Leitfadenbereiche gruppiert und ausgewertet. Im Rahmen des vollständigen
Durchlaufs des Originalmaterials wurden relevante Textbestandteile identifiziert,
extrahiert und Unterkategorien zur Bewertung und praktischen Relevanz der Änderungen
der 3. BtMVVÄndV sowie der strukturellen Bedingungen zugeordnet.
Ergebnisse
Es wurden Interviews mit substituierenden ÄrztInnen in unterschiedlichen Versorgungssettings
geführt ([Tab. 2]). Das Durchschnittsalter lag bei 58,5 Jahren, 77,4% waren männlich und 54,8% konsiliarisch
tätig. Neben in privater Praxis niedergelassenen ÄrztInnen haben sich auch angestellte
ÄrztInnen sowie ÄrztInnen aus Substitutionsambulanzen, PIAs und Medizinischen Versorgungszentren
(MVZ) an den Interviews beteiligt. Dementsprechend hoch war die Spannweite der substituierten
PatientInnen pro Einrichtung (35–800). Ebenfalls wurden große Unterschiede in der
Größe des Versorgungsgebiets der Substitutionseinrichtungen gefunden. Die maximale
Entfernung zwischen Wohnort der PatientInnen und den Substitutionspraxen betrug zwischen
10 und 170 km.
Tab. 2 Charakteristika der in den Modellregionen interviewten ÄrztInnen (N=31).
Männlich, N (%)
|
24 (77,4%)
|
Alter in Jahren, M (SD)
|
58,5 (8,1)
|
(39–72 Jahre)
|
Jahre in Substitution tätig, M (SD)
|
20,4 (8,4)
|
(3–30 Jahre)
|
Anzahl substituierter PatientInnen, M (SD)
|
209,2 (191,6)
|
(35–800 PatientInnen)
|
Facharztrichtung, N (%)
|
|
Allgemeinmedizin und/oder Innere Medizin
|
25 (80,6%)
|
Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie
|
6 (29,4%)
|
Art der Praxis, N (%)
|
|
Einzelpraxis/Gemeinschaftspraxis/Praxisgemeinschaft
|
23 (74,2%)
|
Substitutionsambulanz
|
3 (9,7%)
|
PIA
|
2 (6,4%)
|
MVZ
|
3 (9,7%)
|
Praxisorganisation, N (%)
|
|
Praxisbetrieb und Substitution räumlich getrennt
|
8 (25,8%)
|
Praxisbetrieb und Substitution räumlich nicht getrennt
|
16 (51,6%)
|
kein weiterer Praxisbetrieb, ausschließlich Substitution
|
7 (22,6%)
|
Größe des Einzugsgebietes in km, M (SD)
|
57,3 (45,8)
|
(10–170 km)
|
Konsiliarisch tätig, N (%)
|
17 (54,8%)
|
Bewertung der Änderungen der 3. BtMVVÄndV
Die Änderungen der 3. BtMVVÄndV wurden von den meisten Interviewten positiv bewertet.
Bezogen auf die praktische Relevanz der Änderungen bestehen Unterschiede zwischen
den einzelnen Bundesländern ([Tab. 3]).
Tab. 3 Bewertung und praktische Relevanz der 3. BtMVVÄndV in den Bundesländern Hamburg (HH),
Sachsen (SN), Nordrhein-Westfalen (NRW) und Bayern (BY).
Neuerungen der 3. BtMVVÄndV
|
Bewertung*
|
Praktische Relevanz*
|
HH
|
NRW
|
SN
|
BY
|
HH
|
NRW
|
SN
|
BY
|
Größere Rechtssicherheit, Bewertung durch BÄK
|
++
|
+
|
++
|
+
|
+/-
|
+
|
+/-
|
+
|
Neue Bewertung Beikonsum
|
++
|
++
|
++
|
++
|
-
|
+/o
|
+
|
+
|
Take-Home: max. 30 Tage/Ausnahme vom Sichtbezug: 5 Tage
|
++
|
++
|
++
|
++
|
++
|
+
|
+
|
++
|
Keine zeitliche Vorgabe für das Erreichen einer Opioidabstinenz
|
++
|
++
|
++
|
++
|
-
|
--
|
--
|
+
|
Herausnahme der Erforderlichkeit von PSB
|
++
|
++
|
+/-
|
+/-
|
++
|
-
|
+/-
|
-
|
Konsiliarbehandlung von 10 PatientInnen möglich
|
--
|
--
|
-
|
-
|
--
|
--
|
-
|
--
|
Substitution von PatientInnen mit Abhängigkeit von synthetischen Opioiden
|
+
|
+
|
+/-
|
++
|
--
|
+/-
|
--
|
--
|
*++Zustimmung 100–90%,+Zustimmung 89–61%,+/- Zustimmung 60–40%, Ablehnung 61–89%,
-- Ablehnung 90–100%.
