Schlüsselwörter
Adipositas - maschinelle Beatmung - Lagerung - Obesity Supine Death Syndrome - Adipositas-Paradoxon
Key words
obesity - mechanical ventilation - positioning - obesity supine death syndrome - obesity
paradox
Abkürzungen
AF:
Atemfrequenz
ARDS:
Acute Respiratory Distress Syndrome, akutes Lungenversagen des Erwachsenen
BMI:
Body-Mass-Index
EELV:
endexspiratorisches Lungenvolumen
EFL:
Expiratory Flow Limitation, exspiratorische Flussbehinderung
ETI:
endotracheale Intubation
FRC:
funktionelle Residualkapazität
IAP:
intraabdomineller Druck
IBW:
Ideal Body Weight, ideales Körpergewicht
ITS:
Intensivtherapiestation
PEEP:
Positive End-Expiratory Pressure, positiver endexspiratorischer Atemwegsdruck
RM:
Recruitment-Manöver
VT
:
Tidal Volume, Atemzugvolumen
Einleitung
„Too Big to Fail“ (deutsch: Too Big to Fail – Die große Krise) ist der Originaltitel
eines US-amerikanischen Filmdramas aus dem Jahr 2011 unter der Regie von Curtis Hanson.
Er ist zu übersetzen mit „Zu groß zum Scheitern“. Dies steht für die Systemrelevanz
von Unternehmen am Finanzmarkt, bei denen eine Insolvenz aufgrund ihrer wirtschaftlichen
Rolle nicht zu verantworten ist.
Ähnlich ist die Situation bei der Intensivtherapie von Adipösen. Weltweit ist deren
Zahl auf Intensivtherapiestationen (ITS) angestiegen, und die Herausforderungen, die
sich durch die pathophysiologischen Besonderheiten, die Begleiterkrankungen und die
resultierenden Kosten ergeben, sind hoch. Die Intensivtherapie bei diesem speziellen
Patientenkollektiv darf nicht scheitern.
Epidemiologie
Wie die Weltgesundheitsorganisation mitteilt, hat sich seit 1975 der Anteil fettleibiger
Menschen auf der Erde verdreifacht. Im Jahr 2016 waren mehr als 1,9 Milliarden Erwachsene
(≥ 18 Jahre) übergewichtig. Davon waren mehr als 650 Millionen fettleibig. Die zusätzlichen
Ausgaben des Gesundheitswesens für die Behandlung der durch Fettleibigkeit hervorgerufenen
Gesundheitsstörungen belaufen sich in den USA auf 147 Milliarden US $ (≈ 128 Milliarden
€) pro Jahr. Dies entspricht 9% der Gesamtausgaben des Gesundheitswesens. Ein Fettleibiger
benötigt für seine medizinische Versorgung 1429 US $ (≈ 1235 €) pro Jahr mehr als
ein Normalgewichtiger. Prognosen gehen davon aus, dass in den nächsten 2 Dekaden die
Prävalenz der Fettleibigkeit um 33% zunimmt [1]. Die epidemiologische Entwicklung repräsentiert sich in der Prävalenz fettleibiger
Patienten auf ITS.
Merke
Die Prävalenz fettleibiger Patienten auf ITS beträgt in Abhängigkeit vom untersuchten
Patientenkollektiv und Ausrichtung sowie geografischer Lage der ITS 20 – 39%.
Endotracheale Intubation
Fettleibige weisen im Vergleich zu Normalgewichtigen häufiger einen Mallampati-Score
≥ 3 auf, direkte Laryngoskopie und endotracheale Intubation (ETI) sind schwieriger
[2]. Eine entscheidende Erleichterung der ETI bei Fettleibigen ist die Lagerung in der
sog. „Ramped Position“. Dies bedeutet, dass Oberkörper und Kopf des Patienten mit
speziellen Kissen erhöht gelagert werden, sodass Meatus acusticus externus und Jugulum
auf einer gedachten horizontalen Linie liegen. Zusätzlich sollte eine Auswahl von
Hilfsmitteln für das Management des schwierigen Atemwegs zur Verfügung stehen.
Merke
ETI auf ITS sind schwieriger und häufiger mit Komplikationen belastet als im Operationssaal
vorgenommene [3].
Intubieren Nichtanästhesisten auf ITS, stellt dies einen eigenen Risikofaktor dar
[4]. Im Zusammenhang mit ETI auf der ITS treten in 2,7% der Fälle Herzstillstände auf.
