„Aids ist eine Erkrankung, die unsere Gesellschaft mit ihren Werten und ihrer Politik
grundlegend auf die Probe stellt.“ [1]
Auch wenn zur Zeit die Berichterstattung vornehmlich die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie
betrifft, soll der Blick zurück auf die Verbreitungsphase einer Seuche gewagt werden,
die bis heute grassiert: Vor bald 40 Jahren, im Frühjahr 1981, wurde das erste Mal
in den Wochenberichten zur Morbidität und Mortalität (MMWR) des US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) eine
neue Krankheit erwähnt. Ein erstes Auftreten war schon zwischen 1978 und 1979 in New
York beobachtet worden.[1] Es gibt Blutproben aus den 1960er-Jahren, in denen der Erreger später gefunden wurde.
Eine Fallbeschreibung aus der Einleitung des Sachbuchs „And The Band Played On“ des
US-Journalisten und späteren HIV-Experten Randy Shilts (1988) steht beispielhaft für
die Krankengeschichten, die sich im Winter 1980/81 häuften und die Mediziner*innen
in den USA zunächst vor viele Rätsel stellten:
„15. Januar 1981, St. Luke’s Roosevelt Hospital, New York […] Nach der Mitte November
gestellten Diagnose hatte es zunächst so ausgesehen, als ob sich der Gesundheitszustand
des jungen Barmixers wieder verbesserte. [...] Die Ärzte sagten, das zur Gruppe der
Herpesviren gehörende Zytomegalie-Virus habe seinen ganzen Körper infiziert und jedes
Organ überschwemmt. Außerdem habe er eine Lungeninfektion. Aber niemand konnte mit
Bestimmtheit sagen, was ihm fehlte“ ([3], S. 95).
Bei den Patienten fielen zwei parallele Syndrome
auf: das sog. „Kaposi-Sarkom“ und die Pneumocystis carinii Pneumonie, PCP ([2], S. 20). Damals sprach man von einer seltenen Lungenerkrankung. Sie wurde später
sie in „Pneumocystis jirovecii Pneumonie“ umbenannt. Erste Untersuchungen ergaben,
dass v. a. Männer, die Sex mit Männern hatten (MSM) von der damals als „GRID“ („Gay
related immunodeficiency“) bezeichneten Infektionskrankheit, also dem Zusammentreffen
von Kaposi-Sarkom und PCP, betroffen waren, die etwa doppelt so viele Sexualkontakte
hatten wie Vergleichspersonen. Ihre Partner wechselten besonders häufig. Einige US-amerikanische
Medien bezeichneten die Erkrankung in diffamierender Weise als „Homosexuellenkrebs“
([3], S. 214).
Im Juni 1981 gab es bereits 116 offiziell registrierte Fälle in den USA: Ungefähr
zur Hälfte lebten die Erkrankten in New York, zur anderen Hälfte in verschiedenen
Städten Kaliforniens ([2], S. 21). Im April 1982 hatte sich die Zahl schon auf über 300 erhöht ([3], S. 209).
Bald wurde erkannt, dass es sich bei beiden Symptomatiken, die außer bei MSM v. a.
bei Drogenabhängigen auftraten, um ein- und dieselbe, sich rasch weltweit verbreitende,
sexuell übertragbare Infektionskrankheit handelte. Dafür setzte sich die Deklaration
AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) durch [2]. Das zumeist tödlich verlaufende Leiden, dessen Ursache das HI-Virus ist, alarmierte
die Medizin und führte zu massiven Verhaltensänderungen im Bereich der Sexualität:
„On June 5, 1981, MMWR published a report of Pneumocystis carinii pneumonia in five
previously healthy young men in Los Angeles, California. These cases were later recognized
as the first reported cases of acquired immunodeficiency syndrome (AIDS) in the United
States. Since that time, this disease has become one of the greatest public health
challenges both nationally and globally. Human immunodeficiency virus (HIV) and AIDS
have claimed the lives of more than 22 million persons worldwide, including more than
500,000 persons in the United States” [4].
