Nervenheilkunde 2021; 40(05): 287-293
DOI: 10.1055/a-1298-0953
Zu diesem Heft

Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Vera Clemens
,
Jörg Fegert
 
Zoom Image
Jun.-Prof. Dr. med. Vera Clemens, Universitätsklinikum Ulm Quelle: ©privat
Zoom Image
Prof. Dr. med. Jörg Fegert, Universitätsklinikum Ulm Quelle: ©PR Uni Ulm

Ein Marschallplan für Kinder, Jugend und Familie

Corona und die Folgen nicht einfach nur hinnehmen

Mehr als ein Jahr Corona. Eine Zeit mit vielen Herausforderungen, insbesondere für Familien. Viel ist gesprochen und geschrieben worden über die Doppelbelastung von Eltern zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung, die soziale Isolation und die fehlenden Entwicklungs- und Bildungschancen von Kindern, von der befürchteten Zunahme intrafamiliärer Gewalt und den psychischen Folgen des Lockdowns [1]–[3]. Heute wissen wir – viel von dem, was wir vor einem Jahr befürchtet haben, trifft zu. In der Medizinischen Kinderschutzhotline hatten wir schon in der ersten Lockdown-Phase einen Rückgang der Meldungen aus Praxen und Krankenhäusern auf 70 % des durchschnittlichen Niveaus festgestellt. Dies liegt offensichtlich daran, dass insgesamt medizinische Leistungen auch aus Angst vor Ansteckung weniger wahrgenommen werden. Sogenannte „By-Stander“, Personen aus dem Umfeld der Kinder (z. B. Lehrer) als Vertrauenspersonen und Hinweisgeber im Kinderschutz, die das psychische Leid von Kindern wahrnehmen und Sorgeberechtigte dahingehen beraten, Hilfe in Anspruch zu nehmen, in ihrer Unterstützungsfunktion quasi wegfallen. Auch in Kinderschutzambulanzen und Kinderschutzgruppen nahm die Anzahl an Kinderschutzfällen im Vergleich zum Vorjahr signifikant ab [4], wie auch die Anzahl stationärer Behandlungen insgesamt [5]. Der erhöhte Bedarf traf auf ein reduziertes Hilfs- und Unterstützungsangebot. Das Jugendamt in seiner zentralen Wächterfunktion kämpfte – wie fast alle Institutionen – mit den pandemieassoziierten Einschränkungen. Andreas Mairhofer und Kollegen vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) führten im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns eine bundesweite Befragung aller Jugendämter durch. Die Jugendämter äußerten eine große Unsicherheit bezüglich der Situation von Kindern, Jugendlichen und Familien während des Lockdowns, aber auch der eigenen Arbeit. Obwohl eine Mehrheit von 55 % der Jugendämter angab, dass der Lockdown keine Auswirkung auf die Anzahl der Gefährdungsmeldungen hatte, gaben immerhin 15 % der Ämter an, sich zum Befragungszeitpunkt nicht dazu in der Lage zu sehen, eine Einschätzung hierzu abzugeben.

Auch die Psyche von Kindern und Jugendlichen litt. Einschlägige Hilfetelefone für Kinder und Jugendliche, z. B. „Die Nummer gegen Kummer“, verzeichneten Anstiege in der Inanspruchnahme. Zahlreiche Beratungsstellen, Klinikambulanzen und Kliniken berichten ohne das schon abliegende statistische Angaben zur tatsächlichen Nutzung vorliegen, über wahrgenommene Anstiege bei Angst, Depression, Suizidalität und Essstörungen. Einen zentralen Einblick in die Auswirkungen der pandemieassoziierten Maßnahmen auf die psychische Gesundheit gaben Ulrike Ravens-Sieberer und Koautoren in ihrer COPSY-Studie-Hamburg. Die Daten wurden im Sommer 2020 an über 1000 Kindern und Jugendlichen erhoben. Zwei Drittel der Hamburger Kinder und Jugendlichen gaben an, sich durch die Pandemie belastet zu fühlen. Ihre Lebenszufriedenheit und Lebensqualität verschlechterten sich im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Als protektiver Faktor wurde ein guter familiärer Zusammenhalt identifiziert. Studien weisen darauf hin, dass die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der Eindämmungsmaßnahmen auf die psychische Gesundheit insbesondere die Kinder treffen, die vor der Pandemie schon Belastungen zeigten oder deren Eltern massive Belastungen hatten. Eine Studie unserer Arbeitsgruppe weist auf erhöhte Belastungen von Kindern und Jugendlichen hin, bei denen mindestens ein Elternteil eine psychische Vorerkrankung hat. Signifikante Prädiktoren für einen erfolgreichen Umgang mit den aktuellen Herausforderungen waren ein höherer Bildungsabschluss der Eltern und kein pandemieassoziierter Rückgang des Einkommens.