Rechtssicherheit
Die größere Rechtssicherheit durch die Überführung der ärztlich-therapeutischen Bereiche
in die Richtlinienkompetenz der BÄK wird von fast allen Interviewten positiv bewertet.
In den Bundesländern Sachsen und Bayern muss sich die Änderung erst noch bewähren.
In Bayern ist die ‚Angst vor dem Staatsanwalt‘ bei vielen substituierenden ÄrztInnen
weiterhin spürbar, da jeder jemanden kennt, der in der Vergangenheit schon einmal
große rechtliche Probleme hatte. Unter den StaatsanwältInnen, RichterInnen aber auch
unter den Mitgliedern der Ärztekammern gäbe es BefürworterInnen und GegnerInnen der
Substitution. Es müsse sich erst noch zeigen, ob Formfehler oder ärztliche Entscheidungen
tatsächlich vor dem Berufsgericht ohne direkte strafrechtliche Konsequenzen diskutiert
werden.
Konsum weiterer psychotroper Substanzen (Beikonsum)
Die rechtlich abgesicherte Möglichkeit, die Substitution auch bei fortgesetztem Beikonsum
anderer psychoaktiver Substanzen fortführen zu können, entspricht laut Interviewten
einer guten medizinischen Praxis der Suchtbehandlung, zumal die meisten PatientInnen
einen polyvalenten Konsum praktizieren. Die Reduktion des Beikonsums bleibt ein zentrales
Thema in der suchtmedizinischen Behandlung, wird jedoch realistisch über einen langen
Zeitraum gedacht. Einigen PatientInnen falle es somit leichter bzw. werde es erstmals
möglich, ihren Beikonsum ehrlich anzugeben, ohne einen Ausschluss aus der Behandlung
befürchten zu müssen. Auf diesem Hintergrund seien Gespräche über problematischen
Beikonsum in einer offeneren Atmosphäre durchführbar. Während in Sachsen kristallines
Methamphetamin als ein zentrales Thema genannt wurde, was zu großen, in einigen Fällen
irreversiblen gesundheitlichen Schäden der Substituierten und zu einer Steigerung
der Aggressivität geführt hat, spielen in Bayern eher synthetische Cannabinoide (‚Kräutermischungen‘)
als Cannabisersatz eine Rolle. Alkohol, Benzodiazepine, Z-Substanzen und Pregabalin
wurden als weitere Substanzen genannt. Bezogen auf Pregabalin ist unklar, ob der Beikonsum
dieser Substanz in der Zukunft eher ab- oder zunehmen wird. Positiv angemerkt wurde,
dass es mittlerweile aussagekräftige und fälschungssichere, jedoch teurere Analysemethoden
wie beispielweise Speicheltests gibt. Sie könnten eine Alternative zu der Urinabgabe
unter Sicht darstellen.
Take-Home und Ausnahme vom Sichtbezug
Die Möglichkeit einer Take-Home-Verordnung von bis zu 30 Tagen und die Ausnahme vom
Sichtbezug von 5 Tagen werden als eine Erleichterung im Praxisalltag gewertet. Während
zuvor für Arbeitseinsätze außerhalb des Wohnorts, Urlaube oder auch kurze Verwandtenbesuche
‚kreative‛ und z. T. aufwendige Lösungen gefunden werden mussten, sind nunmehr Ausnahmen
leichter möglich. Allerdings sind die substituierenden ÄrztInnen bei einer Take-Home-Verschreibung
von 3 Wochen oder 30 Tagen zurückhaltend und setzen diese nur ausnahmsweise bei sehr
stabilen PatientInnen ein. Die PatientInnen kennen zumeist diese neue Verschreibungsmöglichkeit,
drängen aber nicht stärker als vorher auf eine Take-Home-Mitgabe. Häufiger werden
14-Tage-Rezepte ausgegeben, oft in Form eines so genannten Mischrezepts. Das bedeutet,
dass die PatientInnen in der Apotheke jeweils für eine Woche das Substitut mit nach
Hause bekommen und es zwischenzeitlich einmal unter Sicht in der Apotheke einnehmen
müssen. Eine verlängerte Take-Home-Mitgabe machen die BehandlerInnen auch von der
Dosis und der Art des Substitutionsmittels abhängig, da sie nicht möchten, dass die
PatientInnen einen größeren Bestand zu Hause lagern. Ferner spielt die Art und Menge
des Beikonsums eine Rolle bei der Entscheidung für eine Take-Home-Verschreibung. Die
erweiterte Take-Home-Mitgabemöglichkeit wird auch unter dem Aspekt der Teilhabe der
PatientInnen am sozialen Leben positiv bewertet.
Keine zeitliche Vorgabe für das Erreichen einer Opioidabstinenz
Auch diese Neuerung wird positiv bewertet, da sich die BehandlerInnen nunmehr weder
der KV, noch der Krankenkasse oder dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
(MDK) gegenüber rechtfertigen müssen. Das mögliche Therapieziel Abstinenz, allerdings
ohne eine zeitliche Vorgabe, behalten die BehandlerInnen dennoch bei den meisten PatientInnen
im Auge und regen bei langfristig stabilen PatientInnen immer wieder Abdosierungsversuche
an. Allerdings wurde deutlich, dass die allermeisten möglicherweise eine lebenslange
Substitutionsbehandlung benötigen.