Letztere stellen einen unabhängigen Prädiktor der 28-Tage-Sterblichkeitsrate dar.
Fettleibigkeit wurde als Risikofaktor für einen Herzstillstand im Zusammenhang mit
ETI identifiziert [5]. Eine aktuelle Leitlinie fordert in Anbetracht dieser beunruhigenden Daten die Anwesenheit
von 2 Ärzten bei der ETI auf ITS [6]. Mindestens einer dieser Ärzte sollte erfahren sein im Atemwegsmanagement kritisch
kranker adipöser Patienten.
Möglicherweise ist es angebracht, zur Evaluation der Atemwege den auf die spezielle
Situation einer ITS angepassten MACOCHA-Score anzuwenden. Er berücksichtigt
-
4 patientenbezogene Faktoren (Mallampati-Score III oder IV, Vorliegen eines obstruktiven
Schlafapnoe-Syndroms, Beweglichkeit der Halswirbelsäule, Mundöffnung < 3 cm),
-
2 pathologiebezogene Faktoren (Vorliegen von Koma, schwere Hypoxämie) und
-
einen anwenderbezogenen Faktor (derjenige, der intubiert, ist kein Anästhesist).
Jede der 7 Komponenten wird mit unterschiedlichen Punktzahlen von 1 bis 5 bewertet.
Je höher der Score, desto schwieriger die ETI (0: leicht, 12: sehr schwierig) [4].
Merke
Wenn immer möglich, sollen fettleibige Patienten vor einer ETI mehr als 3 Minuten
mit reinem Sauerstoff präoxygeniert und dann apnoisch oxygeniert werden.
Hierzu eignet sich das THRIVE-Verfahren („transnasal humidified rapid-insufflation
ventilatory exchange“) [7]. Dabei wird dem Patienten über eine nasale Sonde angefeuchteter reiner Sauerstoff
mit einem Fluss von 60 – 70 l/min zugeführt. Das Verfahren beruht auf dem Prinzip
des aventilatorischen Massenflusses (gleichbedeutend mit apnoischer Oxygenierung).
Ein weiterer, besonders bei fettleibigen Patienten erwünschter Effekt ist, dass während
der Spontanatmungsphase ein positiver Atemwegsdruck von ca. 7 cmH2O aufgebaut wird. Andere, seit Jahren bewährte Maßnahmen wie CPAP-Atmung oder die
noninvasive Beatmung mit positiv endexspiratorischem Druck, sind ebenfalls empfehlenswert.
Veränderungen des respiratorischen Systems
Veränderungen des respiratorischen Systems
Der Atemapparat des fettleibigen Patienten ist in vielfacher Hinsicht pathologisch
verändert:
-
Compliance der Thoraxwand ↓, Compliance der Lungen ↓
-
Zwerchfellkuppeln abgeflacht
-
intraabdomineller Druck (IAP) ↑
Das respiratorische System kann als „Bag-in-Box-Model“ verstanden werden: Die Lungen
sind der „Bag“, der Beutel, der sich füllt und wieder entleert. Die „Box“ ist der
Kasten, der den Beutel umschließt wie der Brustkorb die Lungen. Der Druck im Beutel
(Lungen) entspricht dem Alveolardruck, und der Druck im Kasten, aber außerhalb der
Lungen (Pleuraraum) entspricht dem Pleuradruck. Der transpulmonale Druck stellt den
Unterschied dar zwischen diesen beiden Drücken und spiegelt die Kräfte wider, die
auf die Lunge einwirken. Wiederholter Kollaps und anschließende Wiedereröffnung von
Alveolen tritt auf, wenn die transpulmonalen Drücke zu niedrig sind, um das endexspiratorische
Lungenvolumen aufrechtzuerhalten ([Abb. 1]) [8].
Abb. 1 „Bag-in-Box-Model“ gezeichnet nach einer Idee von MacIntyre [8]. Modell zur Veranschaulichung des Pleuradrucks am Ende der Exspiration bei Normalgewichtigen
und Adipösen bei Spontanatmung. BMI: Body-Mass-Index
Die Summe dieser Veränderungen resultiert in einer Reduktion sämtlicher Lungenvolumina,
insbesondere der funktionellen Residualkapazität (FRC). Es können sich leicht Atelektasen
in den unten liegenden basalen Lungenabschnitten entwickeln, welche letztendlich verantwortlich
sind für die Störungen der Ventilations-Perfusions-Verhältnisse. Letztere zeigen sich
in einem niedrigen arteriellen Sauerstoffpartialdruck und einer erhöhten alveoloarteriellen
Sauerstoffdifferenz. Weiterhin fördert die skizzierte Konstellation auch eine exspiratorische
Flussbehinderung (EFL) und den Aufbau eines intrinsischen positiven endexspiratorischen
Drucks (PEEPi).
