physiopraxis 2021; 19(01): 16-17
DOI: 10.1055/a-1291-9691
Profession

Damit aus Fragezeichen Ausrufezeichen werden – Behandeln nach therapeutischen Leitlinien

Themenscout Claudia Kemper
 

Leitlinien fassen systematisch entwickeltes Wissen über die Be-handlung eines bestimmten Krankheitsbildes zusammen. Für Therapeuten sind sie nicht bindend, aber ein wesent-liches Instrument, um die Prozess- und Ergebnisqualität der Physiotherapie zu verbessern und objektiv messbar zu machen.


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Viele tausend Male pro Tag gehen Physiotherapeuten mit ihren Patienten in einen Behandlungsraum und dann gilt: „Hinter der Tür liegt ein Geheimnis.“ Die „alten Hasen“ erinnern sich vielleicht an diesen Song, in dem es weiter heißt: „… dort hinter der Tür kann alles liegen, Wunder und Enttäuschung“.

Niemand weiß nämlich, was hinter den Behandlungstüren passiert, welche Techniken, Griffe oder Übungen zum Einsatz kommen. Niemand kann sagen, ob und in welchem Umfang die Behandlungen qualitativ angemessen sind und dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entsprechen. Mit anderen Worten: Wir wissen nicht, ob und in welchem Umfang die Physiotherapie Wunder oder Enttäuschung ist. In diesem Zustand des – aus wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Sicht – Nichtwissens steht eine große Herausforderung vor unserer Tür: die erweiterte Versorgungsverantwortung bzw. Blankoverordnung. Wenn sie kommt, müssen Therapeuten ihre Türen für eine wissenschaftliche Evaluation öffnen, so ist es gesetzlich vorgeschrieben. Es ist daher sinnvoll, sich jetzt über Therapieprozesse und Handlungsorientierungen für therapeutische Entscheidungen Gedanken zu machen, um eine hohe Versorgungsqualität zu erreichen.

Qualitätsinstrument therapeutische Leitlinien

Ein wesentliches Instrument, um die Prozess- und Ergebnisqualität der Physiotherapie zu verbessern und objektiv messbar zu machen, sind therapeutische Leitlinien. Diese bestehen im Wesentlichen aus Empfehlungen für oder gegen eine therapeutische Maßnahme. In der Nationalen Versorgungsleitlinie nicht-spezifischer Kreuzschmerz von 2017 heißt es beispielsweise: „TENS soll zur Behandlung akuter nicht-spezifischer Kreuzschmerzen nicht angewendet werden“ [1]. In derselben Leitlinie wird die Bewegungstherapie vor allem für subakute und chronische Rückenschmerzen zur Unterstützung körperlicher Aktivität empfohlen, während es zur Manuellen Therapie heißt, dass sie angewendet werden kann [2].

Die Empfehlungen werden nach ihrer Aussagekraft in Stufen geordnet, die sich bei Leitlinien, die auf einer systematischen Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse basieren, an der Qualität der ausgewerteten Studien orientieren ([TAB. 1]). Je nach Evidenzgrad stuft die Autorengruppe der Leitlinien die Empfehlung in die Empfehlungsgrade A (starke Empfehlung), B (Empfehlung) oder C (Empfehlung offen) ein. Die Empfehlungen gegen TENS und für Bewegungstherapie bei Rückenschmerzen entsprechen einer starken Empfehlung, die Aussage zur Manuellen Therapie ist eine offene Empfehlung.

TAB. 1 Empfehlungsgrade in Leitlinien (AWMF 2012 [3])

Empfehlungsgrad

Beschreibung

Syntax

Symbol

A

starke Empfehlung

soll/soll nicht

⇑⇑

B

Empfehlung

sollte/sollte nicht

C

Empfehlung offen

kann erwogen werden/es kann darauf verzichtet werden


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Nur für Ärzte bindend

Da Leitlinien auf einer mehr oder weniger systematischen Auswertung des besten verfügbaren Wissens aus fachlicher Expertise und Wissenschaft (interne und externe Evidenz) beruht, werden sie auch als Instrument der evidenzbasierten Medizin bezeichnet [4]. Sie kommen aber in Deutschland fast ausschließlich als Hilfestellung für die ärztliche Behandlung zum Einsatz. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) definiert Leitlinien als „systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen für die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen“ [5]. Dabei können Leitlinien auch für andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen und damit auch für Therapeuten eine nützliche Hilfe bei der Entscheidung über das konkrete therapeutische Vorgehen sein [6].

Die „Europe Region World Physiotherapy“ (ERWCPT) bezeichnet physiotherapeutische Leitlinien als „Goldstandard“ zur Realisierung der evidenzbasierten Praxis [7]. Sie unterstützt daher seit Jahren die Entwicklung sowie die Übersetzung ins Englische und bietet eine Übersicht über Leitlinien mit physiotherapeutischem und multidisziplinärem Fokus aus den Mitgliedsorganisationen [8]. Eine zentrale Rolle hat dabei die „Royal Dutch Society for Physical Therapy“ (KNGF). Der niederländische Verband hat eine Reihe therapeutischer Leitlinien auf seiner Website in englischer Sprache veröffentlicht. Er ermöglicht dadurch eine Nutzung auch in anderen Ländern, betont dabei aber, dass dazu eine Adaption an lokale Gegebenheiten erfolgen muss [9]. Um die Entwicklung eigener Leitlinien zu ermöglichen, stellt die KNGF zudem eine ausführliche Methodik zur Verfügung [10].