Das zentrale Problem bei einer sukzessiven Wiederöffnung wird der rasch steigende Hilfebedarf bei vielen Familien und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die schon vor der Corona-Krise beeinträchtigt waren, bei gleichzeitig gesunkener Ressourcenverfügbarkeit durch eingeschränkte Funktion der bestehenden Strukturen sein. Nach Beendigung des ersten Lockdowns verzeichnete so z. B. die Medizinische Kinderschutzhotline einen „Rebound-Effekt“, also ein Überschießen in der Nachfrage nach Beratung durch medizinische Fachkräfte, da dann all diese Schwierigkeiten an den Tag kamen und unterstützende Netzwerke für Kinder und Jugendliche wieder allmählich Zugang hatten und ihre Schutzfunktion wahrnehmen konnten [6]. Die Befürchtung ist da, dass auch jetzt während des zweiten Lockdowns z. B Angst und vermeidendes Verhalten in seinem ganzen Ausmaß erst wieder wahrgenommen werden wird, wenn Alltagsanforderungen im Sozialkontakt in der Trennung von zu Hause, auf dem Schulweg und in der Gleichaltrigengruppe wieder tatsächlich auf alle Schüler zukommen, und scheinbare Krankheitssymptome wie Kratzen im Hals, unwohl sein, Gefühl der Temperaturerhöhung etc., welche bei Angst auch häufig vorkommen, nicht mehr zur sofortigen Unterbrechung des Versuchs in das Alltagsleben zurückzukehren führen.

Deutlich war während des ersten Jahres der Pandemie, dass Kinder und vor allem Jugendliche, die in Bezug auf ihre üblichen Entwicklungsaufgaben durch die ganzen Einschränkungen massiv beeinträchtigt wurden, kaum gehört wurden. Die jetzige Nutzung der drohenden Schäden für diese Kinder und Jugendlichen in der öffentlichen Debatte um pandemiebedingte Einschränkungen ist bisweilen wenig hilfreich oder stigmatisierend. Wenn man von einer „verlorenen Generation“ oder einer „Generation Corona“ spricht, nimmt man eben nicht die Bedürfnisse dieser Jugendlichen ernst, schenkt ihnen auch nicht Gehör, sondern stigmatisiert sie, lässt sie als „irreparabel“ fallen. Dies macht deutlich, dass die lange von UNICEF und vielen anderen NGOs, Experten und politischen Akteuren vorgetragene Forderung nach Einführung von Kinderrechten in die Verfassung eben keine reine Symbolpolitik ist. Vielmehr ist es notwendig, die Beteiligung von Kindern, das Recht, gehört zu werden, das Recht, dass ihre Lage spezifisch berücksichtigt wird und dass Kinder besonders geschützt werden, als Staatsziel mit Verfassungsrang artikuliert wird.