Psychosoziale Begleitung (PSB)
Grundsätzlich wird begrüßt, dass eine Substitutionsbehandlung nicht mehr an die PSB
gebunden ist. Die erforderlichen Bescheinigungen beizubringen habe viel Kapazität
gebunden, zumal es immer auch PatientInnen gab, die nicht zur Teilnahme an einer PSB
zu bewegen waren bzw. deren PSB-Teilnahme nicht notwendig war. Die ÄrztInnen mussten
finanzielle Einbußen hinnehmen, wenn ihnen die entsprechenden Vergütungsziffern abgezogen
wurden. Es sei bei sehr stabilen PatientInnen absurd gewesen, eine entsprechende Bescheinigung
beibringen zu müssen.
Selbstkritisch wird angemerkt, dass weniger ‚Drängeln‘ auch dazu führen kann, dass
PatientInnen, die vielleicht eine PSB nötig hätten, in einzelnen Fällen keine PSB
in Anspruch nähmen. Eine begleitende PSB halten alle ÄrztInnen allerdings für sinnvoll,
vor allem bei neu eingestellten PatientInnen sowie anlassbezogen in bestimmten Lebensphasen
oder persönlichen Krisen. Die meisten der interviewten ÄrztInnen verfahren wie bisher;
einige verlangen weiterhin von allen PatientInnen eine Bescheinigung.
Konsiliararztmodell
Die nun mögliche Aufstockung der PatientInnenzahl auf 10 wird von fast allen substituierenden
ÄrztInnen für eine Überforderung gehalten, sowohl für die unter Supervision substituierenden
ÄrztInnen, als auch für den Konsiliarius. Das Konsiliararztmodell wird von den meisten
Interviewten grundsätzlich in Frage gestellt, ist aber im ländlichen Bereich oft die
einzige Möglichkeit, substituierte PatientInnen wohnortnah zu versorgen. Eine an den
Interviews teilnehmende Substitutionspraxis ist Konsiliarius für sehr viele ÄrztInnen,
von denen inzwischen 2 auf 10 PatientInnen aufgestockt haben. Dies kann aber nur durch
eine sehr intensive Betreuung der ÄrztInnen, teilweise vor Ort, realisiert werden.
Opioide anstatt Opiate
PatientInnen mit einer Abhängigkeit von (halb-)synthetischen Opioiden rechtlich abgesichert
substituieren zu können, wird einheitlich begrüßt. Für die meisten Interviewten ist
dies derzeit allerdings ohne große praktische Relevanz, da die bestehenden Regularien
in Deutschland bisher eine Situation wie in den USA mit einer sehr großen Anzahl von
PatientInnen mit einer iatrogenen Opioidabhängigkeit verhindert haben. Nur wenige
ÄrztInnen berichten von erfolgreichen Behandlungen. Vielen Interviewten ist die Vorstellung
unangenehm, diese PatientInnen dem Schema einer Substitutionstherapie unterwerfen
zu müssen. Eine Zusammenarbeit mit SchmerztherapeutInnen wäre wünschenswert.
Abgabe des Substitutionsmittels
Um die wohnortnahe Versorgung der SubstitutionspatientInnen zu verbessern, können
Substitutionsmittel in Zukunft in stationären Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation,
Gesundheitsämtern, Alten- oder Pflegeheimen zum unmittelbaren Gebrauch abgegeben werden,
sofern die substituierende ÄrztIn mit diesen Einrichtungen eine Vereinbarung getroffen
hat. Diese neuen Möglichkeiten werden begrüßt und als Erleichterung gesehen. In der
Vergangenheit haben die substituierenden ÄrztInnen kranke PatientInnen teilweise täglich
im Hausbesuch selbst versorgt. Dies sei bei Einzelfällen noch leistbar gewesen, aber
vor dem Hintergrund einer alternden Klientel und in Erwartung einer zunehmenden Pflegebedürftigkeit
nicht mehr durchführbar.
Die meisten Interviewten haben sich, wenn die Notwendigkeit bestand, aktiv auf die
Suche nach stationären oder ambulanten Pflegediensten begeben mit bisher durchweg
guten Erfahrungen, v. a. mit ambulanten Pflegediensten. Proaktiv wurden Pflegedienste
in die Qualitätszirkel eingeladen, in Ausnahmefällen haben Pflegedienste ihrerseits
ihr Interesse bekundet und um Informationen gebeten. Stationäre Pflegeeinrichtungen
erscheinen den Interviewten eher als eine ‚Black Box‘ und es sei unklar, wie gut die
Pflegekräfte ausgebildet sind. Dies wird auf dem Hintergrund, dass die ÄrztInnen immer
in der Verantwortung bleiben, kritisch gesehen, zumal die Vertragslage vielfach ungeklärt
ist. Auch in der Palliativpflege seien die betreuenden ÄrztInnen anfangs nicht auf
die hohen Opioiddosen eingestellt. Rehabilitationseinrichtungen, in denen die Substitutionsbehandlung
problemlos weitergeführt wird, sind äußert selten. Es würde nach wie vor erwartet,
dass PatientInnen vor der Rehabilitationsbehandlung entweder abdosiert oder entgiftet
werden.