Homosexualität war 1981 in vielen Ländern noch unter Strafe gestellt und in Europa
und Nordamerika erst wenige Jahre zuvor legalisiert worden. Während in der Antike
homosexuelle Handlungen sogar gesellschaftlich geduldet wurden, galten sie spätestens
mit Beginn des Mittelalters als Sünde.[2] Homosexuelle wurden verfolgt und oft getötet. Bereits in den 1880er-Jahren entstand
im wissenschaftlichen Kontext die Auffassung, Homosexualität sei eine neurologische
Krankheit, und es wurden Möglichkeiten einer Behandlung diskutiert [5]. In der Bundesrepublik Deutschland blieb Homosexualität bis 1969 strafbar. Der betreffende
§ 175 StGB führte auch in Wissenschaftskreisen dazu, diese Personengruppe nicht direkt
zu benennen, sondern abfällig von den „175ern“ zu sprechen. In der DDR wurde das Verbot
schon 1968 aufgehoben. Rein formal wurde der Paragraf im Strafgesetzbuch aber erst
1994 gestrichen. Die Situation führte auch zu einer Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung.
Homosexualität wurde zunehmend akzeptiert. Von 2001 – 2017 waren in Deutschland eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften möglich. Gleichgeschlechtliche Eheschließungen sind in deutschsprachigen Ländern
erst seit einigen Jahren erlaubt.[3]
Die Entdeckung des HI-Virus und die mediale Rezeption
Die Entdeckung des HI-Virus und die mediale Rezeption
Am 3. Juli 1981 berichtete die New York Times erstmals über die neue Krankheit als
eine seltene Krebsart, die Homosexuelle beträfe, die Geschlechtsverkehr mit häufig
wechselnden Partnern hätten. Für Heterosexuelle und v. a. für Frauen bestünde keine
Gefahr. Unterschlagen wurde zunächst die Tatsache, dass Ende 1981 bereits 16 Prozent
der Erkrankten in Nordamerika heterosexuell war (in Afrika lag diese Zahl vermutlich
damals schon wesentlich höher) [2]. Über die Entstehung und Verbreitung der Krankheit entstanden die kuriosesten Theorien.
Bspw. vermutete die Medical Tribune noch 1983, der häufige Kontakt mit fremdem Sperma würde das Immunsystem von Männern
schwächen, Frauen hätten hingegen stärkere Abwehrkräfte und seien nicht so sehr gefährdet.
Eine andere Erklärung bestand in der Annahme, Partydrogen („Poppers“), die v. a. in
der homosexuellen „Szene“ kursierten, hätten zu einem Immundefekt geführt[4]
[2].
Viele Seuchenexperten gingen zunächst davon aus, AIDS würde Frauen nicht betreffen.
In einem ebenfalls 1983 erschienenen Artikel im New England Journal [6] wagte der Autor aber bereits 1983 die Prognose, dass HIV mittelfristig nicht nur
MSM betreffen werde.
In Deutschland griff erstmals die BILD-Zeitung im Dezember 1981 das Thema HIV/AIDS
auf, und am 31. Mai 1982 erschien der erste längere Bericht im Nachrichtenmagazin
DER SPIEGEL, der größere Bevölkerungskreise über das neuartige Virus aufklärte, das
zur gleichen Zeit bereits in einigen US-Großstädten erheblich verbreitet war [7]. Der Berliner Dermatologe Hans Halter, damals Wissenschaftsredakteur des SPIEGEL,
wurde durch einen seiner Kollegen, der regelmäßig US-amerikanische medizinische Journale
las, angeregt, sich in einem Artikel einmal eingehender mit der „geheimnisvollen Krankheit“
GRID zu befassen.
Als Spezialist für Geschlechtskrankheiten, der in den 1960er-Jahren als Assistenzarzt
noch die Syphilis- und Tripperpatient*innen im Westberliner Virchowklinikum behandelt
hatte, widmete sich Halter mit großem wissenschaftlichen Interesse der neuen sexuell
übertragbaren Krankheit und schrieb 1982 einen ersten Aufsehen erregenden Artikel
mit dem Titel „Der Schreck von drüben“. Die Ursachen der Erkrankung waren zu dieser
Zeit noch völlig unklar, v. a. Partydrogen wurden als auslösend vermutet:
„Gesucht wird ein Stoff, der nur von männlichen Homosexuellen benutzt wird, oder ein
krankheitsförderndes Verhalten, das nur der Homosexuellen-Szene eigen ist. Gefunden
wurden gleich ein halbes Dutzend solcher möglichen Faktoren“ [7].
Dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL wird bis heute vorgeworfen, in den frühen 1980er-Jahren
aufgrund der Tonart in Halters Artikeln zur Entwicklung eines Stereotyps und zur Assoziierung
von Promiskuität und Homosexualität als Risiken für eine HIV-Infektion beigetragen
zu haben. Die Kritik entstand bereits in den 1980er-Jahren. Halter gab im Interview
an, nach seiner Berichterstattung vielen Anfeindungen ausgesetzt gewesen zu sein:
„Ich hätte außerdem nie gedacht, dass ich ausgerechnet mit diesem Thema bekannt werden
würde“, äußerte er verwundert über seine Rolle als Erstbeschreiber von HIV in einem damaligen deutschen Leitmedium.
Die heteronormativen, bildungsbürgerlichen Gesellschaftskreise, die den SPIEGEL lasen,
wussten zu Beginn der 1980er-Jahre kaum etwas über Homosexualität. Zwar war homosexueller
Geschlechtsverkehr in den frühen 1980er-Jahren nicht mehr grundsätzlich strafbar,
aber die Auseinandersetzung mit dem Thema war – genauso wie Sexualität generell wenige
Jahre zuvor – in fast allen Schichten noch tabuisiert. Über Praktiken oder Quantitäten
des gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens wurden noch nicht gesprochen. Stereotype
Vorstellungen konnten sich schnell entwickeln. Deshalb wurden in den 1980er-Jahren
vermehrt Studien in Auftrag gegeben, um mehr über homosexuelle Lebens- und Sexualpraktiken
zu erfahren [8].
Seit Beginn der Epidemie in Westdeutschland, etwa um 1982, haben sich bis Ende 2018
laut RKI 87 900 Menschen infiziert (bei 1600 Neuinfektionen im Jahr 2018) [9]. Das HI-Virus breitete sich weltweit in den Jahren 1983 und 1984 am schnellsten
aus. Im Mai 1983 waren in New York epidemische Ausmaße erreicht worden [10]. Auch in Deutschland lag die Inzidenz mit 5000 Neuinfektionen p. a. auch im Jahre
1983 bereits besonders hoch ([11], S. 41).
Mitte 1983 wird im SPIEGEL die Krankheit AIDS als „Homosexuellen-Seuche“ und als „Schwulenpest“
bezeichnet [12]
[13]. Jüttemann et al. stellten 2014 die Behauptung auf, dass mit diesem ersten Artikel
„nicht nur eine Krankheit benannt, beschrieben und medial bearbeitet, sondern v. a.
ein Topos geboren“ wurde [14]. Es entstand eine „sprachliche Verknüpfung von Krankheit und sexueller Identität“,
die bis in unsere Zeit zur Diskreditierung von MSM geführt hat. Das hatte auch allgemein
schädliche Folgen. So war die Abgabe einer Blutspende von homosexuellen Männern bis
vor Kurzem grundsätzlich verboten [14].
Hervorzuheben ist, dass Halter Promiskuität lediglich als einen besonderen Risikofaktor
beschrieb – ohne moralische Bewertung. In seinem Buch „Todesseuche AIDS“ von 1985
kennzeichnet Halter Promiskuität lediglich als Suchtverhalten. Dennoch befürchteten
Eiff und Gründel 1987:
„Wer im Zusammenhang mit AIDS eine Verhaltensänderung im sexuellen Bereich überhaupt
nur andeutet, muß gegenwärtig sein, daß ihm sofort unterstellt wird, er wolle zu einer
alten repressiven Sexualmoral zurückkehren. Die bestehende Gefahrenlage sei wieder
erneut Tummelfeld für Moralisten [...] Man fürchte, sexuelle Promiskuität werde als
soziales Verbrechen abgestempelt“ ([15], S. 80).
