physiopraxis 2021; 19(01): 44-47
DOI: 10.1055/a-1291-7389
Therapie

Fall für Drei Zurück in den Stall

Mirjam Schäfer
,
Samantha Wildi
,
Stefan Staubli
 

Für den Landwirt Herrn Schneider war es ein Schock: Nach einem schweren Unfall ist er Paraplegiker. Sein Ziel war es, seinen Bauernhof wieder möglichst selbstständig zu betreiben. Dabei unterstützten ihn eine Ergotherapeutin, eine Physiotherapeutin sowie ein Jobcoach.


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Mirjam Schäfer hat zunächst in Japan, Deutschland und den USA als Ergotherapeutin im pädiatrischen Bereich gearbeitet. Im Schweizer-Paraplegiker-Zentrum (SPZ) ist sie seit 2016 als Ergotherapeutin im Bereich der stationären Rehabilitation beschäftigt und ist Leiterin der Fachgruppe „Ergonomie und Schmerz“. Zusätzlich ist sie als Praxisausbilderin tätig.

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Samantha Wildi ist als Physiotherapeutin seit 2011 im stationären Bereich am SPZ tätig. Zusätzlich arbeitet sie in der Hippotherapie des Querschnittzentrums, ist Leiterin seitens der Physiotherapie der Fachgruppe „Jugendrehabilitation“ und Praxisausbilderin.

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Stefan Staubli ist Ergotherapeut, MSc Neurorehabilitation und CAS Supported Employment. In einer Reha-Klinik war er Rehabilitationsleiter, daneben setzte er sich für die Entwicklung von Programmen für die berufliche Wiedereingliederung von Menschen mit Hirnverletzung ein. Seit 2012 arbeitet er im SPZ als Leiter des Bereiches Soziale und Berufliche Integration. Neben der Leitungsfunktion ist er als Eingliederungsberater und Jobcoach tätig.

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Abb.: Thieme Group (Symbolbild)

Der Fall

Aufgrund eines Unfalls hat der 60 Jahre alte Herr Schneider eine sensomotorisch inkomplette Paraplegie auf Höhe des 8. Brustwirbels. Er gibt Schmerzen im Bereich der Osteosynthese an und zeigt eingeschränkte Sensibilität und Propriozeption in den Beinen. Der Schlüsselbeinbruch, den er sich ebenfalls beim Unfall zugezogen hat, verursacht derzeit keine Schmerzen.

In seiner Freizeit fährt Herr Schneider gerne Fahrrad und spielt in der Dorfmusik. Er ist als selbstständiger Landwirt tätig und wohnt zusammen mit seiner Frau und ihren zwei gemeinsamen Kindern in einem zweigeschossigen Eigentumshaus auf seinem Bauernhof. Der Zugang zum Haus erfolgt über Stufen. Im Bad gibt es sowohl eine Dusche als auch eine Badewanne. Der 60-Jährige besitzt einen PKW sowie diverse Landwirtschaftsmaschinen. Der Parkplatz ist überdacht. Sein wichtigstes Ziel ist es, als Fußgänger seinen Bauernhof wieder führen zu können.

Um Personen wie Herrn Schneider optimal auf ihr Leben nach der Rehabilitation vorzubereiten und sie in ihren Berufsalltag bestmöglich wieder einzugliedern, ist eine interprofessionelle Herangehensweise notwendig. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) gilt als grundlegendes Modell klinischer Entscheidungsfindung im Schweizer-Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Ergo- und Physiotherapie werden durch eine Co-Leitung geführt. Der Informationsfluss mit der Pflege und den Ärzten wird durch den morgendlichen Austausch, regelmäßige Co-Therapien und interprofessionelle Besprechungen gewährleistet. Der Patient als Kernperson wird in die gemeinsame Visite einbezogen, die alle vierzehn Tage stattfindet. Daran nehmen alle Professionen teil, die an der Rehabilitation des Patienten beteiligt sind. Als zusätzliches Angebot des SPZ existiert die ParaWork. Sie unterstützt Personen, die eine berufliche Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt wünschen.

Im folgenden Beispiel zeigen Ergo-, Physiotherapie und ein Jobcoach von ParaWork stellvertretend für das interprofessionelle Team ihre Zusammenarbeit für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in den Alltag und Beruf am Fall von Herrn Schneider auf. Er war insgesamt fünf Monate stationär im SPZ und wurde ambulant über weitere acht Monate eng vom Jobcoach begleitet.