Merke
Sämtliche Lungenvolumina, insbesondere die FRC, sind bei Fettleibigen kleiner; es
können sich leicht Atelektasen entwickeln.
Maschinelle Ventilation
Eine durchdachte Einstellung der Beatmungsparameter kann dazu beitragen, die Auswirkungen
der geschilderten pathophysiologischen Veränderungen zu reduzieren. Eine ungeeignete
maschinelle Ventilation (MV) kann über Baro-, Volu-, Atelek- und Biotrauma zur Entwicklung
eines ventilatorassoziierten Lungenschadens beitragen. Im schlimmsten Fall kann sich
ein ARDS (akutes Lungenversagen des Erwachsenen) mit mikro- und makropathologischen
Veränderungen wie beim diffusen Alveolarschaden entwickeln.
Beatmungskonzept
Grundlage der Empfehlungen für die MV von kritisch kranken Fettleibigen auf der ITS
ist die lungenprotektive Beatmung nach den Vorschlägen des US-amerikanischen ARDS-Netzwerks.
Diese gehen letztlich zurück auf eine nun 20 Jahre alte Meilenstein-Arbeit [9], in der 807 Patienten in 2 Gruppen randomisiert wurden: Die eine Gruppe wurde mit
einem Atemzugvolumen (VT) von 6 ml/kg ideales Körpergewicht (IBW) beatmet, die andere mit einem VT von 12 ml/kg IBW. Die mit den kleinen VT beatmeten Patienten wiesen eine signifikant niedrigere Sterblichkeitsrate, signifikant
mehr Tage ohne MV, signifikant mehr Tage ohne Organdysfunktionen und niedrigere Interleukin-6-Spiegel
auf.
Von Interesse ist nun, dass 473 der 807 Patienten übergewichtig oder fettleibig waren.
Eine Sekundäranalyse ergab: Es existierten keine statistisch signifikanten Unterschiede
bezüglich der Outcome-Parameter 28-Tage- und 180-Tage-Sterblichkeitsrate, Tage ohne
MV und Anteil der Patienten, die nicht die nichtassistierte Atmung erreichten. Daraus
lässt sich ableiten, dass das vom ARDS-Netzwerk vorgeschlagene lungenprotektive Beatmungsregime
grundsätzlich auch für kritisch kranke Adipöse geeignet ist. Dieses sieht so aus:
-
Ziel: arterieller Sauerstoffpartialdruck (PaO2) = 55 – 80 mmHg oder arterielle Sauerstoffsättigung (SpO2) = 88 – 95%
-
Modus: „Volume assist control“
-
VT: 6 ml/kg IBW
-
Plateaudruck: ≤ 30 cmH2O
-
Atemfrequenz (AF): 6 – 34/min (pH = 7,3 – 7,45)
-
I : E-Verhältnis: 1 : 1 bis 1 : 3
-
PEEP: Einstellung nach Tabelle
Allerdings führten Erkenntnisse aus den Jahren nach der Publikation der ARDSNet-Studie
zu einer differenzierteren PEEP-Titration und zur Aufnahme von Recruitment-Manövern
in das Armamentarium.
Merke
Inzwischen wird die lungenprotektive Beatmung nicht nur für ARDS-Patienten, sondern
auch für die MV von kritisch Kranken und für die Narkosebeatmung postuliert.
Auswahl des Atemzugvolumens
Das VT während MV muss nach dem idealen Körpergewicht (IBW) und nicht nach dem aktuellen
Körpergewicht berechnet werden (s. „Definition – Formeln für IBW“). Das Ziel von 6 – 8 ml/kg
IBW wird aber oft nicht erreicht. Als warnendes Beispiel mag folgendes Ergebnis dienen:
Weniger als zwei Drittel der 915 untersuchten ARDS-Patienten aus 50 Ländern wurden
an Tag 1 mit einem VT < 8 ml/kg IBW beatmet [10]! Fettleibigkeit stellt einen Risikofaktor für die intraoperative Beatmung mit VT > 10 ml/kg IBW dar und kann das Risiko für die Entwicklung eines ARDS erhöhen. In
einer aktuellen Studie an fettleibigen Kleintieren wird berichtet: Eine auf das aktuelle
Körpergewicht bezogene Einstellung des VT zieht ungünstige Veränderungen von Beatmungsdruck und Lungen-Compliance sowie eine
Erhöhung pulmonaler Inflammationsparameter nach sich [11]. In der Literatur wird immer
wieder über erfolgreiche Schulungsmaßnahmen zur Einstellung des VT berichtet. Vielleicht können folgende Gedanken zu einem tieferen Verständnis beitragen:
Merke
Das VT aller bisher vermessenen wild lebenden Säugetiere beträgt 6,3 ml/kg Körpermasse.
