ABB. 1–4 Betätigungen wie Essen zubereiten oder eine Einkaufsliste schreiben, bleiben ein Leben
lang relevant – auch bei Demenz.
Abb.: K. Oborny/Thieme GruppeAbb.: K. Oborny/Thieme GruppeAbb.: K. Oborny/Thieme GruppeAbb.:
K. Oborny/Thieme Gruppe
Stellen Sie sich vor, dass nach und nach selbstverständliche Routinen des Alltags
zu unüberwindbaren Aufgaben werden. Bisher als angenehm erlebte soziale Kontakte führen
zu Konflikten, und Aktivitäten hinterlassen immer mehr ein Gefühl der Überforderung.
So ähnlich erleben es viele an Demenz erkrankte Menschen, deren Fähigkeiten und Wahrnehmung
der außenliegenden Welt großen Veränderungen unterliegen.
Demenz – vielfältige Symptome
Demenz – vielfältige Symptome
Das Erscheinungsbild der Demenz kann man als „organisch bedingten, meist über Jahre
fortschreitenden Verlust von intellektuellen Fähigkeiten mit darauf basierenden Beeinträchtigungen
im Alltag“ zusammenfassen [1]. Diese kurze Definition lässt nur erahnen, welche vielfältigen Ursachen, Erscheinungsbilder
und Auswirkungen dahinterstecken.
Typischerweise treten eine Reihe unterschiedlicher Symptome auf: Gedächtnisstörungen
bedingen, dass es Betroffenen schwerer fällt, Neues zu erlernen. Gleichzeitig nehmen
die Leistungen des Kurzzeitgedächtnisses, später auch des Langzeitgedächtnisses ab.
Orientierungsstörungen (Raum, Zeit, Situation, Person) führen oft zu schwierigen Alltagssituationen,
Denkstörungen beeinträchtigen die Konzentration und führen zu einer mangelnden Verarbeitung
von Informationen. Das wiederum beeinflusst Abstraktionsvermögen, Urteilsvermögen
und Problemlösung negativ. Dazu kommen oft psychische Störungen, etwa Probleme in
der Affektsteuerung und der Verkennung von Situationen, welche Betroffene und Angehörige
erheblich belasten können. Ein weiterer Grund für hohe Belastungen sind Antriebsstörungen.
Oft nimmt die Eigeninitiative zu Aktivitäten ab, Hobbys und soziale Kontakte werden
nicht mehr gepflegt. Weitere Erscheinungsbilder wie Apraxie, Aphasie und Agnosie erschweren
sowohl die Durchführung von Aktivitäten als auch die Verständigung mit dem Umfeld.
Körperliche Störungen, zum Beispiel ein umgekehrter Tag-Nacht-Rhythmus, Inkontinenz,
Sensibilitätsveränderungen und Bewegungseinschränkungen sowie typische Verhaltensveränderungen,
zum Beispiel Sammelaktivitäten, ein erhöhter Bewegungsdrang und scheinbar sinnlose
Handlungen verändern das gewohnte Leben erheblich [1].
Die Bedürfnisse bleiben bestehen
Die Bedürfnisse bleiben bestehen
Trotz der vielfältigen Symptome haben alle Demenzerkrankungen gemeinsam, dass sie
früher oder später die Bewältigung des Alltags erheblich beeinflussen [1]. Was bleibt, ist der Wunsch der erkrankten Personen, sich zu betätigen. Etwas Sinnhaftes
zu tun, gebraucht zu werden, Anerkennung durch die Gemeinschaft zu erfahren und die
Kontrolle über das eigene Leben zu behalten, sind grundlegende Bedürfnisse. Diese
bleiben in der Regel ein ganzes Leben bestehen und unterscheiden sich nicht von denen
gesunder Menschen [2], [3].
Das Entwickeln und Planen individueller und angemessener Betätigungen hat also auf
das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Menschen mit Demenz einen großen Einfluss
[4]. Auch die besondere Rolle der Unterstützung von außen lässt sich ableiten: einerseits
durch die Schwierigkeiten, Aktivitäten und Routinen aufrechtzuerhalten und andererseits
durch die bestehenden Bedürfnisse nach Betätigung und Einbindung.
Therapeuten, die Menschen mit Demenz begleiten, sollten in den meisten Fällen das
soziale Umfeld mit einbeziehen. Sowohl die Angehörigen als auch ein institutionelles
Wohnumfeld stellen hier fördernde und hilfreiche Ressourcen, aber auch hemmende Faktoren
dar, die in beiden Fällen Beachtung finden müssen.