Während die Digitalisierung in vielen Bereichen durch die Corona-Krise einen massiven Schub erfahren hat, warten wir noch auf ausreichende jugendgemäße Ansätze der Digital Partizipation. Einen Lichtblick bot die App „Corona und Du“, ein webbasiertes Infoportal zur psychischen Gesundheit für Kinder, Jugendliche und Eltern von Gerd Schulte-Körne und Kollegen von der LMU München. Informationen, Tipps und Hilfen zur Prävention von und zum Umgang mit psychischer Belastung in der Corona-Krise werden zielgruppengerecht aufbereitet dargestellt. Zudem wird auf professionelle Anlaufstellen verwiesen. Durch die Pandemie gelang zudem die gewissermaßen „erzwungene“ Etablierung von Online-Verfahren, insbesondere von Hilfs- und Unterstützungsangeboten. Videotherapeutische Psychotherapiesitzungen beispielsweise sind ein wichtiges Mittel, um Patienten während Lockdown-Phasen therapeutische Angebote machen zu können. Dorothee Bernheim und Kollegen untersuchten die Akzeptanz der Videotherapie bei Kindern, Jugendlichen, Sorgeberechtigten und Therapeuten in der verhaltenstherapeutischen Ausbildungsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm. Die Ergebnisse sind positiv, insbesondere hinsichtlich der Etablierbarkeit einer „therapeutischen Beziehung“. Manche dieser Entwicklungen haben uns also neue Möglichkeiten eröffnet und werden das Repertoire des fachlich kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Handelns auch in Zukunft erweitern und damit die Erreichbarkeit von Patientengruppen gerade im Bereich der Adoleszenz erhöhen können. Neben all dem negativen ist es sicher wichtig, solche positiven Veränderungen mit im Blick zu behalten.

Sozialpsychologische Beobachtungen und Interventionsforschung zeigen, dass Krisen und Belastungen häufig in Abhängigkeit von unseren Vorerfahrungen, also vorbestehenden Belastungen, Traumatisierungen und unseren Einstellungen ganz unterschiedliche Auswirkungen haben können. Es gibt nicht nur die „Downsides“ all dieser Belastungen, sondern es gibt auch die „Upsides“ einer immer wieder in der Familie gelungenen Bewältigung der Krise, die vielleicht als stärkende Lebenserfahrung in eine Zukunft, die immer mehr Flexibilität verlangen wird, mitgenommen werden kann. Vielleicht gewinnen die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Develoment Goals) in diesem Zusammenhang auch eine ganz neue Bedeutung, weil das gewaltfreie kindgerechte Aufwachsen, die Beteiligung fördernden Gesellschaften (Ziel 16) nicht mehr in die weite Ferne der dritten Welt projiziert werden kann, sondern weil wir sehen, wie es auch hier in der Alltagspraxis darum geht, um die Erreichung solcher Ziele zu ringen. Ähnlich wie die Klimakatastrophe hat auch die jetzige Pandemie klare Bezüge zur expansiven Besiedlung der Welt, vorstehende Pandemien waren ebenso vorhergesagt wie der Klimawandel. Vorausschauende nachhaltige Politik, die die Interessen der künftigen Generation (deshalb Kinderrechte in die Verfassung) berücksichtigt, ist heute mehr denn je zu fordern [7]. Vorausschauende Politik für Kinder-, Jugend- und Familien beginnt aber direkt hier vor Ort. Da überrascht es, wie stark wir seit einem Jahr im Hier und Jetzt der Restriktionsregime, Lockerungen etc. verharren und nicht den Blick auf absehbare Herausforderungen und deren Bewältigung richten. Es ist absehbar, dass die Inanspruchnahme mit zunehmender Lockerung und mit zunehmender Bewältigung der direkten Pandemiesituation in allen Beratungs-, Hilfs-, Selbsthilfe- und Therapieeinrichtungen ansteigen wird. Gleichzeitig sind diese Systeme „heruntergefahren“ in einem pandemiebedingten Notbetrieb, teilweise kräftemäßig überfordert und am Belastungsrand (z. B. im Krankenhaus) oder nicht mehr funktional wie Selbsthilfegruppen mit Präsenz, die sich ihr Standing, ihre Kontinuität um ihre Wirksamkeit über Jahre erarbeitet hatten. Während man sich schon sehr gezielte Gedanken macht, wie man die ökonomische Krise, die natürlich auch, wie alle ökonomischen Krisen, Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und auf Gewalt gegen Kinder haben wird, bewältigen kann und wie man die schlimmsten Effekte einer durch Hilfen hinausgezögerten Pleitewelle abfangen kann, ist uns derzeit kein Marshallplan für die Jugendhilfe und Familienpolitik bekannt. Vereinzelte Tropfen aus der Gießkanne mit Geldzuwendungen an alle Familien mit Kindern sind eine noble Geste, aber sie sind nicht zielgenau, kosten enorm viel Geld und verfehlen eine nachhaltige Wirkung. Hier kann es kein „One size fits all“ geben. Es ist bekannt, dass die Familien, die vor der Pandemie stärkere Belastungen aufwiesen, in der Regel mit noch mehr Belastungen aus der Pandemie hervorgehen werden. Viele dieser Familien sind in Institutionen bekannt und haben schon Hilfen erhalten. In der Diskussion hören wir aber nichts über eine allgemeine zeitnahe Aktualisierung der Hilfeplanung über einen Check-up, wo die betroffenen Kinder jetzt stehen und gezielte Unterstützung z. B. schon in den Sommermonaten, wenn vieles, mit Blick auf die Hygiene, auch dank der Impfungen mit Abstand und Maske, doch im persönlichen Kontakt möglich sein wird. Wir sind schon kaum in der Lage, eine vorrausschauende Teststrategie zum Schutz von besonders beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen einen Konsens zu finden, noch weniger ziehen wir rechtzeitig die Lehren in Bezug auf die erwartbare ansteigende Nachfrage und den angestiegenen Versorgungsbedarf. Dann müssten die freien Träger die entsprechenden Angebote vorhalten, jetzt für diese Herausforderung fit machen, müsste Personal rekrutieren, schulen und z. B. durch E-Learning und andere digital vermittelbare Angebote für diesen notwendigen Einsatz vorbereiten.