Einige homosexuelle Männer hätten weitaus mehr Sexualkontakte mit Unbekannten als
andere gesellschaftliche Gruppierungen, so die Annahme. Die fehlende Kritik hätte
eine massenhafte Verbreitung begünstigt, war die andere.
Dass der alleinige Umstieg auf safer sex das Problem AIDS lösen würde, bezweifelten die Dermatologen schon damals, wie sich
Halter erinnert. Kondome seien seiner Meinung nach kein Rundumschutz. Auch Paare,
die safer sex praktizierten, würden sich irgendwann mit HIV infizieren können:
„Der größte Schwindel war ‚Kondome sind sicher!‘ [...] Kondom ist medizinischer Quatsch.
Als ich noch Geburtshelfer war, das war damals [als Medizinalassistent] Pflicht, hat
unsere Chefin immer gesagt: Ein Ehepaar, das mit Kondomen verhütet, ist nach drei
Jahren schwanger. Und so iss’es: ein Kondom ist nicht 100-prozentig sicher, sondern
je nachdem wie geschickt die sind. Da gibt’s ja geschickte und weniger-geschickte
Leute. Ist ja alles nicht so ganz einfach. Also die richtigen Profis können das auf
90 – 95 Prozent bringen, würde ich schätzen. Und wenn sie 100-mal Geschlechtsverkehr
im Jahr haben, dann haben sie 5-mal dabei Kontakte. Das kann schon reichen! Nicht
jeder Geschlechtsverkehr mit HIV führt zu HIV.“[5]
In konservativen Kreisen der westdeutschen Gesellschaft wurde das Thema lange heruntergespielt.
Zunächst betraf die Krankheit v. a. nur schwule Männer und Drogenabhängige und nicht
das heteronormative Paar. Bundesgesundheitsministerin Rita Süßmuth (CDU) ließ an alle
deutschen Haushalte ein Flugblatt versenden, auf dem betont wurde, dass die Berichte
über HIV Panikmache und alles „halb so schlimm“ sei, da nur maximal 10 Prozent der
Betroffenen versterben würden [16]. Unter Dermatologen gab es demgegenüber längst die Überzeugung: „Schleimhaut ist
Schleimhaut“, wie Halter sich erinnert. Man war sich sicher, das Virus würde kurz
oder lang auch Heterosexuelle betreffen und nicht nur MSM. Halter ist der Meinung,
„ehrlich gesagt hätte die Regierung aber damals nur die Wahrheit sagen können: ‚Wir
haben nichts und wir raten zur Monogamie!‘ [...] Ich will nicht sagen, dass die Aufklärung
ganz und gar nichts gebracht hat, aber was sie nicht gebracht hat, ist das, was die
Regierung versprochen hat, nämlich Sicherheit.“[6]
Mit den SPIEGEL-Berichten Anfang der 1980er-Jahre kamen auch die ersten Beschreibungen
homosexuellen Großstadtlebens an die Öffentlichkeit. Zuvor war in Deutschland in großen
Nachrichtenmagazinen kaum darüber berichtet worden. Hans-Joachim Noack, Sozialarbeiter
aus Schwaben, schilderte 1985 die sog. „Leder“-Szene rund um den Westberliner Nollendorfplatz
und schrieb für an AIDS gestorbene Freunde und Bekannte aus der Bar „Knolle“ einen
Nachruf [17]. Er selbst ist später ebenfalls positiv getestet worden und an AIDS gestorben, soll
sich aber – eigenen Aussagen zufolge – nur durch Küssen angesteckt haben, wie sich
Halter erinnert.