Im Spannungsfeld der Erkrankung
Im Spannungsfeld der Erkrankung
Obwohl die Demenz in den letzten Jahren mehr Beachtung in der Gesellschaft und den
Medien findet, ist das Thema zu häufig noch schambesetzt und tabuisiert, wodurch hilfreiche
und notwendige Unterstützung nicht wahrgenommen oder blockiert wird [5], [6].
Handeln gegen Trägheit
Das kanadische Therapieprogramm „Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden“ wurde
ursprünglich für Menschen mit psychischen Erkrankungen entwickelt. Dem Programm liegt
der Recovery-Ansatz zugrunde. Demnach steht ein selbstbestimmtes Leben mit einem hohen
Maß an Lebensqualität im Vordergrund und nicht das Reduzieren von Symptomen einer
Erkrankung.
Wichtige Grundpfeiler des Programms sind die Betätigungsorientierung und die Klientenzentrierung
[7]. Andreas Pfeiffer und Werner Höhl haben das Manual anhand einer Pilotstudie ins
Deutsche übertragen und 2016 veröffentlicht. Mittlerweile gibt es auch die Ergänzungsbände
zu Demenz, Posttraumatischer Belastungsstörung und chronischem Schmerz in deutscher
Sprache.
Derzeit leben etwa zwei Drittel aller Menschen mit Demenz im häuslichen Umfeld und
werden von Angehörigen gepflegt und begleitet. Ein Drittel lebt in unterschiedlichen
Einrichtungen. Die Erkrankten und das begleitende Umfeld sind im Verlauf mit großen
Herausforderungen konfrontiert, die auf mehreren Ebenen gleichzeitig stattfinden.
Die erkrankten Personen müssen sich mit den verändernden Fähigkeiten auseinandersetzen
(Krankheitsverarbeitung) und die zunehmende Abhängigkeit von anderen akzeptieren.
Das begleitende Umfeld wiederum erlebt die fortschreitende Hilflosigkeit eines geliebten
Menschen und die wachsende Verantwortung für denjenigen. Die immer weiter auseinanderdriftenden
Wahrnehmungswelten von Betroffenen und Angehörigen und die daraus resultierenden veränderten
Verhaltensweisen führen oft zu Spannungen in den Familiensystemen.
In diesem Spannungsfeld ist eine professionelle Beratung und Begleitung wichtig, um
eine Lebensgestaltung mit einem bestmöglichen Maß an Lebensqualität und -freude zu
unterstützen [6].
Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden
Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden
Gerade bei der Demenz, einer chronisch fortschreitenden Erkrankung, stellt sich die
Frage nach einer sinnvollen Zielsetzung und der grundsätzlichen Therapieausrichtung.
Ein passgenaues Therapieprogramm in der Arbeit mit dieser Klientel ist „Handeln ermöglichen
– Trägheit überwinden“ (THERAPIEPROGRAMM, S. 31) mit dem Ergänzungsmaterial „Demenz“.
Basis- und Ergänzungsmanual strukturieren die therapeutische Vorgehensweise, um Klienten
und deren Angehörige dabei zu begleiten, selbst Handlungsstrategien zu entwickeln
und aufrechtzuerhalten, und einen möglichst aktiven und selbstbestimmten Lebensalltag
zu ermöglichen.
Da sowohl die Erscheinungsbilder der Demenz als auch die Betätigungsbedürfnisse und
Alltagsroutinen der Betroffenen hoch individuell sind, bietet insbesondere das Ergänzungsmaterial
in seiner Klientenzentrierung einen geeigneten Zugang zu der einzigartigen Lebenswelt
jedes Betroffenen. Die betätigungsorientierte Ausrichtung kommt den Bedürfnissen der
Klientel nach Betätigung und damit einer Interaktion mit der Umwelt entgegen.
Strukturierte, aber flexible Vorgehensweise
Strukturierte, aber flexible Vorgehensweise
Das Ergänzungsmaterial mit Schwerpunkt auf demenzspezifische Arbeits- und Informationsblätter
lässt sich separat nutzen. Man kann aber auch Materialien aus dem Basismanual hinzuziehen.
Es gibt keinen starren Ablauf, sondern immer die Möglichkeit, einen auf Klient und
Situation zugeschnittenen, individuellen Therapieprozess zu gestalten:
Diese Therapiematerialien sind speziell auf Menschen mit Demenz abgestimmt.
Gemeinsam mit Klient und gegebenenfalls Angehörigen betrachtet man den aktuellen Alltag
und die vorhandenen Routinen. Es wird herausgearbeitet, welche Art von Aktivitäten
den Alltag bestimmen und wie aktiv bzw. inaktiv der Alltag gelebt wird. So ermittelt
man, inwiefern eine gesunde Betätigungsbalance besteht. Wichtig ist auch, wie zufrieden
Klient und Umfeld mit dieser Alltagsgestaltung sind und wo Veränderungswünsche bestehen.