Werden Menschen schwerer, „wächst“ die Lunge nicht mit.
Definition
Formeln für IBW
Ideales Körpergewicht (IBW; Angabe in kg) [9]:
-
Männer: 50,0 + 0,91 (cm Körpergröße −152,4)
-
Frauen: 45,5 + 0,91 (cm Körpergröße −152,4)
Begrenzung des Plateaudrucks
Bei einem Teil der Fettleibigen wird es nicht gelingen, den Plateaudruck auf ≤ 30 cmH2O zu begrenzen. Das erscheint zunächst beunruhigend – insbesondere, wenn man sich
die auf einer Metaanalyse von 5 Studien des ARDSNet beruhende hypothetische U-förmige
Kurve vor Augen führt: In dieser wurden die resultierenden Plateaudrücke bei Änderung
der VT gegen die Sterblichkeit aufgetragen [12]. Diese Bedenken kann ich jedoch weitgehend zerstreuen: Schon eine ältere tierexperimentelle
Arbeit belegt, dass nicht ein hoher Beatmungsdruck der entscheidende Schädigungsfaktor
für die maschinell beatmete Lunge ist, sondern ein großes VT
[13]. Der den Thorax umgebende „Fettpanzer“ schützt die Lunge vor Überdehnung.
Positiver endexspiratorischer Druck
Das optimale PEEP-Niveau und das bestmögliche Vorgehen für dessen Titration bei fettleibigen
kritisch Kranken sind unbekannt. Zu den bisher angewandten Vorgehensweisen zählen
Titration mithilfe von Druck-Volumen-Schleifen, anhand des transpulmonalen Drucks,
mittels der elektrischen Impedanz-Tomografie oder PEEP-Einstellung nach der Tabelle
des ARDS-Netzwerks. Kein Vorgehen ist anderen überlegen. So erscheint es angebracht,
individuelle Verfahren anzuwenden und deren Effizienz zu eruieren hinsichtlich
-
Verbesserung von Ventilations-Perfusions-Verhältnissen,
-
intrapulmonalem Rechts-links-Shunt,
-
Oxygenierung,
-
Kollaps kleiner Atemwege,
-
Reduktion der Atemarbeit und
-
ganz wichtig: Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System.
Im Alltag wird man sich häufig mit Surrogaten dieser Parameter zufriedengeben müssen.
Im Vordergrund steht die Vergrößerung der Gasaustauschfläche (während MV das EELV
[endexspiratorisches Lungenvolumen] als Surrogatparameter für die FRC).
Merke
Lungengesunde ausgeprägt Fettleibige benötigen für eine optimale FRC während MV PEEP-Niveaus
von teilweise mehr als 18 cmH2O [14].
Bei fettleibigen Patienten mit Lungenerkrankungen (z. B. ARDS) kann es erforderlich
sein, noch deutlich höhere PEEP-Niveaus anzuwenden. Hier kann keine allgemeingültige
Zahl genannt werden, es muss eine individuelle PEEP-Titration erfolgen.
Eine vielleicht zukunftsweisende Methode stellt die PEEP-Titration anhand des transpulmonalen
Drucks während endexspiratorischem Verschluss dar [15]. Ziel ist, dass der endexspiratorische transpulmonale Druck positiv wird. Zur Bestimmung
des transpulmonalen Drucks ist allerdings die Messung des Ösophagusdrucks (Surrogatparameter
für den Pleuradruck) über eine spezielle Magensonde notwendig – ein überschaubarer
technischer Aufwand. Auch bei diesem Verfahren müssen Oxygenierungs- und Atemmechanikparameter
zur Entscheidung über die endgültige Höhe des PEEP herangezogen werden. Das Vorgehen
nach letzterem Vorschlag erscheint insbesondere bei fettleibigen Patienten sinnvoll:
Denn bei diesen ist der Pleuradruck durch eine reduzierte FRC, erhöhten IAP und die
ausgeprägte Brustwanddicke deutlich erhöht.
