Der Leserbrief aus den USA freut uns, zeigt er doch, dass unsere Artikelserie über
das Lipödem nicht nur deutschland- und europaweit gelesen wird. Gut 2½ Jahre nach
Veröffentlichung von Teil 1 befinden sich alle 5 Publikationen unter den Top 10 der
„meistgelesenen Artikel“ in der Phlebologie (Stand August 2020) [1]. Auch in Europa haben die „Mythen und Fakten zum Lipödem“ eine hohe Resonanz erfahren
und tragen weiter zum dringend notwendigen Paradigmenwechsel dieser Erkrankung bei.
Renommierte Lipödem-Experten aus 10 europäischen Ländern unterstützen inzwischen den
im fünften Teil der Artikelserie erarbeiteten Konsensus zum Lipödem [2]. In „Pathways“, dem offiziellen Magazin des Canadian Lymphedema Framework, werden
sowohl die Mythen des Lipödems als auch der Paradigmenwechsel das Titelthema in der
Herbst-Ausgabe sein.
Dass in den USA weiter am alten Narrativ dieser Erkrankung festgehalten wird, ist
uns bewusst. Dort dominieren 3 in den Medien stark vertretene und finanzkräftige Patientenorganisationen
sowie wenige eng mit diesen Organisationen verbundene Ärzte das Meinungsbild zum Lipödem:
Lipedema Simplified von Catherine Seo [3], Fat Disorder Research Society (FDRS) [4] und Lipedema Foundation [5], wobei die beiden letztgenannten eng miteinander verwoben sind. Felicitie Daftuar
ist sowohl im Leadership Team von FDRS [6] als auch Gründerin und Executive Director von Lipedema Foundation [7]. Dies ist wichtig zu wissen, da die Verfasserin des Leserbriefs – Karen Herbst –
sehr eng sowohl mit FDRS [8] als auch mit Lipedema Foundation [9] verbunden ist. Seit 2015 unterstützt Felicitie Daftuar mit Millionenbeträgen Projekte
von Karen Herbst [10]
[11].
Bevor wir auf die Mitunterzeichner des Leserbriefs eingehen, werden wir die strittigen
Punkte A bis F inhaltlich klären.
Die Leserbriefautorin beginnt ihr Schreiben mit der Feststellung: „Lipedema is a disease of loose connective tissue (LCT) – not just fat. Constituents
of LCT include cells and an extracellular matrix of collagen fibers around glycosaminoglycans
(GAGs) bound to sodium and water.”
Für das Statement, Lipödem sei eine Erkrankung des lockeren Bindegewebes, existiert
kein wissenschaftlicher Nachweis; eine entsprechende wissenschaftliche Referenz für
diese Behauptung wird auch erst gar nicht von der Leserbriefautorin genannt. Richtig
hingegen ist die Aussage, dass lockeres Bindegewebe eine Extrazellulärmatrix hat,
die aus Fasern und Grundsubsubstanz (hier auch Glykosaminoglykane) besteht. Richtig
ist auch, dass Glykosaminoglykane eine hohe Wasserbindungskapazität haben. Was diese
Glykosaminoglykane (GAGs) nun mit dem Lipödem-Syndrom zu tun haben sollen, wird von
der Leserbriefverfasserin dann unter A erklärt.
Zu A. Edema
So schreibt sie: „Edema is defined as excess interstitial fluid (IF) (2) that is free or bound in a
GAG gel as in lipedema.”
Während der erste Halbsatz dieses Statements sicher richtig ist und medizinisches
Allgemeinwissen darstellt, fehlt für den zweiten Halbsatz („or bound in GAG gel as in lipedema“) jeglicher seriöse Nachweis. Als Quelle für diese Behauptung dient der Verfasserin
ihre eigene unter A.2 genannte Arbeit, auf die weiter unten noch eingegangen wird.
Zu 1.
Der beschriebene „overgrowth of blood vessels in lipedema tissue“ befand sich nur in der adipösen Lipödem-Studienpopulation der genannten Untersuchung
von Al-Ghadban, nicht in der Gruppe der Nicht-Adipösen [12]. Somit sind die beschriebenen Veränderungen viel eher der Adipositas und nicht dem
Lipödem-Syndrom zuzuschreiben. In der kürzlich veröffentlichten Arbeit von Felmerer,
Hägerling und Gousopoulos bei reinen Lipödem-Patientinnen konnten lediglich vergrößerte
Adipozyten („increased adipocyte size“) festgestellt werden. Obwohl in dieser histopathologischen
Untersuchung das von Hägerling entwickelte VIPAR-Verfahren der 3D-Rekonstruktion verwendet
wurde, gab es keinen Hinweis auf veränderte Lymph- oder Blutgefäße bei Lipödem-Patientinnen
[13].