Mirjam Schäfer

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ABB. 1 Der Patient erprobte seinen Aktivrollstuhl auf unterschiedlichen Untergründen, als seine Familieihn in der Reha besuchte. Abb.: F. Iseli

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Ergotherapie

Als ich Herrn Schneider im Zielgespräch kennenlernte, definierte er mit mir zunächst folgende Partizipations- und Aktivitätsziele: selbstständige Mobilität im Aktivrollstuhl inklusive der Alltagstransfers in drei Monaten (Nahziel) und selbstständiges Wohnen als Teilfußgänger im eigenen Zuhause in sechs Monaten (Fernziel).

Mobilität ermöglichen

Der Einsatz eines Aktivrollstuhls war anfangs aufgrund der Claviculafraktur nicht möglich. Daher erhob ich die Körpermaße des Patienten, um einen passenden Elektrorollstuhl für ihn vorzubereiten. Da die Sensibilität der unteren Extremitäten vermindert war, wählte ich außerdem ein Antidekubituskissen aus. Das Gel im hinteren Bereich bietet präventiv einen Dekubitusschutz, und der feste Schaumstoff im vorderen Bereich erleichtert das Stützen beim Transfer. Zusätzlich nahm der Patient an einer Informationsveranstaltung zur Dekubitusprophylaxe teil. Im Verlauf der Rehabilitation testete Herr Schneider diverse Rollstühle und Sitzkissen. Nach fünf Wochen war es ihm dann möglich, selbstständig in einem Aktivrollstuhl zu fahren.

Zusammen mit der Physiotherapie erarbeiteten wir die Transfertechniken nach kinästhetischen Gesichtspunkten. Dazu gehörten die Flexion und Rotation der Wirbelsäule sowie die Blickrichtung in die kontralaterale Richtung des Transfers. Damit alle Berufsgruppen ihn einheitlich instruierten, fand eine Aktivitätsvisite statt. Dabei zeigte Herr Schneider seine Technik vor der Pflege, den Therapieberufen und Ärzten. Nach zwei Monaten konnte der Patient die erlernte Transfertechnik auf alle Alltagstransfers übertragen. Zudem war er nach intensiven Anzieh- und Selbsthilfetrainings im Bereich Selbstversorgung selbstständig. Im Stadttraining lernte er mit dem Rollstuhl Rolltreppen zu bewältigen sowie Pflastersteine, Treppen und weitere Hindernisse zu überwinden.

Zehn Wochen vor seinem Reha-Austritt war Herr Schneider beim Gehen im Außenbereich noch sturzgefährdet. Die Gangqualität entwickelte sich zwar weiter, es stellte sich jedoch die Frage, obsie für steile und unebene Strecken ausreichen würde, wie sie auf seinem Bauernhof vorzufinden sind. In Absprache mit dem Patienten und dem behandelnden Team wurde die Frage nach der damaligen Notwendigkeit eines Rollstuhls mit „Ja“ beantwortet.


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Wohnraum anpassen

Nach zwei Monaten fand zusammen mit ParaWork, einem Architekten der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung und einem Vertreter der Versicherung des Patienten die Wohnungsabklärung statt. Erfreulicherweise waren am Wohnhaus selbst nur kleine bauliche Anpassungen notwendig. Zusätzlich gab der Patient nach Wochenendurlauben Rückmeldung, woran er in der Therapie arbeiten möchte. Hieraus ergab sich die Fragestellung der Mobilität auf den Feldernund deren Bewirtschaftung. Im Austausch mit ParaWork analysiertenwir für die Bedürfnisse des Patienten passende Landwirtschaftsmaschinen. Im Rahmen der Motorisierungsabklärung zeigte sich, dass eine Anpassung am PKW nicht notwendig war.


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Erfolgreicher Abschluss

Im Hinblick auf Herrn Schneiders Ziel, Fußgänger zu werden, unterstützte ich die Physiotherapeutin mit Trainings zur Rumpfstabilität und isolierten Beckenbewegungen. Der Patient ist inzwischen in all seinen Aktivitäten des täglichen Lebens selbstständig. Kurz vor dem Ende seines Reha-Aufenthaltes bestätigte er, dass er auf ein eigenständiges Leben zu Hause vorbereitet sei. Deshalb wurde die ergotherapeutische Behandlung mit dem stationären Aufenthalt erfolgreich abgeschlossen.

Mirjam Schäfer


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Physiotherapie

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ABB. 2 Zur Aktivierung der unteren Extremitäten trainierte Herr Schneider am NuStep T5xr. Abb.: F. Iseli

Anschließend an die gemeinsame Anamnese mit der Ergotherapeutin erhob ich den Gelenkstatus der unteren und oberen Extremitäten sowie den Muskelstatus der unteren Extremität und des Rumpfes. Mit dem Patienten formulierte ich folgendes Fernziel: In 5 Monaten geht Herr Schneider im Innenbereich auf ebenem Boden mit Hilfsmitteln.