Die geänderte Take-Home-Regelung ist für die BehandlerInnen in der Praxis am wichtigsten.
Strukturelle Voraussetzungen
Die Größe des Einzugsgebiets einer substituierenden Einrichtung ist nicht nur davon
abhängig, ob sich diese in einem großstädtischen oder ländlichen Bereich befindet.
Die PatientInnen fahren auch aus dem Umland in die Großstädte, wenn die Versorgung
nicht gewährleistet ist. Anzunehmen ist auch, dass die Lage der Praxen, ihre Erreichbarkeit
sowie ihre Hoch- bzw. Niedrigschwelligkeit dabei eine große Rolle spielt.
PsychiaterInnen
In allen Modellregionen besteht ein Mangel an psychiatrischen Praxen, die substituierte
PatientInnen (mit-)behandeln. Substituierende somatische ÄrztInnen verfügen i. d.
R. über eine Expertise in der Behandlung psychischer Störungen, die auf viel Erfahrung
beruht. Die Situation wird dann als zufriedenstellend erlebt, wenn wenigstens eine
psychiatrische Praxis oder psychiatrische Ambulanz vor Ort zur Mitbehandlung bzw.
Kooperation bereit ist. Für substituierende ÄrztInnen ist es außerordentlich wichtig,
dass psychiatrische Abteilungen der Bezirkskrankenhäuser/Universitätskliniken bereit
sind, psychiatrische Notfälle aufzunehmen und zeitnah Teilentgiftungen durchführen.
Dies ist nicht überall gegeben und teilweise rückläufig. PsychotherapeutInnen stehen
fast durchgehend nicht für diese Klientel zur Verfügung. Eine bessere Kooperation
wird angemahnt. Eine hausärztliche Betreuung somatischer Erkrankungen, auch im Hinblick
auf die zunehmend älter werdenden PatientInnen, solle stets gewährleistet sein.
Apotheken
Die Zusammenarbeit mit Apotheken wird in einem unterschiedlichen Ausmaß benötigt und
ist für Praxen mit einer eigenen Vergabe der Substitutionsmittel nicht vorrangig.
Die Zusammenarbeit wird durchgehend als sehr gut bewertet und die Apotheken seien
motiviert und verantwortungsvoll im Umgang mit den PatientInnen. Praxen mit einem
großen Einzugsgebiet, wie in Sachsen oder Bayern, sind in einem hohen Maße auf die
Zusammenarbeit mit Apotheken, welche die Sichtvergabe durchführen, angewiesen. Oftmals
ist von den substituierenden ÄrztInnen Überzeugungsarbeit zu leisten, was auch eine
persönliche Kontaktaufnahme mit den ApothekerInnen in der Apotheke vor Ort einschließen
kann. Es gibt aber weiterhin Gebiete, in denen keine einzige Apotheke zur Substitutionsvergabe
unter Sicht bereit ist.
Die Apotheken kämen ihrer monatlichen Informationspflicht über die Nachweisführung
der Sichtvergabe sehr gut nach und genaue Informationen über die Vergabe können bei
Bedarf abgerufen werden. Die neuen Apothekenverträge der Bundesapothekerkammer (ABDA)[1] zur Überlassung von Substitutionsmitteln zum unmittelbaren Gebrauch werden jedoch
selten angewandt und als zu umfangreich eingestuft. Zur Anwendung kommen eigene Verträge,
was aber als unbefriedigend bewertet wird. Weitgehend einig sind sich die substituierenden
ÄrztInnen dahingehend, dass Apotheken für die Sichtvergabe der Substitutionsmittel
entlohnt werden sollten, da auch Hygienevorschriften, Geräte, Vergabetresen usw. finanziert
werden müssten.
