Originalpublikation
Tison GH, Avram R, Kuhar P, Abreau S, Marcus GM, Pletcher MJ, Olgin JE. Worldwide
Effect of COVID-19 on Physical Activity: A Descriptive Study. Annals of Internal Medicine
2020. Doi: 10.7326 / M20-2665
Hintergrund
Zur Bekämpfung der COVID-19 Pandemie verabschiedeten zahlreiche Regierungen Maßnahmen
zum social distancing. Es ist zu vermuten, dass diese Maßnahmen Einfluss auf das Bewegungsverhalten und
damit auf die Gesundheit der Bevölkerung hatten. Eine vielfach angewendete Möglichkeit,
um Bewegung im weitesten Sinne zu erfassen, bieten Schrittzähler. Ziel dieser Studie
war die Untersuchung der weltweiten Veränderung der Schrittzahlen vor und nach der
Einstufung von COVID-19 als globale Pandemie durch die WHO am 11. März 2020.
Methoden
Die deskriptive Studie verwendete anonymisierte Daten von Nutzerinnen und Nutzern
der Gesundheits-App Argus (Azumio) im Zeitraum vom 19. Januar bis 1. Juni 2020. Die
täglichen Schrittzahlen wurden durch Akzelerometer der Smartphones und Algorithmen
von Apple und Android erhoben. Der Standort der Nutzerinnen und Nutzer wurde über
die IP-Adressen der Smartphones bestimmt. Durchschnitts-Schrittzahlen wurden auf täglicher
Basis berechnet, die Prozentwerte beziehen sich auf Veränderungen im Vergleich zu
den durchschnittlichen Schrittzahlen einer Region vor der Einstufung von COVID-19
als globale Pandemie. Kriterien für die Auswahl der Regionen waren, (a) dass die Hälfte
der Regionen schwer und die andere Hälfte weniger von COVID-19 und Maßnahmen zum social distancing betroffen waren und (b) dass Daten von mehr als 1.700 Nutzerinnen und Nutzern der
App in der jeweiligen Region verfügbar waren.
Ergebnisse
Insgesamt wurden 19.144.639 tägliche Schrittzahlen von 455.404 Nutzerinnen und Nutzern
aus 187 Ländern analysiert. Weltweit sank die durchschnittliche Schrittzahl innerhalb
von 10 Tagen nach der Ausrufung der Pandemie um 5,5 % (287 Schritte) und innerhalb
von 30 Tagen um 27,3 % (1.432 Schritte). Dabei gab es deutliche regionale Unterschiede:
Während in Italien die durchschnittliche tägliche Schrittzahl um bis zu 48,7 % sank,
konnte in Schweden lediglich ein Absinken von bis zu 6,9 % beobachtet werden. Außerdem
unterschied sich der Zeitpunkt, ab dem die täglichen Schrittzahlen absanken, da sich
das Bewegungsverhalten in Ländern mit frühen regionalen COVID-19 Ausbrüchen wie Iran
oder Italien am frühesten änderte. In den verschiedenen Ländern dauerte es auch unterschiedlich
lange, bis sich die durchschnittliche tägliche Schrittzahl um 15 % reduzierte: Italien
(5 Tage nach der Ausrufung der Pandemie), Spanien (9 Tage), Frankreich (12 Tage),
Indien (14 Tage), USA (15 Tage), Großbritannien (17 Tage), Australien (19 Tage) und
Japan (24 Tage).
Diskussion
Weltweit sind die Schrittzahlen gesunken, nachdem COVID-19 zu einer globalen Pandemie
erklärt wurde. Hierbei gab es regionale Unterschiede. Allerdings sanken die Schrittzahlen
auch in Ländern mit niedrigen Infektionsraten und ohne formalen Lockdown wie Südkorea,
Taiwan oder Japan.
Limitationen der Studie sind der sampling bias, mögliche Messfehler der Smartphone-Schrittzähler, Veränderungen des Trage- und Nutzungsverhaltens
der Smartphones sowie die fehlende Messung der Bewegungsintensität und anderer Aktivitäten
ohne Schritte. Das Datenset ist eine nicht-repräsentative Zufallsstichprobe mit einer
wechselnden Anzahl täglicher Nutzer. Außerdem fehlen Charakteristika der Nutzerinnen
und Nutzer (mit der Ausnahme der IP-Adresse), was die Vergleichbarkeit zwischen Regionen
und weitere Subgruppenanalysen einschränkt.
Der Effekt von Maßnahmen zum social distancing auf Bewegung sollte berücksichtigt werden, insbesondere wenn eine Verlängerung dieser
Maßnahmen notwendig wird.
Kommentar zur Studie
Die vorgelegten Daten zeigen, dass sich die COVID-19 Pandemie sowie die Maßnahmen
zum social distancing stark auf das Bewegungsverhalten der Menschen weltweit ausgewirkt haben. Zudem wurden
große länderspezifische Unterschiede festgestellt. Eine Analyse des Robert-Koch-Instituts
zeigt, dass auch innerhalb Deutschlands deutliche Unterschiede bei der regionalen
Verteilung der Infektionsraten mit COVID-19 über die Bundesländer sowie sozioökonomische
Ungleichheiten bestehen. Gerade langfristig könnten verstärkt sozial benachteiligte
Menschen von der Pandemie betroffen sein [1]. In diesem Zusammenhang sind auch internationale
Forschungsergebnisse von Relevanz, die einen Zusammenhang zwischen dem Bewegungsverhalten
von Kindern während der Pandemie und dem sozioökonomischen Status der Familie feststellten
[2]. Somit werden sich durch die Pandemie bestehende gesundheitliche Chanchenungleichheiten
weiter verstärken. Daher ist es besonders wichtig, dass trotz drohender Sparmaßnahmen
in vielen gesellschaftlichen Bereichen, die aktuell diskutiert werden, gerade Maßnahmen
zur Gesundheits- und Bewegungsförderung von sozioökonomisch schwächer gestellten Menschen
unbedingt fortgeführt bzw. sogar weiter ausgebaut werden.
Literatur bei den Autoren.