Gehen im Fokus der Therapie

Um früh eine selbstständige Mobilität zu ermöglichen, lag zu Beginn der Reha der Fokus auf dem selbstständigen Transfer in den Rollstuhl sowie auf den Bewegungsübergängen im Bett zusammen mit Ergotherapie und Pflege. Zudem setzte ich funktionelle Elektrostimulation zum Kraftaufbau und zur Verbesserung der Ansteuerungsfähigkeit des M. gluteus maximus, M. triceps surae beidseits und der Mm. ischiocrurale ein. Herr Schneider nahm an Gruppentherapien der Sporttherapie teil, um das Rollstuhlhandling zu erlernen. Dies ermöglichte es, den Fokus in den Einzeltherapien auf das Gehen zu legen.

Zu Beginn trainierten wir die posturale Kontrolle aus verschiedenen Ausgangsstellungen wie Kurz-, Langsitz und Stehen. Dies diente als Voraussetzung zum qualitativ hochstehenden Gehen. Im Wasser ging der Patient erste Schritte. Nach sechs Wochen lief Herr Schneider zum ersten Mal auf dem Laufband mit Gewichtsentlastung. Die Muskelfunktionen hatten sich schnell erholt: Nach neun Wochen waren Aufstehen und erste Schritte am Barren möglich, drei Wochen später genügte die Unterstützung eines Rollators, und nach weiteren drei Wochen konnte sich der Patient mithilfe von Nordic-Walking-Stöcken unter Supervision ausreichend stabilisieren. Allerdings ermüdete er schnell und war daher noch sturzgefährdet.

Nach vier Monaten intensiver Gangschule bewegte sich Herr Schneider auf Station selbstständig mit Unterarmgehstützen fort. Zur Objektivierung überprüfte ich die zunehmende Muskelkraft mit einem monatlichen Muskelstatus. Zusätzlich erfasste ich die Verbesserung des Gehens und des Gleichgewichts mit dem 6-Minuten-Gehtest, der Berg Balance Scale und dem Timed-Up-and-Go-Test. Begleitend zur Einzeltherapie nahm Herr Schneider zur Verbesserung der Rumpfstabilität an Gruppentherapien wie Bogenschießen teil. Im Gegensatz zur Muskelkraft blieben die Defizite in der Tiefensensibilität einschränkend und minderten die Gangqualität.


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Übertrag auf häusliche Situation

In laufenden Gesprächen mit dem Patienten, der Ergotherapie und der ParaWork erfuhr ich, auf welchen Untergründen und Unebenheiten sich Herr Schneider zu Hause fortbewegen muss. Aus diesem Grund trainierten wir das Gehen auf Wiesen, Kies, Pflastersteinen, dem Bauernhofgelände des SPZ sowie das Bergauf- und Bergabgehen.

Aufgrund der fehlenden Tiefensensibilität erwiesen sich Unebenheiten als Herausforderung. Zur Sicherheit nutzte Herr Schneider seine visuelle Kontrolle und erlernte Kompensationsstrategien. Die Sturzgefahr auf unebenem Boden im Außenbereich war zu groß, sodass ich die Empfehlung eines Aktivrollstuhls zum Ende des Reha-Aufenthaltes unterstützte.


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Ambulante Betreuung notwendig

In den letzten Wochen der Rehabilitation war die Muskelkraft ausreichend, um mithilfe des Handlaufs unter Supervision Treppen zu steigen. Zur kontinuierlichen Verbesserung der Gangqualität war weiterhin die aktive Kräftigung der unteren Extremität und des Rumpfes, eine Gangschule und das Training der Balance im Gehen und Stehen indiziert. Hierfür ging Herr Schneider nach seinem Reha-Austritt in die ambulante Physiotherapie.

Samantha Wildi


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Jobcoach der ParaWork

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ABB. 3 Um seinen landwirtschaflichen Betrieb weiter führen zu können, musste der Patient sein Unternehmen umstrukturieren – vom Milchkuhbetrieb auf Mutterkuhhaltung. Abb.: F. Iseli

Drei Monate nach seinem Unfall lernte ich Herrn Schneider kennen, um ihn bei der Wiedereingliederung auf dem ersten Arbeitsmarkt aktiv zu unterstützen. Sein Ziel war die aktive Weiterführung seines landwirtschaftlichen Betriebes. Mit dem Ansatz der Klientenzentrierung erarbeiteten wir gemeinsam im Verlauf der Rehabilitation die Realisierung seines Partizipationszieles.