Über die Ergebnisse der von der Leserbriefschreiberin erwähnten Arbeit hat der Mitautor
Gousopoulos einen Vortrag auf der Lymphologie 2019 (German Congress of Lymphology)
in Bad Krozingen gehalten. Sein auch im Kongress-Abstract nachlesbares Fazit lautet:
„No morphological changes in the lymphatic component are present in lipoedema” [14].
Es gibt ebenfalls keinen wissenschaftlichen Nachweis für „leaky capillaries“ beim
Lipödem-Syndrom. Die von der Leserbriefautorin angegebene Quelle von 1986 hatte nicht
das Lipödem-Syndrom zum Gegenstand.
Zu 2.–6.
In den Punkten 2–6 wird nun regelmäßig auf das Konzept der bestehenden GAGs beim Lipödem
abgehoben. Die einzige genannte Quelle, die dieses Konzept der GAGs beim Lipödem beschreiben
soll, ist eine Arbeit der Leserbriefverfasserin selbst. Tiefer am Wissenschaftsverständnis
von Herbst Interessierte sei diese Abhandlung („Lipedema Is Not Just Fat“) ans Herz
gelegt [15]. Die von ihr dort dargelegten Behauptungen waren für uns in keiner Weise nachvollziehbar.
Auch geben die von Herbst genannten Quellen keinen Hinweis darauf, was GAGs mit Lipödem
zu tun haben. Zwar wird in dem von Herbst genannten Review von Reed und Rubin ausführlich
auf die Glykosaminoglykane eingegangen – allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang.
In den von der Leserbriefautorin erwähnten Arbeiten, die das Lipödem zum Thema haben,
kommen GAGs nicht vor, die hergestellten Bezüge zum Lipödem erscheinen uns – mit Verlaub
– an den Haaren herbeigezogen. Völlig offen bleibt auch die Frage, was die postulierten
GAGs mit der von Patientinnen angegebenen oft starken Schmerzsymptomatik zu tun haben.
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass dieses Konzept nicht in einem wissenschaftlichen
(peer reviewed) Journal veröffentlicht wurde, sondern auf ihrer eigenen Website Lipedema.com
[16], die Herbst gemeinsam mit Mitunterzeichnern und Lipödem-Aktivistinnen dieses Leserbriefs
(Kahn, Iker und Ehrlich) betreibt [17]. Herbst und die gleichen Mitunterzeichner sind auch Herausgeber eines Buches (Lymphedema
and Lipedema Nutrition Guide: Foods, Vitamins, Minerals and Supplements), bei dem
die Vorsitzende von Lipedema Foundation, Felicitie Daftuar, das Vorwort verfasst hat
[18].
Ja, wir wissen, das liest sich vielleicht ein wenig kompliziert, ist aber wichtig,
um zu verstehen, wie „Wissenschaft“ in den USA funktioniert, wenn finanzstarke Patientenorganisationen
– mit ganz eigenen Interessen – enge Kooperationen mit Behandlern eingehen.