Kooperationen und Vernetzungen
Es wurden in der Vergangenheit viele formale Netzwerke aufgebaut, dazu gehören ‚Runde
Tische‘ und Qualitätszirkel, teilweise über Bezirksgrenzen oder Bundeslandgrenzen
hinaus. Hier kommen unterschiedliche Professionen zusammen; neben den substituierenden
ÄrztInnen auch ApothekerInnen, VertreterInnen von KVen, Krankenkassen, Polizei, Staatsanwaltschaft,
PSB, VertreterInnen von Kliniken, Gesundheitsämtern, Justizvollzugsanstalten, Bewährungshilfen
und Pflegediensten. ÄrztInnen, die unter konsiliarischer Betreuung arbeiten, sind
zur Teilnahme nur sehr eingeschränkt zu motivieren. Im Laufe der Zeit sind auch stabile
informelle Netzwerke entstanden. Übereinstimmung besteht darin, dass niedergelassene
ÄrztInnen nicht alle opioidabhängigen PatientInnen substituieren können. Es kommt
immer wieder vor, dass einzelne PatientInnen in einer Hausarztpraxis nicht mehr tragbar
sind. Hierfür bietet es sich an und wird auch praktiziert, sehr problematische PatientInnen
an Substitutionsambulanzen oder Schwerpunktpraxen abzugeben und dafür von diesen stabile
PatientInnen aufzunehmen. Wenn keine Ambulanzen oder Schwerpunktpraxen vorhanden sind,
müssten diese PatientInnen auf große Städte ausweichen, teilweise auch über Bundeslandgrenzen
hinweg (z. B. fahren PatientInnen aus Unterfranken nach Offenbach oder Frankfurt am
Main). Durchaus häufig sind Netzwerke in NRW und Bayern, in denen sich substituierende
ÄrztInnen zu einer zentralen Wochenendvergabe zusammengeschlossen haben. In ländlichen
Gebieten ist dies allerdings nicht möglich, da die PatientInnen dann unter Umständen
am Wochenende noch größere Enfernungen bewältigen müssten.
Für substituierende ÄrztInnen können Qualitätszirkel ein guter Ausgangpunkt für weitere
Vernetzungstätigkeiten wie eine gemeinsame Wochenendvergabe sein.
Finanzen
Die finanzielle Vergütung wird von den meisten ÄrztInnen mit Einschränkungen als ausreichend
bis gut eingeschätzt. Allerdings wird der Aufwand für ‚schwierige‘ PatientInnen nicht
entsprechend abgebildet. Gespräche mit den PatientInnen würden weiterhin nicht ausreichend
honoriert. Die Interviewten gehen davon aus, dass die finanziellen Regelungen die
Take-Home-Vergabe nicht ermutigen und somit die Teilhabemöglichkeit der PatientInnen
erschweren. Nach wie vor ist der Verdienst am höchsten, wenn die Vergabe des Substitutionsmittels
täglich in den Praxen stattfindet. Auch bei längeren Take-Home-Zeiten bleiben der
grundsätzliche Substitutionsaufwand und die Verantwortung hoch. Ob über eine bessere
Finanzierung der Substitutionsbehandlung weitere ÄrztInnen gewonnen werden können,
wird unterschiedlich eingeschätzt und mehrheitlich mit Skepsis betrachtet. Einzelne
Gebiete könnten aber durchaus profitieren.
Sicherung der Substitution
Die Substitution brauche weitere, kontinuierliche politische Aufmerksamkeit. Die 3.
BtMVVÄndV sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, werde aber ohne flankierende
Maßnahmen an der drohenden Unterversorgung mit niedergelassenen ÄrztInnen grundlegend
wenig ändern. Ohne den Rückhalt von Bezirkskliniken und angegliederten Substitutionsambulanzen
bei der Versorgung von PatientInnen mit einer gravierenden psychiatrischen Komorbidität,
geringer Adhärenz oder Verhaltensauffälligkeiten wie stark forderndes oder aggressives
Auftreten ist zweifelhaft, ob neue niedergelassene ÄrztInnen gewonnen werden können.
Positiv hervorgehoben wird der Pakt für Substitution in Baden-Württemberg. Der Wunsch
berenteter SubstitutionsärztInnen, weiterhin in der Substitution aktiv zu bleiben,
soll formal erleichtert werden. Auch wenn dies langfristig den Mangel an jüngeren
substituierenden ÄrztInnen nicht ausgleichen könne, seien diese ÄrztInnen an einigen
Standorten wichtig für die Aufrechterhaltung der Substitution. Zudem verfügen sie
über sehr viel Erfahrung und eine hohe Motivation.
Obgleich flächendeckend der Wunsch geäußert wird, dass mehr PIA, Substitutionsambulanzen
und Krankenhäuser möglichst niedrigschwellig substituieren mögen, so sollte doch der
Fokus weiter auf niedergelassenen ÄrztInnen bleiben. Es sollte vermieden werden, dass
nur eine reine Suchtbehandlung stattfindet und weitere Erkrankungen möglicherweise
nicht diagnostiziert und behandelt würden. Gleichzeitig erscheint jedoch auch eine
Zentrierung sinnvoll, um die Qualität der Substitutionsbehandlung zu garantieren und
ggf. zu steigern. Daher wird auch das Konsiliararztmodell überwiegend sehr kritisch
gesehen. Substitutionsbusse könnten ländliche Gebiete abdecken, aber auch hierfür
fehle das Personal. Stärker in den Fokus sollten die Medizinischen Fachangestellten
treten, denen eine große Bedeutung für die Vergabe zukommt. Die Dokumentation sollte
weiter verschlankt werden und bei Fehlern, auch beim Ausfüllen von Rezepten, den ÄrztInnen
nicht per se eine Absicht unterstellt und diese finanziell geahndet werden. Weitere
Anstrengungen sollten unternommen werden, um der Stigmatisierung auf allen Ebenen,
auch in Krankenhäusern, entgegenzuwirken.