Bei der Medizinischen Kinderschutzhotline erwarten wir mit den Lockerungen wieder einen massiven Anstieg der Anfragen, doch wir werden wie in der ersten Lockdown-Krise unsicher sein, was wir in Bezug auf die Inanspruchnahme von Hilfen erwarten können, weil viele Netzwerke vor Ort am Boden liegen. Natürlich ist es wichtig – und das hat genau die Pandemie gezeigt – dass Rückmeldungen in der Zusammenarbeit zwischen Heilberufen und der Jugendhilfe im Kinderschutz möglich sind, um sicherzustellen, dass gewichtige Hinweise in Institutionen im Krisenmodus untergehen oder nicht beachtet werden. Der Reformentwurf des SGB VIII, das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, sieht genau dies vor und es bleibt zu hoffen, dass die Zusammenarbeit zwischen Angehörigen der Heilberufe und der Jugendhilfe, insbesondere bei der Teilhabeförderung insgesamt gestärkt wird und nicht nur allein die Meldung von Verdachtsfällen im Kinderschutz durch eine gesonderte Finanzierungsreglung im SGB V aufgegriffen wird. Das Dialogprojekt der Aktion Psychisch Kranke im Auftrag des BMG für den Bereich der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendliche hat sehr stark gezeigt, dass psychosoziale Kooperation im Netzwerk zur Versorgung von Kindern und Familien erforderlich ist. Insofern wäre es auch absolut dringend, diese Zusammenarbeit im SGB V wie von uns bei der Expertenanhörung im Familienausschuss gefordert, explizit zu kodifizieren (z. B. in § 2 in den allgemeinen Vorschriften und in der Übersicht über die Leistungen § 11).

Aber das reicht nicht, wir brauchen einen Marshallplan, eine psychosoziale Agenda, die die Kinder, die nun Beeinträchtigung erlitten haben und die Familien, die durch die Pandemie in Not geraten sind, wahrnimmt und gezielt eine Negativspirale verhindert. Vielleicht ist es ein Jahr nach Beginn der Pandemie an der Zeit, mit der Berichterstattung und Diskussion aus dem Klein-Klein der Lockerungsentscheidungen vor dem Hintergrund drohender Virusmutanten herauszukommen. Verzichten sollten wir auf jeden Fall gerade im Interesse von Kindern und Jugendlichen und Familien, die dramatisierende Keule der verlorenen Generation, der irreparablen Schäden zu schwingen, denn da schütten wir das Kind mit dem Bade aus. Vielmehr geht es um die „Reparatur“ der Schäden, es geht um Stabilisierung und es geht um eine Strategie der administrativen Beschleunigung unserer Verwaltungsvorgänge: Nicht nur in Gesundheitsämtern stellen Faxgeräte die schnellste und modernste Form der Kommunikation dar, sie stehen auch noch in Familiengerichten, Jugendämtern etc. Hilfeplanung und Hilfeleistung 2.0 sind hier gefragt unter Einbezug der Betroffenen und mit einer drastischen Beschleunigung der Digitalisierung.