Zu den Fakten
Ödeme sind definiert als „abnorme Flüssigkeitsansammlung“ im Gewebe [19]. Allerdings konnten weder klinische Untersuchungen noch Bildgebung jemals ein relevantes
Ödem bei Patientinnen mit Lipödem-Syndrom nachweisen [20]. Eine multizentrische Studie mit hochauflösendem Ultraschall bei Patientinnen mit
der Diagnose Lipödem fand keinen Nachweis für Flüssigkeit im Weichteilgewebe der Beine
[21]. In einer 2020 erschienenen Studie, in der Patientinnen mit Lipödem-Syndrom mittels
MR-Lymphografie untersucht wurden, konkludieren die Autoren: „The fat tissue was homogenous,
without any signs of edema in pure lipedema patients“ [22]. Auch in histologischen Untersuchungen wurde niemals die Präsenz eines Ödems beschrieben
[20]. Reich-Schupke, Altmeyer und Stücker schrieben bereits 2012 in einem wegweisenden
Artikel: „Der Begriff „Lipödem“ ist eigentlich irreführend, da es sich nicht um ein
Ödem, also um eine Flüssigkeitseinlagerung im Gewebe handelt“ [23]. Dies wurde auch von den Autoren der niederländischen Lipödem-Leitlinie bestätigt,
indem sie den Terminus Lipödem als unglücklich („unfortunate term“) beschreiben, da
er Flüssigkeit im Gewebe suggeriert, wo keine Flüssigkeit zu finden ist [24]. Schließlich resümierte das European Lipoedema Forum – eine hochrangig besetzte
internationale Expertengruppe aus 7 europäischen Ländern – in einem vielbeachteten
Konsensuspapier: „There is
no
scientific evidence that Lipoedema is an ‚oedema problem‘“ (Hervorhebung im Original)
[25].
Zu B. Manual Lymphtherapy and compression
Zu B. Manual Lymphtherapy and compression
Neben ihrer eigenen Pilotstudie an 7 (!) Patientinnen, die mit einer „whole body manual subcutaneous adipose tissue (SAT) therapy” behandelt wurden, sind die einzigen auf das Lipödem fokussierenden Therapiestudien,
die in diesem Abschnitt von der Leserbriefautorin genannt werden, die beiden Untersuchungen
von Szolnoky et al. Hier untersuchten die Wissenschaftler den Effekt der komplexen
physikalischen Entstauungstherapie (KPE) auf das Lipödem. KPE besteht aus manueller
Lymphdrainage (MLD), Kompression, Sport- und Bewegungstherapie und Hautpflege (neuerdings
auch noch additiv Selbstmanagement) [26]. Die Patientinnen dieser Studie berichteten über eine Besserung der Beschwerden
unter KPE.
Die Verfasserin des Leserbriefs verwechselt nun leider MLD mit KPE. Aus der Studie
von Szolnoky et al. geht nicht hervor, welche der o. g. Komponenten der KPE tatsächlich
wirksam gewesen sind. Kompression und Sport sind durch ihre antiinflammatorischen
Effekte tatsächlich wirksam beim Lipödem. Dies wurde in Teil 5 der Artikelserie auch
so beschrieben und entspricht dem European Consensus [25]. Für die MLD, wie von der amerikanischen Verfasserin behauptet, fehlt dieser Nachweis.
Darüber hinaus, und diese Frage sei erlaubt: Wenn, wie oben dargelegt, kein Nachweis
einer relevanten Flüssigkeit beim Lipödem vorliegt, welchen Sinn macht dann die immer
wieder geforderte „Drainage“? Welche Substanz im Weichteilgewebe der Beine soll mit
der MLD „drainiert“ werden? Fettgewebe?
Zu C. Lipohypertrophy
Die schmerz- bzw. beschwerdefreie Volumenvermehrung der Beine wird nach Herpertz [27] in den deutschsprachigen Ländern Lipohypertrophie genannt. Dies ist weitgehender
Konsens und macht auch Sinn. Würde die – von der Frau subjektiv wahrgenommene – Disproportionalität
der Beine bereits das Kriterium für die Diagnose Lipödem erfüllen, wäre (angesichts
des gegenwärtigen Schönheitsideals, das dünne Beine präferiert und auf vielen Online-Medien
propagiert wird) dem Missbrauch von Therapie jeglicher Art Tür und Tor geöffnet.
Die Verfasserin schreibt weiter: „A woman with painful lipedema who underwent therapy and has no pain, still has lipedema”. Dieser Aussage stimmen wir zu. Genauso hat eine Patientin mit arterieller Hypertonie,
die durch die Einnahme antihypertensiv wirksamer Medikamente jetzt normale Blutdruckwerte
hat, noch immer eine arterielle Hypertonie. Allerdings – vor der Einnahme dieser Medikamente
wurden vom Behandler erhöhte Blutdruckwerte gemessen. Entsprechendes gilt auch für
die Beschwerden beim Lipödem-Syndrom.