Merke
Bei der PEEP-Titration sollen die Effekte auf pulmonalen Gasaustausch, Atemmechanik
und Hämodynamik berücksichtigt werden.
Recruitment
Unter Recruitment versteht man die Wiedergewinnung (Eröffnung) nicht belüfteter Alveolen
für den pulmonalen Gasaustausch. Derecruitment bezeichnet den funktionellen Verlust
von vormals belüfteten Alveolen durch Kompressionsatelektasen, Resorptionsatelektasen,
intraalveoläres Ödem oder Konsolidierung. Grundidee von Recruitment-Manövern (RM)
ist, dass verschlossene Lungenabschnitte nur durch einen hohen Druck zu eröffnen sind.
Wenn sie wiedereröffnet sind, benötigt man zum Offenhalten einen deutlich niedrigeren
Druck. Der Einsatz von PEEP allein vergrößert zwar die Gasaustauschfläche, jedoch
kann sein Effekt durch ein zusätzliches RM gesteigert werden. Als wichtigste Nebenwirkungen
von RM werden Pneumothorax, Pneumomediastinum, subkutanes Emphysem, Pneumatozele und
Herz-Kreislauf-Depression bis hin zum Herzstillstand beobachtet.
Die kürzlich erschienene ART-Studie (Alveolar Recruitment for Acute Respiratory Distress
Syndrome Trial) mahnt zu Vorsicht bei der Anwendung von RM [16] (s. „[Info – ART-Studie]“).
In dieser weltweit durchgeführten multizentrischen Studie wurden 1010 ARDS-Patienten
in 2 Gruppen randomisiert. Die eine Gruppe erhielt eine Kombination aus RM plus individuell
titriertem PEEP (Experimentalgruppe), die Kontrollgruppe lediglich eine MV mit niedrigem
PEEP. Die 28-Tage-Sterblichkeitsrate, der primäre Outcome-Parameter, betrug in der
Experimentalgruppe 55,3%, in der Kontrollgruppe 49,3% (p = 0,041). Die Ergebnisse
in der Experimentalgruppe waren auch hinsichtlich der sekundären Outcome-Parameter
signifikant schlechter: 6-Monats-Sterblichkeitsrate, Tage ohne MV, Auftreten von Pneumothorax
oder Barotrauma und Vasopressorbedarf in der 1. Stunde nach RM.
Jetzt befindet sich der Intensivmediziner, der kritisch kranke Fettleibige behandelt,
in einer Zwickmühle: Einerseits weiß er, dass bei diesen Patienten wegen pathologischer
Veränderungen des Atemapparates eine ausgeprägte Neigung zur Atelektasenbildung besteht,
die man mit PEEP allein nicht antagonisieren kann. Gleichzeitig mahnt die ART-Studie
zur Vorsicht. Einen Ausweg bietet folgender Gedankengang:
Nicht nur Blähen mit Ambu-Beutel, PEEP-Ventil und Manometer, Lachmann-Manöver, Seufzer
(„Sighs“), stufenweise Erhöhung des VT etc. dürfen als RM verstanden werden. Zu RM gehören auch
-
Umstellung von volumen- auf druckkontrollierte MV,
-
Zulassen von Spontanatmungsanteilen,
-
Veränderungen des PEEP-Niveaus,
-
Veränderung des I : E-Verhältnisses,
-
Lagerungsmaßnahmen (Bauchlagerung, Anti-Trendelenburg-Lagerung) und sogar
-
Abführmaßnahmen (Senkung des IAP).
Diese Verfahren benötigen aber oft längere Zeiträume. Gleichzeitig sollte das Augenmerk
auf die Verhinderung von Derecruitment gerichtet werden: z. B. Vermeiden von Diskonnektionen
der Beatmungsschläuche, Verzicht auf überflüssiges Absaugen oder flache Rückenlagerung
beim Waschen des Patienten.
Cave
Erscheint wegen der Dringlichkeit der Oxygenierungsstörung doch eines der klassischen
RM notwendig, müssen vorher ein Pneumothorax und eine Kreislaufinstabilität ausgeschlossen
werden. Ein angemessenes Monitoring muss etabliert sein.