Geschichte einer Stigmatisierung im Gesundheitswesen
Geschichte einer Stigmatisierung im Gesundheitswesen
MSM wurden 1983 in einer Richtlinie der Bundesärztekammer als „HIV-Hauptrisikogruppe“
eingestuft und damit generell von der Blutspende ausgeschlossen. Zwar wurde es 1985
Pflicht, alle Blutspenden auf das neue HI-Virus zu prüfen, um das zu Beginn der 1980er-Jahre
hohe Infektionsrisiko durch Blutprodukte gänzlich auszuschalten, doch die Maßgabe,
MSM per se von Spenden auszuschließen, wurde sogar noch 1998 in gültiges Recht übernommen,
wie bereits Preuß (2004) bemerkt:
„Auch unter Verwendung der offiziellen HIV-Blutspenden-Statistik des ‚Arbeitskreises
Blut‘ des Robert-Koch-Instituts (RKI; Bundesoberbehörde für Epidemiologie) soll aufgezeigt
werden, dass die ‚schwule Subgruppe der (potentiellen) Blutspender‘ durchaus keine
HIV-Hauptrisikogruppe ist und dass wertvolle Ressourcen verloren gehen würden, wenn
diese Gruppe tatsächlich wirksam von der Blutspende ferngehalten würde. Auch lässt
sich zeigen, dass hinsichtlich vergleichbarer Risikofaktoren im Transfusionswesen
keineswegs ebenfalls zu pauschalen Spenderausschlüssen gegriffen wird. Es ist demnach
zu vermuten, dass hinter dem Ausschluss Schwuler ein Fortbestehen gesellschaftlicher
Vorurteile steht“ [9].
Dass die Berichte im SPIEGEL in den 1980er-Jahren in bildungsbürgerlichen Gesellschaftskreisen
zu einer ersten Prägung von Bildern („Primacy“) geführt hat, ist anzunehmen. Also
jene Kreise, in denen in den 1980er- und 1990er-Jahren Leitlinien und Gesetze für
Blutspenden entwickelt wurden:
„Berücksichtigung im Gesetz fand die seit dem Jahr 1983 angewendete Empfehlung des
Europarats, Schwule, die damals unter den Aids-Kranken die Mehrheit bildeten, von
der Spende auszuschließen“ [9].
Selbst Personen, die seit 1977 nur einen einmaligen und länger zurückliegenden Sexualkontakt
mit einem homosexuellen Mann hatten, wurden in den 1990er-Jahren noch zur Risikogruppe
gezählt [18]. Das Robert-Koch-Institut sprach sogar von einem Anstieg des Risikoverhaltens bei
homosexuellen Männern [19].
Preuß vermutet, dass der Gesetzgeber zu Beginn der 1990er-Jahre widersprüchlich entschieden
habe, weil zwischen 1980 und 1993 fast jeder zweite in Deutschland behandelte Hämophilie-Patient
über Blutprodukte mit dem HI-Virus infiziert wurde [20]. Fast alle Ansteckungen (360 von 373) erfolgten aber vor der Einführung der Pflichttests
1985. Dennoch befand 1998 der Gesetzgeber, dass „Personen, die einer Gruppe mit einem
gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Risiko für HIV- und HEP-Infektionen
angehören oder dieser zugeordnet werden müssen“, für die Blutspende nicht geeignet
seien; das bedeutete: „Berücksichtigung im Gesetz fand die seit dem Jahr 1983 angewendete
Empfehlung des Europarats, Schwule, die damals unter den Aids-Kranken die Mehrheit
bildeten, von der Spende auszuschließen“ [10].
Gab es Unterschiede zwischen der DDR und der BRD?
Gab es Unterschiede zwischen der DDR und der BRD?
In zwei Zeitzeugeninterviews sollte herausgefunden werden, ob und ggfs. inwiefern
die Zahl der HIV-Erkrankungen in den 1980er-Jahren in West- und Ostberlin eine unterschiedliche
Entwicklung nahm. Die beiden Dermatologen Hans Halter (Westberlin) und Jürgen Kölzsch
(Ostberlin) wurden hierzu 2020 vom Autor befragt.
Kölzsch war von 1988 – 1992 in der Charité-Hautklinik tätig, die zugleich als zentrale
HIV-Beratungs- und Betreuungsstelle in Ostberlin fungierte und für alle HIV-Beratungs-
und Betreuungsstellen der DDR koordinativ zuständig war. Jeder DDR-Bezirk hatte eine
eigene Hautklinik mit einer HIV-Abteilung. In dem Bewusstsein, dass HIV eine Geschlechtskrankheit
war, also fachlich zur Dermatologie gehörte, durften in der DDR nur Dermatologen sexuell
übertragbare Krankheiten diagnostizieren und behandeln.