Zu D. Obesity, secondary lymphedema and bariatric surgery
Zu D. Obesity, secondary lymphedema and bariatric surgery
Selbstverständlich sind Lipödem-Syndrom, Lymphödem und Adipositas ganz unterschiedliche
Krankheiten. Um diese zu differenzieren, braucht es für den auf diesem Gebiet erfahrenen
Kliniker sicher keinen Biomarker. Allerdings – und hier ist die internationale Datenlage
sehr konsistent – sind weit über 80 % der Patientinnen mit der Diagnose Lipödem auch
adipös, ca. 50 % sogar morbid adipös, d. h. sie haben einen BMI ≥ 40 [28]
[29]
[30]
[31]
[32]
[33]. Mit anderen Worten: Lipödem und Adipositas treten bei der weit überwiegenden Mehrheit
der Frauen gemeinsam auf. Morbide Adipositas kann bei manchen Menschen zu einer Lymphabflussstörung,
respektive zu einem Lymphödem führen. Die Pathophysiologie hierzu ist gut belegt und
wird – üblicherweise – auch nicht bestritten [34]
[35]. Patienten mit Adipositas-assoziierten Lymphödemen sind die am schnellsten ansteigende
Patientengruppe im Europäischen Zentrum für Lymphologie in Hinterzarten.
Die Verfasserin des Leserbriefs schreibt: „Many severe obese women with lipedema do
not develop lymphedema.” Dieser Aussage stimmen wir zu. Allerdings – auch nicht jeder
„Kettenraucher“ erkrankt an einem Bronchialkarzinom. Und sicher stimmt auch die Leserbriefautorin
mit uns überein, dass „Kettenrauchen“ ein deutlich erhöhtes Risiko in sich birgt,
an einem Bronchialkarzinom zu erkranken.
Wir freuen uns, dass die Leserbriefverfasserin den Biomarker PF4 erwähnt, der aktuell
von Stanley Rockson propagiert und in Lipödem-Patientenforen zunehmend verbreitet
wird. Rockson et al. zufolge dient PF4 als Hinweis dafür, dass beim Lipödem eine lymphatische
Dysfunktion vorliegt: „Finally, our results support the prevailing hypothesis, that
in lipedema, lymphatic dysfunction plays a role“ [36]. In einem aktuellen Webinar von Lipedema Simplified, der anderen oben bereits erwähnten
amerikanischen Lipödem-Patientenorganisation, stellt Rockson eine – vermeintliche
– Lipödem-Patientin vor: „This patient has lipedema“, bei der offensichtlich PF4 erhöht
war [37]. Die hier als Lipödem gezeigte Patientin leidet ganz offensichtlich an einem (wohl
Adipositas-assoziierten) Lymphödem mit bereits bestehender Stauungsdermatose! Wir
glauben gerne, dass bei diesen Patientinnen auch PF4 erhöht ist. Die richtige Diagnose
der Patientinnen ist allerdings essenziell, um valide und seriöse Ergebnisse produzieren
zu können. Dies gilt auch für bildgebende Untersuchungen. Bereits ältere klinische
Studien mittels indirekter Lymphografie und Lymphszintigrafie haben gezeigt, dass
der Lymphtransport vom subepidermalen Kompartiment beim Lipödem eben nicht eingeschränkt
ist [38]
[39]
[40]. Auch neue Untersuchungen mit modernsten histopathologischen Untersuchungsmethoden
brachten keinen Hinweis auf veränderte Lymphgefäße bei Lipödem-Patientinnen [13].
Die Datenlage zum Langzeiterfolg der bariatrischen Chirurgie bei morbider Adipositas
ist sehr konsistent und überzeugend [41]
[42]
[43]
[44]
[45]
[46]
[47]
[48]
[49]. Eine aktuelle Untersuchung des Universitätsklinikums Freiburg gemeinsam mit dem
Europäischen Zentrum für Lymphologie in Hinterzarten zum Effekt der bariatrischen
Operation bei schwer adipösen Patientinnen mit Lipödem-Syndrom zeigt den guten Erfolg
dieser Therapieoption und bestätigt unsere seit 2008 bestehenden Erfahrungen mit diesem
Patientengut [50].
