physiopraxis 2021; 19(02): 26-29
DOI: 10.1055/a-1330-5053
Therapie

Wenn Gretchen fragt – Verursacht Sitzen Rückenschmerzen?

Jochen Schomacher
 

Sie scheint simpel und ist doch bis heute nicht eindeutig zu beantworten: die Gretchenfrage, ob Sitzen zu Rückenschmerzen führt. Ja, sagen die einen mit Bezug auf Rückenschule und Erfahrungswerte. Nein, sagen die anderen, da wissenschaftliche Beweise dafür fehlen. Ein Blick auf den aktuellen Stand der Wissenschaft.


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Jochen Schomacher ist Physiotherapeut, PhD, und lebt in Erlenbach ZH in der Schweiz. Er unterrichtet in der Weiterbildung zur Manuellen Therapie, ist Autor vieler Veröffentlichungen und überzeugt, dass die Physiotherapie viel einfacher ist, als sie häufig dargestellt wird.

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© Thieme Group/durbandesign.de

Viele Patienten fragen, wie sie sitzen sollen, um Rückenschmerzen zu vermeiden. Doch Physiotherapeuten haben wie die Wissenschaft keine einheitliche Meinung zur besten Sitzhaltung [1]. Forscher fanden zwar einen Zusammenhang zwischen mehr Sitzen und mehr Rückenschmerz beispielsweise nach vier Tagen [2] und nach drei Monaten [3], doch solche Querschnittstudien können keine Ursache-Wirkung-Beziehung aufzeigen. Literaturanalysen zeigten sogar eine starke Evidenz dafür, dass es keine Verbindung zwischen beruflichem Sitzen und Rückenschmerz gibt [4], [5]. Und doch ist Schmerz nach langem Sitzen und Stehen ein typisches Symptom bei Patienten mit Lumbalgie [6].

Zu Recht fragen sich viele daher: Wie soll ich nun sitzen? Gerade oder entspannt? Ruhig oder dynamisch? Oder sollte ich besser stehen, statt zu sitzen? Brauche ich teure ergonomische Sitzmöbel oder tut es auch der einfache Stuhl? Die Vielfalt der möglichen Antworten zeigt, dass ein pathogenetisches Denkmodell fehlt, mit dem alle Physiotherapeuten einverstanden sind. Es ist daher sinnvoll, sich zunächst mit der Frage zu beschäftigen, warum Sitzen Rückenschmerzen auslösen können sollte.

Studien können bisher keine Ursachen-Wirkung-Beziehung zwischen Sitzen und Rückenschmerz zeigen.

Muskeln sind nicht überanstrengt

Studien zeigen, dass die Rückenmuskulatur von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen während eines 30-minütigen ruhigen Sitzens im EMG nicht ermüdet war. Und das, obwohl die Patienten eine subjektive Ermüdung angaben und sie sich in der Zeit in Rumpf und Becken mehr bewegten als gesunde Kontrollprobanden [7]. Auch die Nackenmuskeln waren messbar nicht verspannt, obwohl die Patienten dies subjektiv empfanden (PHYSIOPRAXIS 7-8/20, S. 20) [8], [9].

Die Muskelaktivität in aufrechter Haltung ist allgemein gering [10]. Beim aufrechten Sitzen beispielsweise bleibt sie im thorakalen M. erector spinae und M. trapezius pars descendens unter 5 % der maximal möglichen Kontraktion (MVC, Maximum Volontary Contraction) und in den zervikalen Extensoren unter 15 % MVC [11]. Diese Anspannungsintensitäten sind gewöhnlich nicht ermüdend.


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Druck in den Bandscheiben spielt keine große Rolle

Die intradiskale Druckmessung des schwedischen Forschers Alf Nachemson Ende der 1960er-Jahre (ABB., S. 28) [12] war ein wesentlicher Auslöser der Rückenschulbewegung Anfang der 1980er-Jahre [13], [14]. Ihre Grundidee war es, den Rücken zu entlasten, um den Druck auf die Bandscheiben zu reduzieren. Noch 1999 wurde in einer ähnlichen Studie das „schlaffe“, angelehnte Sitzen propagiert, weil sich dabei der intradiskale Druck geringer zeigte als beim aufrechten, freien Sitzen [15]. Diese Arbeiten berücksichtigten jedoch nicht, dass der Druck die kollagenen Fasern im Anulus fibrosus kaum beansprucht, die für Zug gebaut sind.

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ABB. Intradiskale Druckverhältnisse bei Alltagsbelastungen bezogen auf den Druck beim normalen Stehen nach Nachemson (gelb) im Vergleich zu den Daten von Wilke (blau) [12] © Nachemson A, Elfström G. Intravital dynamic pressure measurements in lumbar discs. A study of common movements, maneuvers and exercises. Scand J Rehabil Med Suppl 1970; 1: 1–40

Zwar fördert der konstante Druck im Sitzen und Stehen nicht die Ernährung der Bandscheibe, wofür Bewegen zweifelsohne besser ist. Doch dies ist keine Alternative für den, der am Schreibtisch sitzen muss oder im Kino und Zug sitzen will. Zudem können wir die Ernährung der Bandscheibe klinisch nicht messen, weshalb diese uns im Clinical Reasoning wenig nutzt.