Atemfrequenz und I : E-Verhältnis
Bei Fettleibigen sind O2-Verbrauch und CO2-Produktion erhöht. Menschen mit einem BMI zwischen 35 und < 40 kg/m2 atmen 8,21 m3/Tag mehr Luft als Normalgewichtige. Die Vermessung von 34 fettleibigen Männern, die
in sitzender Position ruhig spontan atmeten, ergab eine Atemfrequenz von 18 ± 2/min,
die von 18 normalgewichtigen Männern eine von 10 ± 2/min (p < 0,001) [17].
Bei Anwendung hoher Beatmungsfrequenzen müssen das Kapnogramm und die Flusskurve aufmerksam
beobachtet werden. Kommt es nämlich durch einen Kollaps kleiner Atemwege zur exspiratorischen
Flussbehinderung, kann sich ein signifikanter Auto-PEEP mit allen respiratorischen
und hämodynamischen Konsequenzen entwickeln – insbesondere bei Vorliegen einer Kombination
von Fettleibigkeit und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung.
Merke
Der Arzt kann einem Auto-PEEP gegensteuern, indem er die Beatmungsfrequenz senkt oder
die Exspirationszeit verlängert.
Weiterhin kann eine hohe Beatmungsfrequenz Überblähung und „Breath dyssynchrony stacking“
bewirken. Hierunter versteht man die unbeabsichtigte Verabreichung eines großen VT als Folge einer inkompletten Exspiration zwischen 2 aufeinanderfolgenden, durch die
Beatmungsmaschine abgegebenen Atemhüben.
Während Spontanatmung in Ruhe beträgt bei eukapnischen Fettleibigen das I : E-Verhältnis
1 : 2. Es erscheint somit sinnvoll, bei der Initialeinstellung des Respirators ein
I : E von 1 : 2 zu wählen. Anschließend sollte man prüfen, wie sich eine Verlängerung
der Inspirations- oder Verkürzung der Exspirationszeit auf pulmonalen Gasaustausch,
Atemmechanik und Hämodynamik auswirkt.
Lagerung
Bettruhe kann zur Entwicklung von Atelektasen, Pneumonie, Hypoxämie, Thromboembolien,
Synkopen und Druckgeschwüren beitragen. Umsichtig vorgenommene Lagerungsmaßnahmen
können nicht nur dabei helfen, diese zu vermeiden, sondern können eigene therapeutische
Wirkungen entfalten. Korrekte Lagerung dient der Vermeidung von beatmungsassoziierten
Lungenschäden, von Hypoxämie, Hyperkapnie und Atelektasenbildung sowie der Prophylaxe
und Therapie der Pneumonie. Sie vergrößert die FRC, entlastet das Abdomen von Druck
und erreicht über eine Entlastung des Herzens eine günstige Beeinflussung von Blutdruck
und Herzfrequenz.
Merke
Für Fettleibige geeignete Lagerungsformen sind umgekehrte Trendelenburg-Lagerung,
halb sitzende Position, „Beach Chair Position“, Herzbettlagerung, Seitenlagerung und
– bei ARDS mit ausgeprägter Oxygenierungsstörung – auch die Bauchlagerung.
Die durch diese Lagerungsformen induzierten Veränderungen sind in [Tab. 1] zusammengestellt. Von besonderem Interesse ist die Anwendung der Bauchlagerung bei
fettleibigen Patienten mit ARDS. Hier konnte eine signifikante Reduktion der 90-Tage-Sterblichkeitsrate
im Vergleich zu Normalgewichtigen dokumentiert werden (27 vs. 48%, p < 0,05). Die
Komplikationsrate war in beiden Gruppen nicht unterschiedlich [18].
Tab. 1 Erwartete Effekte verschiedener Lagerungsformen auf atemphysiologische und kardiozirkulatorische
Parameter. Vergleich: flache Rückenlage vs. andere Lagerungsart.
