physiopraxis 2021; 19(02): 18-19
DOI: 10.1055/a-1330-4224
Wissenschaft

Die Weisheit der Vielen – Das Delphi-Verfahren

Katrin Veit
 

Kaum ein Begriff in der Forschung hat so viele Bezeichnungen wie „Delphi“. Selbst Experten nutzen unterschiedliche Formen: Delphi-Technik, -Methode, -Methodik, -Prozess und -Verfahren. Claudia Pott beschäftigte sich im Rahmen des Masterstudiengangs „Angewandte Versorgungsforschung“ an der Katholischen Stiftungshochschule München damit, was genau Delphi denn nun eigentlich ist.


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Geschichtlich geht der Name „Delphi-Verfahren“ auf das berühmte Orakel von Delphi zurück: In der antiken Stadt ernannten Priester die Tochter einer wohlhabenden Familie zur Pythia, die durch das Einatmen von Dämpfen in einen Trancezustand versetzt wurde und ihren Zuhörern Ratschläge für die Zukunft erteilte. Entwickelt wurde das Delphi-Verfahren in den 1950er Jahren und ist ein sehr verbreitetes Forschungsinstrument.

Es gibt viele unterschiedliche Definitionen. Laut Hasson und Kollegen handelt es sich um einen iterativen, mehrstufigen Prozess, bei dem die Teilnehmer strukturiert und anonymisiert kommunizieren, damit deren Einzelmeinungen am Ende in einen Gruppenkonsens „umgewandelt“ werden können [1]. Häder stellt die wiederkehrende Reflexion nach jeder Befragungswelle sowie die Anonymisierung der Experten als zentrale Elemente der Delphi-Befragung heraus [2].

Delphi ist demnach ein systematisches, mehrstufiges, qualitatives Befragungsverfahren mit Reflexion bzw. Rückkopplung – und somit eine Methode, die dazu dienen kann, Fragestellungen möglichst gut einschätzen und beantworten zu können.

Anonyme Expertenbefragung

Bei der Delphi-Befragung wird eine Expertengruppe zu einem bestimmten Fragen- oder Thesenkatalog eines Fachgebiets in zwei oder mehr Runden befragt. Ab Runde zwei sehen die Experten die anonymisierten Antworten ihrer Kollegen. So wirkt man der üblichen Gruppendynamik mit sehr dominanten Personen entgegen. Die Antworten aus der ersten Runde werden zusammengefasst und den Experten erneut anonymisiert vorgelegt. Der Meinungsbildungsprozess erfolgt kontrolliert und über mehrere Stufen. Eine aufbereitete Gruppenmeinung bildet dann das Endergebnis.

Die Stärken einer Delphi-Befragung sind, dass sie sich auf das Wesentliche konzentriert, mehrstufige, rückgekoppelte Bearbeitungsprozesse beinhaltet und umfassende Aussagen treffen kann. Klassische Delphi-Studien folgen laut Steinmüller folgendem strukturiertem Ablauf [3]:

  • Vorbereitung und Planung der Studie

  • Identifikation und Rekrutierung der Experten

  • Entwicklung eines Fragebogens

  • erste Befragungsrunde

  • Analyse der Rückläufe der ersten Runde und Formulierung von Feedback

  • zweite Befragungsrunde

  • Analyse der Rückläufe der zweiten Runde

  • gegebenenfalls weitere Befragungsrunden

  • Analyse des gesamten Befragungsverlaufs

  • Auswertung und Bericht


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Arten und Terminologien

Folgende Arten von Delphi-Verfahren werden in der Literatur unterschieden:

  • klassisches Delphi: zwei- oder mehrrundige Befragungen, ab der zweiten Runde Feedback. Dieses Verfahren hat prognostischen Charakter.

  • Policy Delphi: klassisches Delphi-Verfahren in zwei Runden zu politischen lösungsorientierten Themen

  • Decision Delphi: Integration von ausgewählten Experten, die politische oder wissenschaftliche Fragestellungen entscheiden und auch umsetzen

  • Mini-Delphis: einzelne reduzierte Fragestellungen

  • Realtime-Delphi-Verfahren: schnelles Verfahren, digital unterstützt, läuft in Echtzeit ab und die Rückmeldung der Zwischenergebnisse erfolgt umgehend

  • argumentatives Delphi: Generieren von Argumenten für eine Meinung auf Basis von ein oder zwei vorgegebenen Argumenten

  • Delphi Markets: digital unterstützter Hybrid aus Delphi-Methode und wirtschaftlichen Prognosemärkten