Ein nächster Schritt besteht darin, Strategien zu vermitteln, um die durch die Erkrankung
entstandenen Veränderungen zu akzeptieren. Zudem werden neue Aktivitäten integriert
und Bewältigungsstrategien und Hilfestellungen für als wichtig empfundene Tätigkeiten
erarbeitet.
Abschließend erfolgt die Evaluierung durch erneute Erhebung der neuen Tagesstruktur,
die Bewertung der Betätigungsbalance und der Zufriedenheit.
Ein Freizeitangebot erzeugt nicht jenes Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Zusatzmanual Demenz
Der erste Teil des Ergänzungsmaterials verdeutlicht den Zusammenhang zwischen einer
Demenz und der Teilhabe an Aktivitäten. Einerseits geht es um biologische, neurophysiologische,
psychologische und soziale Aspekte. Andererseits wird aufgezeigt, wie Aktivitäten
das Demenzrisiko und auch die Symptome verringern können.
Der zweite Teil des Manuals bietet eine strukturierte Vorgehensweise, um die aktuelle
Aktivitätssituation zu erfassen und Strategien zum Aufbau und zur Bewältigung gesundheitsförderlicher
Aktivitäten entwickeln zu können. Hierfür stehen fünf Arbeitsblätter und ein Informationsblatt
zur Verfügung:
-
Arbeitsblatt 1 beschäftigt sich mit der Frage, ob ein Klient ausreichend körperlich aktiv ist. Es
zeigt auf, wie lang und wie intensiv die körperliche Betätigung sein sollte, um einen
gesundheitsfördernden Effekt zu haben. Hierbei werden die unterschiedlichen Schweregrade
der Demenzstadien berücksichtigt. Zum Beispiel wird im mittleren Demenzstadium eine
moderate Anstrengung von 30–60 Minuten empfohlen. Konkrete Vorschläge zu passenden
Aktivitäten wie Tanzen oder Bowling erleichtern es, körperbezogene Aktivitäten in
den Alltag einzubeziehen.
-
Arbeitsblatt 2 widmet sich den Bewältigungsstrategien, um Veränderungen zu akzeptieren. Ziel dieses
Prozessschrittes ist es, grundsätzliche Strategien zu entwickeln, um kommenden Herausforderungen
besser gewachsen zu sein und ein Maximum an Teilhabe und Wohlbefinden zu ermöglichen.
Es werden zuerst Aktivitäten erfasst, die für den Betroffenen schwieriger geworden
sind und dann in ihrer Wichtigkeit priorisiert. Anschließend werden Lösungsstrategien
für die einzelnen Aktivitäten entwickelt und ausprobiert. Hier ließen sich zum Beispiel
Auslöser für stressige Situationen identifizieren oder bewusst Familie und Freunde
als unterstützende Ressource nutzen.
-
Arbeitsblatt 3 vermittelt Bewältigungsstrategien für Alltagsaktivitäten. Es gibt konkrete, leicht
umsetzbare Hilfestellungen, welche die Durchführung von typischen Aktivitäten erleichtern,
zum Beispiel den Alltag planen, Medikamente verwalten oder Termine einhalten. So könnte
beispielsweise ein Wecker oder die Erinnerungsfunktion des Handys an die regelmäßige
Einnahme von Medikamenten zur richtigen Zeit erinnern. Oder man erstellt abends (ggf.
mit einer Begleitperson) einen Ablaufplan mit Aufgaben, Terminen und Uhrzeiten für
den nächsten Tag, um sicherzugehen, dass nichts vergessen wird.
-
Arbeitsblatt 4 erfasst Tagesablauf und -struktur. Mithilfe von konkreten Leitfragen („Gibt es Zeiten,
in denen zu viel oder zu wenig passiert?“ oder „Gibt es besondere Aktivitäten, die
Ihren Tag strukturieren und Ihre Tagesplanung beeinflussen?“) werden Muster der Tagesgestaltung
und des Schlafes hinterfragt und ermittelt. So lassen sich schwierige Phasen des Alltags
herausarbeiten und durch passendere Abläufe ersetzen.
-
Arbeitsblatt 5 lädt zu Aktivitätsexperimenten ein. Hier werden neue Aktivitäten und Vorhaben notiert
und bezüglich der gemachten Erfahrungen und Fortschritte bewertet. Therapeutin und
Klient können die Aktivitätsexperimente auswählen und entwickeln. Der Klient notiert
seine Erfahrungen damit. In einer gemeinsamen Auswertung können dann die für gut befundenen
Aktivitäten in eine neue, optimierte Tagesplanung integriert werden. Ein mögliches
Experiment ist zum Beispiel das Zerlegen einer komplexeren Tätigkeit in kleinere Teilschritte,
um sie besser zu bewältigen. Ein anderes Experiment wäre, ein neues, aktives Hobby
in den Alltag zu integrieren wie das Anlegen und die Pflege eines kleinen Beetes.