Lagerungsart
|
beeinflusste Parameter
|
↑: vergrößert/erhöht, ↓: erniedrigt/reduziert, →: weg von der Lunge, AF: Atemfrequenz,
CO2: Kohlendioxid, CRS: Compliance des respiratorischen Systems, EELV: endexspiratorisches Lungenvolumen,
EFL: exspiratorische Flussbehinderung, ERS: Elastance des respiratorischen Systems, IAP: intraabdomineller Druck, PEEP: positiver
endexspiratorischer Atemwegsdruck, VAP: ventilatorassoziierte Pneumonie, VT: Atemzugvolumen
|
umgekehrte Trendelenburg-Lagerung
|
VT ↑, AF ↓
|
halb sitzende Position
|
Verzögerung des gastroösophagealen Refluxes, weniger pulmonale Aspiration pharyngealer
Sekrete, Reduktion von VAP, Verbesserung der Oxygenierung, Verbesserung der Atemmechanik,
EFL ↓, Auto-PEEP ↓, Atemarbeit ↓
|
„Beach Chair Position“
|
IAP →, EELV ↑, ERS ↓, Oxygenierung ↑
|
Herzbettlagerung
|
IAP →, AF ↓, venöser Rückstrom zum Herzen ↓, Thoraxexkursionen ↑, Oxygenierung ↑,
CO2-Elimination ↑
|
Seitenlagerung
|
Ventilation der oben liegenden Lunge ↑, IAP →
|
Bauchlagerung
|
homogenere Verteilung des Atemgases entlang der dorsoventralen Achse der Lunge, Ventilations-Perfusions-Fehlverteilung
↓, IAP →, exspiratorische Zeitkonstante ↓, CRS ↑, EELV ↑
|
Ungeeignete Lagerungen
Flache Rückenlage
Liegt ein Normalgewichtiger flach auf dem Rücken, kommt es zu folgenden Veränderungen:
gesteigerter venöser Rückfluss zum Herzen, Anstieg von Herzzeitvolumen, pulmonalem
Blutfluss und arteriellem Blutdruck. Die FRC wird kleiner, das Zwerchfell wird durch
den hohen IAP in seiner Beweglichkeit eingeschränkt. Bei fettleibigen Patienten können
diese Veränderungen in stärkerer Ausprägung auftreten und wegen der oft fehlenden
Kompensationsmöglichkeiten in akuter Herzinsuffizienz, Atemstillstand sowie lebensbedrohlichen
pulmonalen Gasaustauschstörungen resultieren.
Im schlimmsten Fall können massiv Fettleibige an einem „obesity supine death syndrome“
versterben. Hierunter versteht man eine katastrophale Abfolge von kardiorespiratorischen
Komplikationen bei Fettleibigen, die in flache Rückenlage verbracht werden oder diese
selbst akzidentell einnehmen. Als Risikofaktoren wurden Transporte, ETI, Anlage zentralvenöser
Katheter, röntgenologische Untersuchungen und Waschen im Bett identifiziert [19].
Trendelenburg-Lagerung
Die Trendelenburg-Lagerung induziert bei Fettleibigen eine Vielzahl unerwünschter
Veränderungen:
-
Erhöhung des Schlagvolumens des Herzens
-
Erhöhung des zentralen Venen- und pulmonalarteriellen Drucks
-
Erhöhung des systemvaskulären Widerstands
-
Erhöhung des rechts- und linksventrikulären endsystolischen Volumenindex
-
Zunahme des Herzzeitvolumens
-
Zunahme des intrathorakalen Blutvolumens
-
herabgesetzter zerebraler Blutfluss
-
herabgesetzte systemische Oxygenierung
-
reduzierte CO2-Auswaschung
-
Abfall der FRC
-
Ausbildung von Atelektasen
Trendelenburg-Lagerung muss bei Fettleibigen vermieden werden!
Cave
Flache Rückenlage und Trendelenburg-Lagerung sind gefährliche Lagerungsarten für fettleibige
Patienten.
Fallbeispiel
Um 5:30 Uhr werden Sie von der ITS angerufen und gebeten, so schnell wie möglich zu
kommen. Ein Patient lasse sich nicht mehr beatmen, der Respirator alarmiere pausenlos.
Der arterielle Blutdruck betrage nur noch 80/40 mmHg, die pulsoxymetrische Sättigung
sei auf 80% abgefallen. Sie unterbrechen das Gespräch und eilen sofort auf die ITS.
Die Blickdiagnose verschafft sofortige Klarheit: Ein fettleibiger, maschinell beatmeter
Patient liegt flach auf dem Rücken. Sein schweres Abdomen schaukelt, er bewegt unruhig
Arme und Beine, die Lippen und die Haut zeigen eine Zyanose. Die Herzfrequenz beträgt
140 Schläge/min, der arterielle Blutdruck 78/38 mmHg, im EKG sind vereinzelte ventrikuläre
Extrasystolen erkennbar. Im Bett sehen Sie eine umgestürzte Waschschüssel und mehrere
Waschlappen, in der Luft liegt ein Duft, der an Lavendel erinnert.