Zu E. Psychology
Auch hier widersprechen wir der Verfasserin des Leserbriefs. In einer Untersuchung
an 150 Patientinnen mit der gesicherten Diagnose Lipödem-Syndrom präsentierten 80 %
der Frauen psychische Störungsbilder (meist Depression, Essstörung oder posttraumatische
Belastungsstörung) oder eine schwere psychische Beeinträchtigung, wie z. B. Burnout
oder chronische Stressbelastung. Diese Störungsbilder bzw. schwere psychische Beeinträchtigung
bestanden jedoch bereits vor der Entwicklung Lipödem-assoziierter Schmerzen im Weichteilgewebe
[29]. Damit kann – formallogisch – die Erkrankung Lipödem-Syndrom nicht Ursache dieser
psychischen Belastung sein. Der Einfluss psychischer Belastungen und Krankheiten sowohl
auf die Schmerzentstehung als auch auf die Schmerzwahrnehmung ist breit untersucht
und sehr konsistent [51]
[52]
[53]
[54]
[55]
[56]
[57]. Depression und Essstörungen waren im Vergleich zur 12-Monats-Prävalenz dieser psychischen
Störungsbilder in der Allgemeinbevölkerung [58] vor allem im 12-Monats-Zeitraum vor der Entstehung der Lipödem-assoziierten Schmerzsymptomatik
stark erhöht. Daher ist das von der Leserbriefautorin kritisierte Statement „psychological
factors can contribute significantly to the development of lipedema” gut belegt.
Zu F. Liposuktion
Wir wissen, dass viele Patientinnen nicht einverstanden sind, die Durchführung einer
Liposuktion vom Körpergewicht (und damit auch vom Body-Mass-Index) abhängig zu machen.
Der von der Leserbriefverfasserin kritisierte European Consensus sieht den BMI von
35 kg/m2 bei gleichzeitiger zentraler Adipositas als Obergrenze für die Fettabsaugung. Ab einem
BMI von 35 kg/m2 steht (von seltenen Ausnahmen einmal abgesehen) die Adipositas der Patientin mit Lipödem
im Vordergrund – und sollte auch entsprechend fokussiert werden. Der European Consensus
empfiehlt dann die Überprüfung der Indikation für eine bariatrische OP. Dies entspricht
auch den Empfehlungen der S3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Adipositas-Chirurgie.
Der positive Einfluss der bariatrischen OP auf das Lipödem-Syndrom wurde inzwischen
untersucht und bestätigt [50]. Die Durchführung der Liposuktion bei Patientinnen mit klarer zentraler Adipositas
halten wir für einen Kunstfehler. Die Kriterien zur Liposuktion wurden im European
Consensus klar definiert [2].
Auch in Deutschland führte die – weitgehend ähnliche – Einschätzung des Gemeinsamen
Bundesausschusses (G-BA) zu einem Aufschrei der Entrüstung seitens der Patientenvertreter.
Die Selbsthilfeverbände bezeichneten die Entscheidung des G-BA als „Farce“ [59]. In einer lesenswerten (weil demaskierenden) Presseerklärung der organisierten Selbsthilfe
von Frauen mit Lipödem vom 20.09.2019 wird die Liposuktion als „rettende Behandlung“
hochstilisiert, um „ein Leben im Rollstuhl“ oder auch „eine stark verfrühte Sterblichkeit“
zu verhindern [60]. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein! Weder führt das reine Lipödem
(ohne begleitende schwerste Adipositas) zu einem „Leben im Rollstuhl“ noch zu einer
„stark verfrühten Sterblichkeit“. Auch sind uns keine Daten bekannt, wonach die Liposuktion
hinsichtlich der oben dargestellten Prognosen als „rettende Behandlung“ Wirkung gezeigt
hätte.
Bemerkenswert ist aber auch die Begründung der Leserbriefverfasserin für ihren Widerspruch:
„We disagree that “Liposuction is not a treatment option in patients with a BMI > 35 kg/m2 and central obesity (WHtR > 0.5)”[1]. Women can develop lipedema LCT on the abdomen [14].“ Als Quelle für dieses Lipödem des Abdomens nennt die Verfasserin wiederum eine ihrer
eigenen Publikation.
Das Lipödem des Abdomens wurde bereits 2018 in einem kritischen Leserbrief von Schmeller
auf die Artikelserie ins Spiel gebracht. So schrieb Schmeller: „Die Zuordnung von an Rumpf und Extremitäten lokalisierten Unterhautfettvermehrungen
als Folge der Adipositas bzw. als Folge des Lipödems… kann sehr schwierig, teilweise
wohl auch unmöglich sein.“ Und weiter unten:
„Ob die Adipozyten des Lipödems zusätzlich zur Subkutis der Extremitäten auch viszeral
im Bauchbereich eine Volumen- und Gewichtsvermehrung verursachen, kann derzeit nicht
sicher beurteilt werden“
[61].