-
Im Informationsblatt finden sich Ideen für Aktivitätsveränderungen. Die vorgeschlagenen Aktivitäten benötigen
wenig Vorbereitung und sind mit wenig Aufwand durchführbar: zum Beispiel eine Checkliste
nutzen, um in der Selbstversorgung alle wichtigen Schritte der Körperpflege zu beachten,
oder mithilfe eines Kalenders den Tag oder die Woche strukturieren. Die vorgeschlagenen
Aktivitäten sind in die Dimensionen „allgemein“, „Selbstversorgung“ sowie „Freizeit
und Produktivität“ unterteilt. Sie eignen sich gut, um Impulse für die Erweiterung
des Aktivitätsradius zu geben und Bewältigungsstrategien zu erproben.
Betätigungszentriertes Programm
Lesen Sie mehr über das Therapieprogramm. Folgende Artikel sind bereits in ergopraxis
erschienen: Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden (ERGOPRAXIS 3/18, S. 16) und
Ergänzungsmaterial Chronischer Schmerz (ERGOPRAXIS 2/19, S. 28).
Neue Therapieausrichtung
Das Besondere an diesem Therapiemanual ist die radikale Orientierung an der Lebenswelt
und den Betätigungsbedürfnissen der erkrankten Person. Es geht nicht darum, einzelne
Fähigkeiten zu trainieren, sondern die vorhandenen Ressourcen und neue Strategien
zu nutzen, um den Betätigungsradius zu erweitern und das Wohlbefinden durch einen
erfolgreich bewältigten und mit Zufriedenheit gelebten Alltag zu steigern.
Angehörige und andere Unterstützer lassen sich gut einbinden. Da die Strategien und
Aktivitätsideen direkt im Lebensalltag stattfinden, sind beteiligte Außenstehende
sofort mit involviert. Sie können Veränderungen mit anstoßen und begleiten und tragen
auch zu deren Gelingen (oder Nichtgelingen) bei. Damit entfällt die sonst oft vorhandene
Sollbruchstelle des Transfers aus der Therapie in den Alltag.
Mehr im stationären Setting einsetzen
Mehr im stationären Setting einsetzen
Der Einsatzort des Programms ist nicht festgelegt. Aus meiner Erfahrung denke ich,
dass es momentan eher im häuslichen Bereich genutzt wird. Doch auch für den stationären
Bereich stellt es eine Bereicherung dar. Denn noch immer stehen im stationären Setting
eine aktive Alltagsgestaltung und die Bewältigung von Alltagsaufgaben zu oft im Hintergrund.
Menschen, die zu Hause nicht mehr allein zurechtkommen und deshalb betreut leben,
leiden häufig darunter, dass ihr Lebensalltag plötzlich in unbekannten Routinen und
ohne tägliche Aufgaben stattfindet. Diese werden meist ersetzt durch ein Beschäftigungsangebot
mit Freizeit- und Veranstaltungscharakter. Das wird teilweise auch angenommen, kann
aber nicht jenes Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ und der Selbstwirksamkeit erzeugen.
Dies führt zu Unsicherheit, und die Wohlbefinden generierende, aktive Bewältigung
der Herausforderungen eines Alltags entfällt.
Da aber die Bewältigung dieser Aufgaben essenziell für das Erleben der Selbstwirksamkeit
und damit für die Lebensqualität ist, empfinde ich es als gute Gelegenheit, diesen
Aspekt in die multiprofessionelle Versorgung von Menschen mit Demenz einzubringen.
Gerade wegen der zugrunde liegenden Orientierung am Recovery-Konzept (THERAPIEPROGRAMM,
S. 31) in Verbindung mit der Betätigungs- und Alltagsorientierung können wichtige
Elemente in die therapeutische Begleitung von Menschen mit Demenz in Altenpflegeheimen
und Wohngruppen einfließen.
Meines Erachtens stellt das Therapiemanual „Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden“
mit dem Ergänzungsmaterial „Demenz“ eine gute Arbeits- und Kommunikationsgrundlage
dar, um mit Betroffenen und dem pflegenden und betreuenden institutionellen Umfeld
einer Einrichtung gemeinsam auch im stationären Setting sinnvolle Aktivitäten im Lebensalltag
zu entwickeln und zu etablieren, um auch hier eine größtmögliche Lebenszufriedenheit
zu begünstigen.