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Biomedizinische Ursachen für Rückenschmerzen

So gibt es verschiedene Vorstellungen, warum Sitzen schädlich sein soll. Um zu einem einheitlichen Denkmodell zu gelangen, ist es sinnvoll, von vorn zu beginnen. Allgemein benutzen wir Physiotherapeuten das biopsychosoziale Denkmodell. Die im Krankheitsgeschehen oft wesentlichen psychosozialen Teile dieses Modells spielen als Pathomechanismus beim Sitzen kaum eine Rolle. Denn psychisch und sozial ist das Sitzen geschichtlich, gesellschaftlich und individuell akzeptiert und nicht negativ belegt. Daher bleibt nur biomedizinisch zu fragen, wie Sitzen Rückenschmerz verursachen könnte.

Das biomedizinische Denkmodell geht davon aus, dass eine Erkrankung eine einzige Ursache, einen einzigen Verlauf und eine einzige geeignete Behandlung hat. Die Lungenentzündung beispielsweise hat die Pneumokokken als Ursache, verläuft unbehandelt oft tödlich und braucht das passende Antibiotikum als Behandlung. Gibt es eine solche pathogene Ursache-Wirkungs-Kette auch für den Rückenschmerz beim Sitzen?


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Spezifische und unspezifische Rückenschmerzen

Bei den spezifischen Rückenschmerzen, die eine erkennbare Ursache haben, geht es um Frakturen, Infektionen, Tumore usw. Sitzen kann in solchen Fällen zwar den Schmerz verschlimmern, aber nicht verursachen. Der Patient spürt dann sofort, dass der Schmerz zunimmt, und meidet folglich diese Position. Die Alarmglocke des akuten Schmerzes funktioniert.

Bei den unspezifischen und meist chronischen Rückenschmerzen, mit denen Physiotherapeuten gewöhnlich konfrontiert sind, fehlt definitionsgemäß eine nachweisbare Ursache. Folglich hat auch kein Forscher bisher nachweisen können, dass Sitzen den unspezifischen Rückenschmerz auslöst.

Besteht keine akute Verletzung, wie ein Bandscheibenvorfall, führt eine Spannungserhöhung im Gewebe durch „krummes“ oder anderes Sitzen nicht zur direkten Stimulation von Nozizeptoren. Kein akuter Schmerz warnt uns vor diesem Sitzen. Und doch verbinden viele Rückenpatienten das Sitzen mit ihrem Problem. Zudem soll es auf lange Sicht nicht gut sein. Das Denkmodell, das viele Therapeuten hier benutzen, beruht auf der sogenannten langdauernden Fehlbelastung. Diese Abweichung von der aus mechanischer Sicht idealen Haltung führt zu Konzentrationen von mechanischer Belastung bzw. Beanspruchung (englisch: stress and strain) [16]. Eine Weile ist das auszuhalten – stellt sich die Frage, wie die langfristigen Folgen aussehen.

Jeder „normale“ Rücken hält es aus, wenn wir ab und zu krumm sitzen. Leider fehlen bisher Langzeitstudien.


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Langfristige Folgen von Fehlbelastungen

Sie sind beispielsweise am Knie einfach zu erklären. Einen möglichen Zusammenhang zwischen einem Genu varum/valgum und Gonarthrose fanden einige Studien nach 18 Monaten Beobachtung [17], und dies vor allem bei schon bestehender moderater Gonarthrose [18]. Andere Forscher fanden nach 6,6 Jahren diesen Zusammenhang nur bei übergewichtigen Personen [19]. In einem Review mit einem mittleren Beobachtungszeitraum von 8,75 Jahren zeigte sich hingegen kein Zusammenhang [20]. Letztendlich ist die Studienlage unzureichend – ähnlich wie beim Rückenschmerz. Die Indikation zur Umstellungsosteotomie beim Genu varum/valgum des Jugendlichen stellt der Chirurg folglich vor allem aufgrund biomechanischer Überlegungen und Erfahrung [21].

Nötig wären Untersuchungen, die beispielsweise ein Genu varum/valgum bei jungen Menschen diagnostizieren und diese etwa 40–50 Jahre später mit Personen mit physiologischer Beinachse vergleichen. Entsprechend lang dauernde Untersuchungen sind dem Autor nicht bekannt. Wahrscheinlich sind sie nicht nur zu aufwendig, sondern auch extrem schwierig durchzuführen, da man zahlreiche andere Variablen als mögliche beitragende und verursachende Faktoren zur Entstehung einer Gonarthrose beachten müsste.