Arbeitsproben geben Aufschluss über Fähigkeiten

Im Austausch mit den Ärzten und Therapieberufen erfasste ich die funktionelle Situation des Patienten. Er war im Innenbereich Fußgänger und im Außenbereich auf den Rollstuhl angewiesen. Sein Betrieb war auf Milchwirtschaft ausgelegt. Das Melken war eine große körperliche Herausforderung für ihn, und die Umstellung auf einen Laufstallbetrieb mit Melkstand war wirtschaftlich nicht verkraftbar.

Im Rahmen der Diagnostik wurden handwerkliche und technische Arbeitsproben durchgeführt. Dabei wurden Kriterien wie das soziale Verhalten, Problemlösestrategien, manuelle Kompetenzen, Lernfähigkeit, Konzentration und vieles mehr erhoben. Anhand der Ergebnisse entstand ein Fähigkeitsprofil, welches weitgehend dem eines Landwirtes entsprach und damit die Zielsetzung des Patienten unterstützte, obwohl seine physische Leistungsfähigkeit aufgrund der Querschnittlähmung eingeschränkt war.

Zusammen mit der Ergotherapie besuchten wir Herrn Schneiders Bauernhof. Es gab im Stall bauliche Hürden, und ein Drittel des Betriebes befand sich auf steiler Hanglage. Im Gespräch mit der Physiotherapie wurde deutlich, dass aufgrund der muskulären Instabilität der Hüfte des Patienten das Gehen in steilem, unebenem Gelände zu dieser Zeit eine Überforderung darstellte. Die Mobilität auf seinem Hof gelang Herrn Schneider sowohl mit Unterarmgehstützen als auch im Rollstuhl sehr gut. Zum Melken und zum Aufsteigen auf den Traktor waren die Muskelkraft und Tiefensensibilität jedoch noch nicht ausreichend vorhanden.


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Neue Struktur des Betriebes notwendig

Nach dem stationären Reha-Aufenthalt fand zunächst ein therapeutischer Arbeitsversuch statt, um zu sehen, welche Teilaufgaben der Patient als Landwirt wieder ausüben konnte. Die erbrachte Leistung war wirtschaftlich noch nicht ausreichend. Im Rahmen mehrerer Gespräche informierte ich den Eingliederungsberater der zuständigen Versicherung über die aktuelle Situation. Zudem holte ich die fachliche Meinung einer landwirtschaftlichen Beratungsstelle ein. Um das Ziel des Patienten zur Weiterführung des Betriebes zu erreichen, war eine Umstrukturierung des Milchkuhbetriebs auf Mutterkuhhaltung dringendst zu empfehlen.

Zusammen mit einer Fachperson für landwirtschaftliche Bauten erstellte ich einen Business Case zum Einkommensvergleich vor und nach Umstellung des Betriebes. Es war von einer wirtschaftlichen Einbuße von 50 Prozent auszugehen, gleichzeitig verringerte sich aber auch der Arbeitsaufwand um 50 Prozent. Mit diesen neuen Rahmenbedingungen wäre das Ziel des Patienten zwar ambitioniert, aber durchaus realistisch. Herr Schneider war mit dem Vorschlag der Umstrukturierung einverstanden.


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Ziele erreicht

Nach mehreren Gesprächen sowie nach Prüfung der Wirtschaftlich- und Tragbarkeit entstand die Detailplanung des Bauprojektes. Für die Umstrukturierung wurde ein moderner Laufstall für 15 bis 20 Mutterkühe mit Jungvieh realisiert. So konnte Herr Schneider nach circa einem Jahr interdisziplinärer Betreuung wieder Leiter seines landwirtschaftlichen Betriebes werden.

Stefan Staubli


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
08. Januar 2021

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Abb.: Thieme Group (Symbolbild)
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ABB. 1 Der Patient erprobte seinen Aktivrollstuhl auf unterschiedlichen Untergründen, als seine Familieihn in der Reha besuchte. Abb.: F. Iseli
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ABB. 2 Zur Aktivierung der unteren Extremitäten trainierte Herr Schneider am NuStep T5xr. Abb.: F. Iseli
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ABB. 3 Um seinen landwirtschaflichen Betrieb weiter führen zu können, musste der Patient sein Unternehmen umstrukturieren – vom Milchkuhbetrieb auf Mutterkuhhaltung. Abb.: F. Iseli