Für die Interviewten ist es sehr wichtig, die Suchtbehandlung und speziell die Substitution
stärker in die Ausbildung der MedizinerInnen zu integrieren. So sieht die Weiterbildungsordnung
im Bereich Psychiatrie eine Tätigkeit im Suchtbereich vor. Das sollte konsequent umgesetzt
werden. In den letzten Jahren sei viel Werbung für HausärztInnen gemacht worden, v.
a. im ländlichen Bereich. Teilweise seien Erfolge spürbar, so würden Hausarztpraxen
wieder besetzt und Lehrarztpraxen bekommen verstärkt Anfragen nach Ausbildungsplätzen.
Dieses Zeitfenster müsse genutzt werden, da sich die ÄrztInnen nach Abschluss der
fachärztlichen Ausbildung auf einen Bereich der ärztlichen Tätigkeit festgelegt haben.
So sollte die Zusatzweiterbildung ‚Suchtmedizinische Grundversorgung‘ schon vor dem
Facharzt besucht und abgeschlossen werden können. Der Kurs selbst sei häufig allerdings
sehr theoretisch, würde nicht spezifisch auf die tatsächlichen Anforderungen einer
Substitutionsbehandlung vorbereiten. Zudem wäre es wichtig zu betonen, dass die praktische
Arbeit Freude bereitet, weil man Erfolge sieht und interessante Menschen mit vielfältigen
Lebenserfahrungen über eine lange Zeiträume begleitet und sein gesamtes medizinisches
Wissen anwenden und erweitern könne. Jungen KollegInnen sollten die Vorteile bewusst
gemacht werden, die auch darin bestehen können, in einem Verbund zu arbeiten und engagierte
AnsprechpartnerInnen zu haben.
Diskussion
Diese Studie untersuchte, wie die im Oktober 2017 in Kraft getretenen Änderungen der
BtMVV von substituierenden ÄrztInnen eingeschätzt werden und welche Relevanz sie für
den Substitutionsalltag sowie für die Rahmenbedingungen der Substitution in Deutschland
haben. Es konnten substituierende ÄrztInnen aus unterschiedlichen Versorgungssettings
und Praxisformen interviewt werden. Grundsätzlich werden die Änderungen der BtMVV
positiv bewertet und Regularien, die bis dahin stets als hemmend und sogar bedrohlich
genannt wurden, scheinen nun überwunden [19]
[21]. Das bundesdeutsche Betäubungsmittelgesetz wird nicht in Frage gestellt, hat es
doch nach Meinung der Interviewten eine ‚Opioidwelle‘, wie aus den USA bekannt, in
Deutschland verhindert [22]
[23]
[24].
Die Änderungen der BtMVV wurden als erleichternd und praxisrelevant empfunden. Dazu
gehören die Ausdehnung der Take-Home-Verordnung auf 30 Tage und die Ausnahme vom Sichtbezug
auf 5 Tage sowie der veränderte Umgang mit Beikonsum. Ein wesentlicher Bestandteil
der 3. BtMVVÄndV ist die Überführung der ärztlich-therapeutischen Sachverhalte in
die Richtlinienkompetenz der BÄK. Die Landesärztekammern sind nun bei eventuellen
Verstößen gegen die ärztlichen Berufspflichten im Rahmen der Substitutionsbehandlung
die ersten Ansprechpartner. Während in Hamburg und Nordrhein-Westfalen schon vorher
weniger Rechtsunsicherheit bestand, fällt in Bayern die tiefe Skepsis hinsichtlich
der Kontrollbehörden auf. Hier muss sich die Änderung in der Praxis erst bewähren.
Politische Entscheidungsträger auf Landesebene, sowie KVen und Ärztekammern müssten
deutlich machen, dass die Substitution im Rahmen der vorliegenden Verordnungen gewollt
ist und sicherstellen, dass z. B. Staatsanwälte oder Gesundheitsämter auch in kleineren
Städten entsprechend verfahren. Die bürokratischen Anforderungen bleiben allerdings
weiterhin hoch und sind fehleranfällig. Neben den Anklagen und Verurteilungen von
substituierenden ÄrztInnen, die in der Vergangenheit mediale Aufmerksamkeit erlangten
[10], sind die BehandlerInnen weiter von Regresszahlungen an Krankenkassen bei Bagatellfehlern
bedroht.
Eine Möglichkeit, das Fehlen von substituierenden Hausarztpraxen auszugleichen, wäre
eine weitere Zentrierung auf größere Praxen bzw. Versorgungszentren oder Ambulanzen.