Ähnliche Untersuchungen fehlen auch zur Wirbelsäule. Hier zeigten beispielsweise Querschnittstudien zwar einen Zusammenhang zwischen Nackenschmerzen und der Vorhaltung des Kopfes [11], [22]–[24], die Therapeuten erfolgreich korrigieren können [25], doch über die Schmerzursache sagt das nichts aus. Kurioserweise fehlen solche Arbeiten zur Haltung im Zusammenhang mit lumbalen Rückenschmerzen in der aktuellen Literatur. Zu möglichen langfristigen Folgen der Fehlhaltung auf die Wirbelsäule sind dem Autor keine Studien bekannt.


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Folgen möglicherweise erst nach Jahrzehnten sichtbar

Jeder „normale“ Rücken hält es aus, wenn wir ab und zu krumm sitzen – so wie der Jugendliche mit seinem Genu varum schmerzfrei Fußball spielen kann. Aus biomechanischer Sicht steigert die Druckerhöhung im medialen Kniegelenk nur das Risiko für eine spätere Gonarthrose.

In der Wirbelsäule sind Druck- und Zugspannung am kleinsten in der Mitte der neutralen Zone [26]. Auch der energetische Aufwand zum Sitzen ist in der aufrechten Haltung am geringsten [27]. Ein Abweichen von dieser mechanisch idealen Haltung sowohl im Sitzen als auch im Stehen führt nicht nur in einigen Strukturanteilen zu mehr Druck, sondern erhöht auch die Zugspannung beispielsweise auf den Anulus fibrosus. Dessen kollagene Fasern können diesem wiederholt lang andauernden Zug irgendwann nicht mehr widerstehen und reißen, womit die Degeneration der Bandscheibe fortschreitet. Unklar ist, nach wie vielen Jahren eine solche Mehrbelastung/-beanspruchung eine Degeneration (vermehrt) bewirkt, doch wahrscheinlich braucht es einige Jahrzehnte. Entsprechend lange Studien fehlen.


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Bildgebende Verfahren finden nichts

Erschwerend für die Wissenschaft kommt hinzu, dass degenerative Veränderungen und Vorwölbungen der Bandscheiben in bildgebenden Verfahren auch bei Menschen ohne Rückenschmerzen vorkommen [28]. Das Fehlen einer linearen Korrelation zwischen Degeneration und Rückenschmerz („Je mehr Degeneration, desto mehr Rückenschmerz“) macht es fast unmöglich, diesen Sachverhalt mit der zurzeit üblichen auf Mittelwerten basierenden Statistik zu untersuchen. Die Degeneration und Alterung der Strukturen allein lösen ja noch keinen Schmerz aus.

Das Denkmodell der Konzentrationen von mechanischer Belastung bzw. Beanspruchung nimmt an, dass diese irgendwann die Grenze der Kompensation überschreiten – sowohl lokal im (Rücken-)Gewebe als auch zentral im schmerzverarbeitenden System [16]. Zahlreich sind die Faktoren, die ein solches Geschehen beeinflussen: von der genetischen Veranlagung über die Belastbarkeit der Gewebe bis hin zur Quantität und Qualität der Belastung/Beanspruchung und den Umständen. Weil diese Faktoren von Mensch zu Mensch variieren, kann es sein, dass bei gleicher Tätigkeit der eine Rückenschmerz bekommt und der andere nicht – Pech oder Glück gehabt. Diese Faktoren sind im Mittel weitgehend auf Patienten und Gesunde gleich verteilt. Daher kann die auf Mittelwerten basierende Statistik sie nicht als Ursache des Rückenschmerzes mit dieser Methodik erkennen.


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Erfahrung und Logik empfehlen aufrechten Sitz

Erfahrung und logische Überlegungen führen den Chirurgen zur Umstellungsosteotomie beim Jugendlichen mit einer Achsenfehlstellung im Kniegelenk. Damit vermeidet er nicht eine spätere Gonarthrose, sondern reduziert einen Risikofaktor dafür. So wie der Verzicht auf das Rauchen keinen Lungenkrebs verhindert, doch einen wesentlichen Risikofaktor dafür stoppt. Die Erfahrung zeigt auch, dass Menschen wie die antiken Pharaonen oder Adelige, die lange sitzen mussten, immer aufrecht saßen. Dadurch verhindert der Mensch keine Rückenschmerzen, reduziert aber einen dazu wesentlich beitragenden Faktor. Erfahrung und Logik empfehlen daher weiterhin für die Wirbelsäule die aufrechte, mechanisch ideale Haltung in der Mitte der neutralen Zone.

Jochen Schomacher


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Publication History

Article published online:
15 February 2021

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ABB. Intradiskale Druckverhältnisse bei Alltagsbelastungen bezogen auf den Druck beim normalen Stehen nach Nachemson (gelb) im Vergleich zu den Daten von Wilke (blau) [12] © Nachemson A, Elfström G. Intravital dynamic pressure measurements in lumbar discs. A study of common movements, maneuvers and exercises. Scand J Rehabil Med Suppl 1970; 1: 1–40