Wir zitieren hier im Folgenden unsere damalige Replik auf Schmellers Gedankenwelt
[62].
„Wir möchten ausdrücklich betonen, dass Unterhautfettgewebsvermehrungen am Rumpf bzw. Adipozyten im Bauchraum KEINESFALLS in einen Zusammenhang mit Lipödem gebracht werden sollten! Gedankenspiele
wie diese entbehren jeglicher wissenschaftlichen Evidenz. In diesen Regionen besteht
ja auch keine Schmerzsymptomatik bei den Patientinnen. Allerdings sehen wir bereits
jetzt – täglich – Patientinnen, die uns mit der Diagnose Lipödem (oder „Lipolymphödem“)
vorgestellt werden und die fest davon überzeugt sind, dass ihr Lipödem die Ursache
ihrer Gewichtszunahme, ihrer Adipositas sei. Immer häufiger sehen wir adipöse Patientinnen,
die behaupten, an einem „Ganzkörperlipödem“ oder an einem „Lipödem des Bauches“ zu
leiden – welches ihnen auch nicht selten von ärztlichen Kollegen attestiert wird –
und die hierin die Ursache ihrer Gewichtszunahme sehen. Hier möchten wir dem Autor
des Leserbriefs am liebsten ganz laut zurufen: „HALT, HERR SCHMELLER, NEIN! BITTE
ÖFFNEN SIE DIESE BÜCHSE DER PANDORA NICHT!“ (Zitatende).
Es scheint, als sei die Büchse inzwischen geöffnet.
Letztlich spiegelt dieser Leserbrief auch die kontroversen Debatten der zurückliegenden
Jahre wider, die der Erstautor der Artikelserie mit Karen Herbst, aber auch mit Felicitie
Daftuar auf Bühnen und Konferenzen in der Vergangenheit führte. Wir sind besorgt,
dass die sehr verengte US-amerikanische Sicht auf das Lipödem, eine Sicht, die das
Problem der Adipositas ebenso wie die – vorbestehenden – psychischen Belastungen der
Frauen ignoriert, der Komplexität dieser Erkrankung nicht gerecht wird.
Noch ein abschließendes Wort zu den Mitunterzeichnern dieses Leserbriefs. Nahezu alle
der dort aufgeführten Personen sind mit „The US Standard of Care Committee“ verbunden.
Gibt man diese vermeintliche Organisation bei Google ein, findet man keinen Eintrag.
Fündig wird man allerdings auf der oben bereits erwähnten Herbst-eigenen Website „lipedema.com“,
auf der die Verfasserin des Leserbriefs, Karen Herbst, auch ihren Beitrag zu den GAGs
veröffentlichten durfte. Dort wird auf ein Treffen aufmerksam gemacht, das im April
2019 in Baltimore stattfand und an dem 18 der 22 Mitunterzeichner teilgenommen hatten.
Zu dieser Konferenz geladen hatten die Leserbriefautorin sowie die beiden bereits
oben genannten Patientenorganisationen FDRS und Lipedema Foundation [63]. Ziel der Zusammenkunft in Baltimore war u. a. auch das Erstellen von US-Guidelines
zum Lipödem. Man stelle sich diese Situation einmal in Deutschland (oder anderen europäischen
Ländern) vor: Lipödem-Selbsthilfegruppen organisieren eine Konferenz, laden hierzu
„selbstgewählte Behandler“ ein und erstellen eine dann sogenannte Leitlinie.
Interessenunabhängige Forschung und Therapie, die gerade beim Lipödem essenziell wäre,
sieht sicher anders aus.
Aber auch andere, nicht diesem Kreis zugehörige Mitunterzeichner, weisen engste Verbindungen
zur Lipedema Foundation auf [64]
[65].
Money makes the world go round – das gilt auch für die von Patientinnen finanzierte
und damit gesteuerte Lipödem-Forschung in den USA.
Leserbriefe stellen nicht unbedingt die Meinung von Herausgebern oder Verlag dar.
Herausgeber und Verlag behalten sich vor, Leserbriefe nicht, gekürzt oder in Auszügen
zu veröffentlichen.