Nicht nur die Automobilindustrie steht vor einer riesigen Umbauherausforderung, sondern auch der Kinder- und Jugendbereich mit Bildung, Hilfe, sozialer Unterstützung und Kinder- und Jugendlichentherapie. Wir hatten hier ein stabiles, relativ gut funktionierendes, aber im Einzelfall auch unendlich langsames und redundantes System mit parallelen Planungskonferenzen im schulischen Bereich und dem Bereich der Hilfen, häufig ohne hinreichendes rechtliches Gehör für die betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Familien und ohne hinreichende aktive Beteiligung. Nun wird, wenn Hilfebedarfe wieder artikuliert werden können, eine rasche Hilfeplanung, Gewährung von Unterstützung notwendig sein. Dies können wir nur durch hinreichende finanzielle Mittel für die Hilfen, aber auch durch eine Beschleunigung der damit verbundenen Abstimmungs- und Verwaltungsvorgänge erreichen. Die Tatsache, dass die „inklusive Lösung“, das heißt, die Zuständigkeit der Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung insbesondere von den Ländern mit schier unendlichen Übergangsfristen für die Anpassung der Verwaltung angegangen werden wird, zeigt viel über die Innovationsdynamik in diesem Bereich. Jetzt gilt es schnell die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen und mehr Bedarfe zu decken und diese vor allem zuerst einmal zu erkennen. Dabei ist es wichtig, genau hinzuschauen, denn viele Kinder und Jugendliche werden sich – nachdem wir die Situation überstanden haben – ganz gut wieder zurechtfinden. Andere drohen aber massiv abgehängt zu werden und die Krise droht für sie zur dauerhaften Belastung zu werden. Hier muss eine vorrausschauende Familien- und Gesundheitspolitik insbesondere mit Blick auf Kinder und Jugendliche mit psychischen Belastungen und unterschiedlichen Hilfebedarfen jetzt sofort und vor allem in der nächsten Legislatur klare Akzente setzen. Daran sind die Wahlprogramme und ein künftiger Koalitionsvertrag nach der Wahl im Herbst zu messen. Die Kanzlerin, die dann ihren Abschied nehmen wird, hat diesen Zeitpunkt auch als Zielpunkt dafür gewählt, dass jeder in Deutschland ein Impfangebot erhalten haben wird und das öffentliche Leben wieder zu einer Normalität zurückkehren wird. Impfstoffe für Kinder und Jugendliche, die gerade angesichts der neu hinzugekommenen Mutanten wichtig sein werden, um den Schulbetrieb gefahrlos aufrechtzuerhalten, sind erst allmählich in den Altersgruppen unter 18 Jahren in der klinischen Erprobung. Selbst wenn aber bis zum Herbst eine gewisse Herdenimmunität erreicht sein dürfte, dann ist mit Blick auf die psychosozialen Folgen für Kinder und Familien Corona nicht vorbei, sondern dann beginnt die Arbeit um langfristig zu verhindern, dass die Schere zwischen denen, die noch recht gut mit der Herausforderung zurechtgekommen sind und denen, die unter den Belastungen massiv gelitten haben, immer weiter auseinander geht.

Es braucht nachhaltige Investitionsprogramme nicht nur für Industriesektoren, für die Kunst und das Gastgewerbe, sondern der Familienhaushalt in der Kernfamilie hat sich in der Krise als das Rückgrat der Gesellschaft erwiesen, hier wurden mit enorme Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit neue Herausforderungen wie z. B. gleichzeitiges Homeschooling und Homeoffice geschultert, hier scheiterten aber auch einzelne mit weniger guten Herausforderungen. Unsere Momentaufnahme in diesem Themenheft in der Nervenheilkunde soll deutlich machen, dass uns die Befunde und Verlaufsbeobachtungen Planungsgrundlagen geben und die Herausforderungen klar zu beschreiben sind. Die EU hat das größte milliardenschwere Investitionspaket „Next Generation EU“ für die langfristige Überwindung der Coronafolgen beschlossen und bekannt gegeben. Next Generation, das sind vor allem Kinder und Jugendliche, ihre psychosoziale Versorgung müssen wir intensivieren, individuelle Prozesse der Hilfeplanung müssen wir beschleunigen und verbessern. Die Chancen der Digitalisierung für die Erreichbarkeit gerade von schwer erreichbaren Patientengruppen nutzen. Hierzu braucht es generell geplante Ressourcen für Hilfen, die aber individuell „maßgeschneidert“ werden müssen, denn das Motto, welches UNICEF in der Kinderrechtediskussion auch im Zusammenhang mit den nachhaltigen Entwicklungszielen immer in den Vordergrund gestellt hat „Leave No One Behind“ – Niemanden zurücklassen, ist der Leitsatz, der uns in der klinischen Arbeit zum Wohle von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien jeden Tag erneut motiviert.