Mithilfe der Pflegekräfte bringen Sie den Patienten sofort in eine Anti-Trendelenburg-Lage
und steigern das PEEP-Niveau von 10 auf 16 cmH2O. Dann erhöhen Sie noch die inspiratorische Sauerstoffkonzentration und vertiefen
die Analgosedierung. Sofort verbessert sich die Sättigung, das VT vergrößert sich, die Schaukelatmung verliert sich. Der arterielle Blutdruck stabilisiert
sich auf 125/83 mmHg, die Herzfrequenz sinkt auf 103 Schläge/min, die ventrikulären
Extrasystolen verschwinden ebenso wie die Zyanose.
Adipositas-Paradoxon
Das Lexikon der Antike erklärt: „Paradoxa bezeichnet Gegenstände oder Sachverhalte,
die wider Erwarten wirken oder erscheinen: also Erstaunliches, Wunderbares, modern
paraphrasiert: Sensationelles“.
Als Adipositas-Paradoxon bezeichnet man das epidemiologische Phänomen, dass übergewichtige
oder adipöse Patienten bei einigen Krankheiten bessere Überlebenschancen haben als
normalgewichtige. In diesem Kontext soll hier aber lediglich das Adipositas-Paradoxon
bei maschinell beatmeten, kritisch Kranken dargestellt werden. Nach Analyse von 23
Publikationen, die insgesamt 199 421 Patienten einschlossen, kommen Zhao et al. zu
folgenden Aussagen [20]: Fettleibige Patienten haben im Vergleich zu nicht fettleibigen Patienten niedrigere
ITS-, Krankenhaus-, Kurzzeit- (< 6 Monate) und Langzeitsterblichkeitsraten (≥ 6 Monate).
Die Dauer der MV und des ITS-Aufenthaltes ist länger, der Krankenhausaufenthalt dauert
gleich lang. Folgende Erklärungen erscheinen den Autoren möglich:
-
Fettgewebe ist als primitives Immunorgan anzusehen. Es sezerniert viele biologisch
aktive Substanzen, welche die Entzündungsantwort günstig modulieren können.
-
Fettleibige verfügen über größere Energiespeicher und können so vorteilhafter den
durch eine schwere Erkrankung ausgelösten Kataboliestress bewältigen.
-
Fettleibige werden vom Personal deutlicher wahrgenommen als Normalgewichtige. So mag
es sein, dass kritisch kranke Fettleibige frühzeitiger auf eine ITS aufgenommen werden.
Erst die Zukunft wird zeigen, ob es gelingt, für die in der Metaanalyse gefundenen
Assoziationen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nachzuweisen. Bis dahin wird die Existenz
eines Paradoxons kritisch kranker, beatmeter adipöser Patienten Gegenstand wissenschaftlicher
Debatten bleiben.
Kernaussagen
-
Aktuell sind mehr als 650 Millionen erwachsene Menschen auf der Erde fettleibig.
-
ETI bei fettleibigen Patienten sind schwieriger als bei normalgewichtigen. Zudem sind
die Rahmenbedingungen auf ITS ungünstiger als im Operationssaal.
-
Der Atemapparat des Fettleibigen ist durch herabgesetzte Compliance des Thorax und
der Lungen und erhöhten IAP gekennzeichnet. Sämtliche Lungenvolumina sind reduziert,
es besteht eine Neigung zur EFL und zu ausgeprägter Atelektasenbildung.
-
Die Lungen von Fettleibigen wachsen nicht mit, daher muss das VT auf der Grundlage des IBW berechnet werden.
-
Das PEEP-Niveau sollte individuell unter Berücksichtigung von pulmonalem Gasaustausch,
Atemmechanik und Hämodynamik titriert werden.
-
RM, die mit plötzlichen Druckerhöhungen einhergehen, sollten mit großer Vorsicht durchgeführt
werden. Vorher sollten ein Pneumothorax und hämodynamische Instabilität ausgeschlossen
werden.
-
Flache Rückenlage und Trendelenburg-Lagerung sind für den Fettleibigen sehr gefährlich;
auf diese Lagerungsformen sollte verzichtet werden.
-
Aktuelle Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die Intensivtherapie kritisch
kranker Fettleibiger mit niedrigeren Sterblichkeitsraten assoziiert ist als die von
Normalgewichtigen: ein Adipositas-Paradoxon.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Klaus Lewandowski, Berlin.
Zitierweise für diesen Artikel
Intensivmedizin up2date 2020; 16: 387–396. doi:10.1055/a-1289-6630
Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version des Artikels: Lewandowski K. Intensivtherapie
bei Adipositas: Too Big to Fail? Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2019;
54: 256–266.