Die Unterversorgung in ländlichen Gebieten kann damit jedoch nicht verhindert werden,
da solche Versorgungsmöglichkeiten eher im städtischen Bereich oder Ballungsräumen
entstehen dürften. Die wohnortnahe Substitution in eher ländlichen Gegenden würde
dadurch erschwert und die bisherige Vielfalt unterschiedlicher Substitutionspraxen
langfristig in Frage gestellt. Auch wünschen nicht alle SubstitutionspatientInnen
eine Behandlung in spezialisierten Praxen. Das Konsiliararztmodell ist für einige
Gebiete unverzichtbar, kann aber eine drohende Unterversorgung von OpioidpatientInnen
mit einem Substitutionswunsch nicht verhindern. Auch wenn 22% der ÄrztInnen im Rahmen
der Konsiliarregelung unter suchtmedizinisch qualifizierten KonsiliarärztInnen substituieren,
versorgt diese Gruppe nach den Angaben der Bundesopiumstelle lediglich 1% aller substituierten
PatientInnen [25].
Quo vadis: Zentrierung der Substitutionsbehandlung auf wenige große Ambulanzen oder
Erhalt der Vielfalt von Substitutionsangeboten?
Der Wert einer gegenseitigen Vernetzung wurde in der vorliegenden Untersuchung sehr
häufig betont, wie schon in der Studie von Schulte et al. dargestellt [19]. Eine praxisnahe Weiterbildung und die kollegiale Unterstützung bei ‚schwierigen‘
PatientInnen trägt dazu bei, dass ÄrztInnen eine Substitutionsbehandlung beginnen
oder laufende Behandlungen nicht vorzeitig beenden [26]. Viele der interviewten substituierenden ÄrztInnen berichten über gut funktionierende
lokale Verbünde zur gegenseitigen Unterstützung. Gute Kooperationen mit weiteren,
an der Substitution beteiligten Professionen werden als hilfreich und unterstützend
erlebt. Hervorzuheben ist die durchgehend gute Zusammenarbeit mit Apotheken, ohne
deren Unterstützung eine annähernd flächendeckende Versorgung von substituierten PatientInnen
nicht gegeben wäre. Auch die PSB wird weiter als ein unverzichtbarer Bestandteil der
Substitutionsbehandlung betrachtet.
Eine erhöhte Prävalenz psychischer Komorbidität bei substituierten Opioidabhängigen
ist hinlänglich bekannt [14]
[15]
[27]. In der PREMOS-Studie waren mit 38,4% Depressionen die häufigsten Einzeldiagnosen
gefolgt von Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen und Schlafstörungen [28]. Die Studie von Lieb und KollegInnen konnte zudem zeigen, dass Substituierte in
größeren Behandlungseinrichtungen mit mehr PatientInnenkontakten deutlich mehr psychische
Erkrankungen aufwiesen [29]. Psychisch stark auffällige substituierte PatientInnen können oftmals nur unzureichend
in niedergelassenen Hausarztpraxen versorgt werden. Die interviewten niedergelassenen
ÄrztInnen wünschen sich daher die Möglichkeit, diese PatientInnen an Schwerpunktpraxen
oder Ambulanzen ‚im Tausch‘ gegen stabilere Substituierte überweisen zu können. Der
Mangel an PsychiaterInnen unter den substituierenden FachärztInnen in Deutschland
ist offensichtlich [19]
[21]. Substituierte Opioidabhängige weisen jedoch nicht nur psychische Komorbiditäten
auf, sondern sind häufig auch somatisch hoch belastet und Erkrankungen werden mit
dem steigenden Alter der Substituierten zunehmen. Um diese PatientInnen ganzheitlich
medizinisch versorgen zu können, ist die Zusammenarbeit unterschiedlicher medizinischer
Fachrichtungen notwendig. Die mangelnde Bereitschaft von PsychiaterInnen, diese Patientenklientel
(mit) zu behandeln sowie lange Wartelisten, aber auch die Vorbehalte in Krankenhäusern
und psychiatrischen Kliniken gegenüber diesen PatientInnen, erschwert die Arbeit der
substituierenden ÄrztInnen. In ihrem Positionspapier hat die Deutsche Suchtgesellschaft
den Abbau von Zugangsschwellen für substituierte OpioidpatientInnen in Angeboten ambulanter,
teilstationärer und stationärer Rehabilitationseinrichtungen gefordert [30]. Älter werdende SubstitutionspatientInnen erfordern eine zunehmende Zusammenarbeit
von substituierenden ÄrztInnen mit ambulanten und stationären Pflegediensten sowie
Hospizen. Es bietet es sich an, Schulungsmaterialien zentral zu erarbeiten und gezielte
Fortbildungsangebote vorzuhalten.