Grundsätzlich verfolgte die DDR im Gegensatz zur BRD eine recht zentralisierte AIDS-Politik.
Man adaptierte die Leitlinien des seit den 1920er-Jahren geltenden Gesetzes zur Verhütung
der Geschlechtskrankheiten [21]. Es hätten somit im Ernstfall auch Zwangsmittel angewendet werden können (es gab
– selten – Internierungen in geschlossenen venerologischen Stationen wie z. B. in
West-Staaken), vor denen man in der BRD nach den Erfahrungen der NS-Zeit zurückschreckte
[22].
Als positiv und effizient hob Kölzsch die Rolle der sog. „Fürsorgerinnen“ in Ostberlin
hervor. Sie sollten Infektionsketten unterbrechen und suchten deshalb schnell den
direkten persönlichen Kontakt zu Infizierten. Die Fürsorgerinnen halfen den Betroffenen,
anonyme Briefe an ehemalige Sexualpartner per Post zu versenden, mit dem Inhalt: „Ich
hatte mit Dir Sex: Lass dich testen“ (zit. n. Gedächtnisprotokoll Kölzsch). Auch Selbsthilfegruppen
wurden gegründet, und Streetworker haben in den einschlägig bekannten öffentlichen
Grünanlagen Männer angesprochen und auf Ansteckungsgefahren hingewiesen.
Der Dermatologe Kölzsch erinnert sich an die ersten HIV-Infizierten in Ostberlin,
die er als praktizierender Arzt (noch vor seiner Anstellung an der Charité-Hautklinik)
behandelte:
„Ich weiß noch, ich war in einer Poliklinik, wo ich die ersten zehn Patienten getestet
habe, 1986. Da waren drei positiv – da kriegte ich ’nen Schreck und dachte ‚um Gottes
Willen‘ [...] Wir hatten richtige Bäumchen – wir wussten von jedem, [...] wer mit
wem und konnten dann da weiter forschen. Und das Entscheidende war, so wie jetzt,
die Infektionsketten zu durchbrechen.“[7]
Bis 1986 gab es in der DDR – offiziell – keine HIV-Testungen, sodass die Mitarbeiter
der Charité-Hautklinik Blutproben nach Westdeutschland „schmuggelten“, um sie analysieren
zu lassen. Obermedizinalrat Sönnichsen, damals Chefarzt der Hautklinik, erinnert sich:
„So habe ich in meiner Not mehrmals Kollegen, die zu Kongressen oder Seminaren in
den Westen reisen durften, gebeten, Blutproben – selbstverständlich anonym – mitzunehmen
und in der Bundesrepublik untersuchen zu lassen“ ([23], S. 12).
An den ostdeutschen Universitäten waren auch Studenten aus afrikanischen Bruderstaaten
betroffen. In Leipzig bot man 30 infizierten afrikanischen Studenten an, ihnen das
Examen zu erleichtern, wenn sie auf Geschlechtsverkehr mit deutschen Kommilitoninnen
verzichten und nach erfolgreichem Abschluss bald möglichst ausreisen würden, wie Halter
im Interview erwähnt. Generell gab es aber keine „Hochrisikogruppen“ in der DDR, wie
Sönnichsen berichtet:
„Keine Fixer, keine ausgeprägte ‚Schwulenszene‘ mit häufigem Partnerwechsel – Auch
die Ansteckung über Blutkonserven war so gut wie ausgeschlossen: Es wurden fast keine
von westlichen Blutbanken gekauft, weil die notwendigen Devisen fehlten“ ([23], S. 13).
Während HIV-Infektionen in der DDR bis zur Wiedervereinigung eher eine Randerscheinung
blieben, war AIDS in Westdeutschland Mitte der 1980er-Jahre ein zentrales Thema. Im
SPIEGEL gab es Interviews mit Erkrankten. Einige verfassten auch eigene Artikel, in
denen die massive Ausbreitung der Ansteckungen, v. a. in der Westberliner Schwulenszene,
beklagt wurde [24]
[25].