Mit Leitlinien erreichen wir eine hohe Versorgungsqualität.

Die wesentlichen Phasen der Entstehung einer therapeutischen Leitlinie sind die Vorbereitung, Entwicklung sowie die Veröffentlichung und Verbreitung [11]. Ein zentrales Element der Vorbereitung ist die Zusammensetzung einer Arbeitsgruppe, die aus themenspezifisch wissenschaftlichen Experten, fachlich klinischen Experten, relevanten Interessengruppen bzw. Verbänden und Patientenvertretern besteht [11]. Die Entwicklung einer Leitlinie reicht von der Festlegung der Schlüsselfragen zu dem übergeordneten Thema bis zur Formulierung der Empfehlungen. In dieser Entwicklungsmethodik werden Leitlinien in drei Stufen unterschieden ([TAB. 2]): Leitlinie mit allen Elementen einer systematischen Entwicklung auf Basis einer Literaturrecherche (S3-Leitlinie: evidenz- und konsensbasiert), Leitlinien mit einer formalen Konsensfindung (S2k-Leitlinie: konsensbasiert) und/oder einer formalen Evidenz-Recherche (S2e-Leitlinie: evidenzbasiert) sowie die von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitete Leitlinie (S1-Leitlinie: Handlungsempfehlung).

TAB. 2 Stufenklassifikation von Leitlinien (AWMF 2012 [3])

Stufe

Bezeichnung

Merkmale

S3

Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie

repräsentatives Gremium, systematische Recherche, Auswahl, Bewertung der Literatur, strukturierte Konsensfindung

S2e

Evidenzbasierte Leitlinie

systematische Recherche, Auswahl, Bewertung der Literatur

S2k

Konsensbasierte Leitlinie

repräsentatives Gremium, strukturierte Konsensfindung

S1

Handlungsempfehlungen von Expertengruppen

Konsensfindung in eineminformellen Verfahren

Systematik

Die nationale Versorgungsleitlinie nicht-spezifischer Kreuzschmerz entspricht einer S3-Leitlinie und ist auch in Zusammenarbeit mit Physiotherapeuten entstanden. Für eine konkrete Handlungsorientierung im therapeutischen Alltag bietet diese Leitlinie allerdings zu wenig konkrete evidenzbasierte Handlungsorientierungen. Das macht es Therapeuten im Alltag schwer.


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Eine standardisierte Therapie garantieren

Anders ist etwa die 2018 von der KNGF veröffentlichte Leitlinie zur Behandlung von Knie- und Hüftgelenkarthrose ([TAB. 3]). Sie ist von und für Physios entwickelt und basiert auf einer systematischen Literaturrecherche. Sowohl für Patienten, die allein konservativ behandelt werden, als auch in der prä- oder postoperativen Phase empfiehlt die Leitlinie Bewegungstherapie nach den FITT-Prinzipien (Frequency, Intensity, Type and Time duration). Zudem erläutert sie Frequenz, Intensität, Art der Übungen und Dauer der Therapie. Wenn also die kommenden Regelungen der Blankoverordnung die Indikation Knie- und Hüftgelenkarthrose umfassten, wäre die KNGF-Leitlinie ein Instrument, das eine standardisierte und evidenzbasierte Therapie garantiert und die Evaluation anhand patientenrelevanter Parameter ermöglicht.

TAB. 3 KNGF-Leitlinie zur Behandlung von Knie- und Hüftgelenkarthrose: Empfehlungen nach den FITT-Prinzipien zur konservativen, prä- und postoperativen Behandlung.

Prinzipien

Empfehlung

Frequenz (Frequency)

  • Ausdauertraining: mindestens 30 Minuten an mindestens 5 Tagen pro Woche

  • Kraft- und Funktionstraining: mindestens 2 Tage pro Woche;

  • zu Beginn: Trainingstherapie mit dem Therapeuten 1x pro Woche, ergänzt mit Eigentraining

Intensität (Intensity)

  • Krafttraining: 60–80 % der Maximalkraft (40–60 % bei Anfängern); 2–4 Sätze mit 8–15 Wiederholungen; 30–60 Sek. Pause zwischen den Sätzen

  • Ausdauertraining: >60 % der maximalen Herzfrequenz (40–60 % bei Anfängern)

Art des Trainings (Type)

  • Kombination aus Kraft-, Ausdauer- und Funktionstraining:

  • Krafttraining: große Muskelgruppen der unteren Extremität; Vermeidung von zu großer mechanischer Belastung (z. B. Leg-Extensor bei Kniegelenkarthrose)

  • Ausdauertraining: Trainingsarten mit geringer Gelenkbelastung (z. B. Walking, Fahrradfahren, Schwimmen)

  • Funktionstraining: Schwerpunkt auf Alltagsaktivitäten (z. B. Treppensteigen oder Aufstehen)

  • ergänzend Koordinationsübungen

Dauer (Time duration)

  • Behandlungsperiode zwischen 8 und 12 Wochen

  • ergänzend 1–2 Folgetermine (z. B. 3 und 6 Monate nach der Behandlungsperiode) zur Verbesserung der Compliance

Wollen wir Physios also für Veränderungen an unseren Qualitätsansprüchen gewappnet sein, sind konkrete therapeutische Leitlinien ein wertvolles Instrument, damit aus Jahren des zähen Ringens um mehr Versorgungsverantwortung keine Enttäuschung resultiert, sondern zumindest ein kleines Wunder in Richtung Direktzugang.


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
08. Januar 2021

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