Vera Clemens und Jörg M. Fegert, Ulm


#
#
#
  • Literatur

  • 1 Clemens V, Deschamps P, Fegert JM. et al Potential effects of “social” distancing measures and school lockdown on child and adolescent mental health. Eur Child Adolesc Psychiatry 2020 DOI: 10.1007/s00787-020-01549-w: 1–4
  • 2 Clemens V, von Hirschhausen E, Fegert JM.. Report of the intergovernmental panel on climate change: implications for the mental health policy of children and adolescents in Europe – a scoping review, European Child & Adolescent Psychiatry. 2020 DOI: doi.org/10.1007/s00787-020-01615-3
  • 3 Fegert JM, Clemens V, Berthold O. et al Kinderschutz ist systemrelevant – gerade in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie. Das Jugendamt 2020; 93: 178-181
  • 4 Fegert JM, Vitiello B, Plener P. et al Challenges and burden of the Coronavirus 2019 (COVID-19) pandemic for child and adolescent mental health: a narrative review to highlight clinical and research needs in the acute phase and the long return to normality”. Child & Adolescent Psychiatry & Mental Health 2020; 14: 1-11
  • 5 Heimann T, Ewert J, Metzner F. et al Medizinischer Kinderschutz während des Corona-Lockdowns. Monatsschrift Kinderheilkunde. 2021 DOI: 10.1007/s00112-021-01135-7
  • 6 Osterloh F.. Krankenhäuser: Überzahlungen und Unsicherheiten. Deutsches Ärzteblatt 2021; 118 (07) A-351/B-300
  • 7 Witt A, Heimann T, Fegert JF.. Die Medizinische Kinderschutzhotline: Beratung für Angehörige der Heilberufe bei Kinderschutzfragen. In Begutachtung

Publication History

Article published online:
04 May 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Clemens V, Deschamps P, Fegert JM. et al Potential effects of “social” distancing measures and school lockdown on child and adolescent mental health. Eur Child Adolesc Psychiatry 2020 DOI: 10.1007/s00787-020-01549-w: 1–4
  • 2 Clemens V, von Hirschhausen E, Fegert JM.. Report of the intergovernmental panel on climate change: implications for the mental health policy of children and adolescents in Europe – a scoping review, European Child & Adolescent Psychiatry. 2020 DOI: doi.org/10.1007/s00787-020-01615-3
  • 3 Fegert JM, Clemens V, Berthold O. et al Kinderschutz ist systemrelevant – gerade in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie. Das Jugendamt 2020; 93: 178-181
  • 4 Fegert JM, Vitiello B, Plener P. et al Challenges and burden of the Coronavirus 2019 (COVID-19) pandemic for child and adolescent mental health: a narrative review to highlight clinical and research needs in the acute phase and the long return to normality”. Child & Adolescent Psychiatry & Mental Health 2020; 14: 1-11
  • 5 Heimann T, Ewert J, Metzner F. et al Medizinischer Kinderschutz während des Corona-Lockdowns. Monatsschrift Kinderheilkunde. 2021 DOI: 10.1007/s00112-021-01135-7
  • 6 Osterloh F.. Krankenhäuser: Überzahlungen und Unsicherheiten. Deutsches Ärzteblatt 2021; 118 (07) A-351/B-300
  • 7 Witt A, Heimann T, Fegert JF.. Die Medizinische Kinderschutzhotline: Beratung für Angehörige der Heilberufe bei Kinderschutzfragen. In Begutachtung

Zoom Image
Jun.-Prof. Dr. med. Vera Clemens, Universitätsklinikum Ulm Quelle: ©privat
Zoom Image
Prof. Dr. med. Jörg Fegert, Universitätsklinikum Ulm Quelle: ©PR Uni Ulm