Wie sahen die Verhältnisse im direkten Vergleich zwischen Ost und West aus? Der Dermatologe
Kölzsch durfte ab 1988 in den Westen reisen, um auf Konferenzen über die erfolgreiche
Eindämmung der Epidemie im Osten zu berichten. Bei seinen Besuchen machte er sich
– eher inoffiziell – auch ein Bild von der Situation unter den Betroffenen im nicht-sozialistischen
Ausland. Bei einem Aufenthalt in Westberlin zeigte er sich erschüttert über den sorglosen
Umgang mit Blutspenden, die meist von Drogenabhängigen stammten (an dem für seine
Drogenszene berüchtigten Bahnhof Zoologischer Garten wurden sogar Blutspende-Busse
aufgestellt).
Im Jahre 1983 beklagte Halter, dass ein großer Teil der partyfreudigen MSM nicht auf
den intensiven Sexualkontakt mit Fremden verzichten wolle. Zwar verstand er, dass
die männlichen homosexuellen Westberliner sich über ihre Freiheiten nach dem Wegfall
des § 175 freuten, aber dennoch forderte er – und wurde dafür auch oft angefeindet
– eine kontrollierte Einschränkung der Gelegenheiten für anonymen Sexualverkehr unter
Männern.
In seinen Artikeln wagte Halter einen Blick nach Ostberlin. Dort wurde der autoritären
Präventionspolitik der DDR-Regierung folgend die Seuche erfolgreich eingedämmt. Im
Wendejahr 1990 gab es in der DDR gerade einmal 133 Infizierte, und es wurden 10 Todesfälle
verzeichnet (etwa so viel wie in der BRD an einem einzigen Tag):
„Die Weltgesundheitsorganisation war noch im letzten Sommer voll des Lobes über Sönnichsen
und seine Truppe. Erfolg ist in der Heilkunst meßbar; bei Infektionskrankheiten muß
man nur die Toten zählen. Und da gibt es kein zweites Land, das die bedrohliche AIDS-Situation
vergleichsweise so erfreulich gemeistert hat wie die DDR – bis zur deutsch-deutschen
Verbrüderung am 9. November“ [26].
Diskussion
Die einseitige Berichterstattung des SPIEGELs Anfang der 1980er-Jahre wird in der
medizinethischen Literatur manchmal dafür verantwortlich gemacht, dass bspw. MSM bis
heute weitgehend von der Blutspende ausgeschlossen werden, weil ihnen generelle Promiskuität
unterstellt wird [26].
Im Jahre 2017 wurden die Regularien für die Blutspende zwar gelockert, nun sind nur
noch MSM ausgeschlossen, die freiwillig angeben, im letzten Jahr Sex mit Männern gehabt
zu haben. Dass dieser Umstand weit von der Lebensrealität der meisten Paare (ganz
gleich ob homo- oder heterosexuell) abweicht, ist offenkundig. Eine gänzliche Streichung
dieses Passus wird seit Jahren geprüft – bislang ohne Einigung. Vermutlich, weil auch
weitere venerologische Auffälligkeiten, wie die Zunahme der Syphilis und anderer STI
bei MSM in den letzten Jahren beobachtet wurden. Ein erhöhtes Risiko für sexuell übertragbare
Krankheiten durch die HIV-PrEP- und Chemsex-Szene wird nach wie vor angenommen.
Eine Einordnung in das für die Medizinethik gültige Georgetown-Mantra zeigt die Widersprüche
auf [27]. In westlichen Ländern ist sexuelle Selbstbestimmung auf gesetzlicher Grundlage bereits gegeben. Patientenautonomie, wie sie das Georgetown-Mantra
fordert, schließt aber auch freies Bekenntnis ein – davon kann z. B. im Bereich der
Blutspende immer noch nicht Gebrauch gemacht werden, weil Homosexuelle oft kritische
Reaktionen und Ablehnung fürchten. Die explizite Nennung von sexueller Orientierung
als Ausschlusskriterium ist lange nicht mehr nur medizinethisch, sondern vermutlich
auch bald statistisch höchst fragwürdig.