Die Stigmatisierung von Opioidabhängigen, aber auch von Menschen mit anderen Abhängigkeitserkrankungen,
ist gesellschaftlich nicht überwunden und das allgemeine Krankheitsverständnis von
Abhängigkeit hat moralische Zuschreibungen und Schuldzuweisungen (‚schwacher Wille‘)
nicht gänzlich ersetzt. MedizinerInnen außerhalb der Substitution treten abhängigen
Menschen allzu häufig mit einem Laienverständnis von Sucht und weniger mit professionellem
Wissen gegenüber. Dies mag u. a. der Tatsache geschuldet sein, dass gut integrierte,
unauffällige Opioidsubstituierte nicht wahrgenommen werden, wohingegen ‚schwierige
PatientInnen‘ auffällig sind und den alltäglichen Medizinbetrieb belasten oder sogar
dominieren können.
Der Zeitpunkt der durchgeführten Interviews fiel, mit Ausnahme eines telefonischen
Gesprächs im April, knapp vor den Beginn der von der Bundesregierung beschlossenen
Beschränkungen sozialer Kontakte aufgrund der COVID-19-Pandemie. SubstitutionspatientInnen
gehören aufgrund ihrer häufig bestehenden Komorbiditäten der COVID-19-Risikogruppe
an. Gleichzeitig muss die (tägliche) Versorgung mit Substitutionsmedikamenten gewährleistet
bleiben. Im Falle von Schließungen von Substitutionseinrichtungen stünden alternative
Vergabestellen und Behandlungszentren kaum zur Verfügung [31]. Das im März erlassene ‚Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen
Lage von nationaler Tragweite‘ ermächtigte das BMG Ausnahmen von Regelungen des BtMG
und der BtMVV in der Vergabe- und Verordnungspraxis von Substitutionsmitteln zuzulassen
(SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung), mit dem Ziel, Kontakte zu reduzieren,
aber gleichzeitig die Versorgung der PatientInnen zu sichern und Drogenbeschaffung
sowie -konsum vorzubeugen [32]. Während der epidemischen Lage dürfen bspw. konsiliarisch tätige ÄrztInnen ohne
suchtmedizinische Qualifikation mehr als 10 PatientInnen behandeln, die Ausnahme vom
Sichtbezug wurde auf 7 Tage ausgedehnt und Take-Home-Verordnungen können ohne persönlichen
ärztlichen Kontakt via Postweg oder Botendienst ausgegeben werden [33]. Die zu diesem Zeitpunkt seit zweieinhalb Jahren in Kraft getretenen Neuerungen
der 3. BtMVVÄndV stellten eine hilfreiche Grundlage für die COVID-19-bedingten Änderungen
der BtMVV dar, die sowohl BehandlerInnen als auch PatientInnen den Umgang mit der
Verschreibung und Abgabe von Substitutionsmitteln in diesen Zeiten deutlich erleichtern.
Ohne die 3. BtMVVÄndV wären die Ausnahmeregelungen zur Substitution während der Coronapandemie
vermutlich nicht möglich gewesen.
Limitationen
Die Auswahl der Interviewteilnehmenden erfolgte nicht durch eine Zufallsauswahl und
ist – wie bei qualitativen Studien überwiegend der Fall – nicht als repräsentativ
anzusehen. ÄrztInnen ohne eine suchtmedizinische Weiterbildung, die im Rahmen des
Konsiliarverfahrens tätig sind, wurden nicht interviewt, da sie lediglich rund 1%
der SubstitutionspatientInnen behandeln [25]. Lediglich 5 angefragte substituierende ÄrztInnen haben die Interviewanfrage abgelehnt,
2 aus Zeitgründen und 3 aus mangelndem Interesse an einem Interview. Auch wenn die
Interviews in ausgewählten KV-Regionen mit einer geografisch unterschiedlich guten
Versorgung von SubstitutionspatientInnen stattfanden, ist die Studie nicht repräsentativ
für das gesamte Bundesgebiet.
Durch die 3. BtMVVÄndV ist die Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger für die substituierenden
ÄrztInnen rechtlich sicherer und besser an den Behandlungsalltag angepasst worden.
Die veränderten Vorschriften sind eine gute Grundlage, um neue ÄrztInnen für eine
solche Behandlungsform zu motivieren, reichen alleine jedoch nicht aus. Kooperationen
werden zukünftig zunehmend wichtiger. Auch abseits der Metropolen gibt es gute Modelle
gelungener Vernetzungen der substituierenden ÄrztInnen untereinander, aber auch mit
weiteren Akteuren wie Apotheken, Pflegeeinrichtungen, PSB und staatlichen Institutionen.
Wesentlich für die niedergelassenen substituierenden ÄrztInnen ist die Unterstützung
durch Substitutionsambulanzen oder Kliniken bei PatientInnen, die in den Praxen nicht
gut versorgt werden können. Ein kollegialer Austausch von somatischen und psychiatrischen
FachärztInnen ist weiterhin schwierig. Die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen
muss einen größeren Raum in der Ausbildung von MedizinerInnen einnehmen, damit deutlich
wird, dass eine Substitutionsbehandlung von OpioidpatientInnen weit mehr ist als eine
reine medikamentöse ‚Ersatztherapie‘ und einen ganzheitlichen und zugleich individualisierten
Behandlungsansatz erfordert.