  • Gruppen-Delphis: Fragebogen wird im Workshop entwickelt, anschließend anhand eines bestimmten Kriteriensatzes bewertet; offene Diskussionen ersetzen die zweite bzw. weitere Runden [5]

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Abb. Grafischer Ablauf eines Delphi-Verfahrens © Mayer H. Pflegeforschung anwenden: Elemente und Basiswissen für Studium und Weiterbildung; 2019, grafische Umsetzung: Thieme Gruppe

Das Ziel von Claudia Pott war es, herauszufinden, welche der in der Literatur kursierenden Bezeichnungen für Delphis wie -Verfahren, -Prozess, -Methode(n), -Methodologie, -Methodik und -Technik am treffendsten ist. Deshalb befasste sie sich zuerst mit den unterschiedlichen Terminologien ([TAB].).

TAB. Terminologien, die in der Literatur in Verbindung mit Delphis gebracht werden.

Begriff

Definition

Verfahren

„Art und Weise, wie etwas durch-/ausgeführt wird“ [6]

Prozess

„Gesetzmäßig verlaufender Vorgang“ [6]

Technik

„Anwendung der naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnisse in Form von Methoden, Verfahren, Apparaturen, Geräten und Maschinen zur Beherrschung der Naturkräfte auf einer gegebenen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung“

Methode

„System von Regeln, das dazu geeignet ist, planmäßig wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen oder darzustellen oder die praktische Tätigkeit rationell zu organisieren; planmäßiges Verfahren“ [6]

Methodo-logie

„Theorie der Methoden zur Erkenntnis und Veränderung der Wirklichkeit, bes. Theorie der wissenschaftlichen Methoden“

Methodik

„Lehre von den Methoden des Forschens, Unterrichtens und der planmäßigen, wissenschaftlichen Anwendung von Methoden; System von Methoden” [6]

Claudia Pott kam zu dem Schluss, dass Delphi als wissenschaftliche Methode verstanden werden kann. Unterschieden und dem Begriff „Methode“ untergeordnet werden sollten die einzelnen spezifischen Verfahren bzw. Techniken der Datenerhebung und -analyse. Nach ihrem Verständnis finden sich die Begriffe „Technik“ und „Verfahren“ auf einer Hierarchieebene, untergeordnet unter Methode. Sie sind als einzelne Elemente einer Methode zu verstehen. Aufgrund der recherchierten und hier dargestellten Aspekte empfiehlt Claudia Pott schlussendlich die Begriffe „Delphi-Verfahren“ oder „Delphi-Befragung“. „Delphi-Technik“ erscheint weniger passend, da der Begriff eine sehr spezifische Vorgehensweise suggeriert, ein Delphi in den verschiedenen Ausprägungen aber sehr heterogene Gestaltungsformen annehmen kann.

Der Begriff „Delphi-Befragung“ scheint geeignet zu sein, weil er das Verfahren konkretisiert und es sich unabhängig von der Art des Delphis immer um eine Befragung handelt. Die Bezeichnung „Delphi-Befragung“ sollte aus ihrer Sicht dann gewählt werden, wenn nur die Form der Datengenerierung beschrieben wird. Die Bezeichnung „Delphi-Verfahren“ passt dann, wenn auch die Datenanalyse subsummiert ist.

Delphi ist ein mehrstufiges Befragungsverfahren von Experten.


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Aktiv bei der Weiterentwicklung dabei sein

Für einen wissenschaftlichen Diskurs braucht es für Claudia Potts eine in die Tiefe gehende strukturierte Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis. das Wissenschaftliche Netzwerk „Delphi-Verfahren in den Gesundheits- und Sozialwissenschaften“ (Dewiss) beschäftigt sich mit erkenntnistheoretischen Grundlagen, methodologischen Fragestellungen und Richtlinien für die Durchführung und Berichterstattung von Delphi-Verfahren. Hier können sich Interessierte aktiv an der Vernetzung der auf diesem Feld Tätigen beteiligen und zur Weiterentwicklung des Verfahrens beitragen [7].

Wer Lust hat, die Delphi-Methode zum Beispiel hinsichtlich der Manipulierbarkeit zu diskutieren, ist herzlich eingeladen, sich an Claudia Pott zu wenden: pott@physioreha.de.


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Publication History

Article published online:
15 February 2021

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Georg Thieme Verlag KG
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Abb. Grafischer Ablauf eines Delphi-Verfahrens © Mayer H. Pflegeforschung anwenden: Elemente und Basiswissen für Studium und Weiterbildung; 2019, grafische Umsetzung: Thieme Gruppe