Die Lipödem-Pilotstudie
Ziele der Pilotstudie
Die zentralen Fragen sind:
-
Ist die Erkrankung Lipödem tatsächlich Ursache von schweren psychischen Belastungen
(inklusive psychischer Störungsbilder)?
-
Besteht ein Zusammenhang zwischen vorhandenen psychischen Störungsbildern der Patientin
mit der Diagnose Lipödem-Syndrom und der wahrgenommenen Schmerzintensität?
Methoden
Das Studienprotokoll erfüllt die aktuelle Fassung der Deklaration von Helsinki. Dokumentiert
wurde der Informed Consent zur Teilnahme an der Studie und anonymen Auswertung der
Daten. Keiner Teilnehmerin – aber auch keiner anderen Patientin – entging durch die
Studie ein Therapieangebot. Im Gegenteil: Die bei Bedarf nach Abschluss der Studieninterviews
angebotenen psychotherapeutischen Beratungs- oder Therapiegespräche konnten durch
die ausführlichere Diagnostik noch passgenauer durchgeführt werden.
Studiendesign
Die vorliegende Studie ist eine Fortführung und Erweiterung des zu Beginn der Artikelserie
Lipödem – Mythen und Fakten Teil 1 [40] beschriebenen ersten Studienabschnitts. Insgesamt wurden 150 Patientinnen mit der
Diagnose Lipödem-Syndrom und einer stationären Behandlung im Europäischen Zentrum
für Lymphologie nach gesicherter Diagnose eines Lipödem-Syndroms durch 2 verschiedene
und in diesem Krankheitsbild langjährig erfahrene Ärzte der Klinik in die Studie eingeschlossen.
Dies erfolgte unabhängig vom psychologischen Behandlungsbedarf im Zeitraum von April
2017 bis September 2019. Die Kriterien für die Diagnose Lipödem-Syndrom wurden wie
folgt definiert: disproportionale Fettgewebsvermehrung der Beine und Schmerzen in
den betreffenden Weichteilgeweben als Major-Symptome. Dieses Vorgehen entspricht den
im März 2019 erarbeiteten Kriterien des European Consensus on the Diagnosis and Treatment
of Lipoedema [2].
„Psychische Belastung“ wurde im Rahmen der Studie definiert als:
-
psychische Störungen (ICD-10-F-Diagnosen wie Depression, Essstörungen, posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS), Angst- und Panikstörung) oder
-
gravierende psychische Auffälligkeiten (ICD-10-Z-Diagnosen), die knapp nicht die Kriterien
einer „F-Diagnose“ erfüllen (z. B. Burnout, Stressessen, extremer chronischer Stress).
Es wurden halbstrukturierte Interviews durchgeführt, die auf 2 Termine verteilt und
von einer speziell auch mit dieser Patientengruppe erfahrenen Psychologischen Psychotherapeutin
durchgeführt wurden. Erhoben wurden:
-
die aktuell bestehenden psychischen Störungsbilder nach ICD-10-Kriterien [41] und gravierende psychische Auffälligkeiten sowie die Vorgeschichte psychischer Störungen
und gravierender psychischer Auffälligkeiten im Lebensverlauf,
-
die mit dem Lipödem verbundene Symptomatik inklusive der Erfassung der aktuellen minimalen
und maximalen Schmerzstärke im Alltag (in den letzten 7 Tagen), von den Patientinnen
eingeschätzt mit der visuellen Analogskala (0–10), sowie
-
das mit den Patientinnen gemeinsame Überblenden der beiden Bereiche, d. h. Lipödem-assoziierte
Schmerzen auf der einen Seite und psychische Belastungen auf der anderen Seite wurden
in einen zeitlichen Zusammenhang gesetzt.
Da keine Fragebögen zur Erhebung psychischer Belastungen über die Lebensspanne existieren,
wurde als explorative Methode dieses neuen Feldes bei Frauen mit der Diagnose Lipödem-Syndrom
das halbstrukturierte Interview eingesetzt. Dies wurde auch für die Erhebung der aktuellen
psychischen Diagnosen nach ICD beibehalten. Von Interesse ist jene Symptomatik, die
wirklich klinisch relevant ist. Klinische Diagnosen erschienen dazu als adäquates,
wenn auch hartes Kriterium. Wo psychische Vorbefunde vorhanden waren, wurden diese
zur Validierung der erhobenen Diagnosen miteinbezogen.
Die statistische Auswertung erfolgte mit Excel und extern unterstützt mit SPSS. Im
Folgenden sind die 2-seitigen Signifikanzen angegeben.
Beschreibung der Stichprobe
Inkludiert waren N = 150 Patientinnen mit der Diagnose Lipödem-Syndrom zu Beginn der
stationären Behandlung im Europäischen Zentrum für Lymphologie in Hinterzarten.
Alter, Body-Mass-Index (BMI), Waist to Height Ratio (WHtR) sowie deren Mittelwerte
sind in [Tab. 1] sowohl für die Untergruppen n1 = 81 mit BMI < 40 kg/m2 und n2 = 69 mit BMI ≥ 40 kg/m2 als auch für die Gesamtstichprobe (N = 150) dargestellt. [Tab. 2] zeigt die Verteilung des BMI. 3,3 % dieser Stichprobe präsentierten Normalgewicht
(BMI 18–25 kg/m2); 46 % waren morbid adipös (Adipositas Grad III) mit einem BMI > 40 kg/m2.
Tab. 1
Beschreibung der Stichprobe (N = 150).
|
Patientinnen mit BMI < 40 kg/m²
n1 = 81
|
Patientinnen mitBMI ≥ 40 kg/m²
n2 = 69
|
Gesamtstichprobe
N = 150
|
Alter in Jahren
|
17–62
|
24–69
|
17–69
|
Mittelwert Alter
|
41,73
|
45,75
|
43,58
|
BMI in kg/m²
|
21,98–39,90
|
40,42–71,52
|
21,98–71,52
|
Mittelwert BMI
|
33,20
|
47,86
|
39,94
|
WHtR
|
0,46–0,73
|
0,64–0,97
|
0,46–0,97
|
Mittelwert WHtR
|
0,61
|
0,78
|
0,69
|
Tab. 2
BMI-Verteilung der Stichprobe (N = 150).
Gewichtskategorie
|
BMI in kg/m2
|
n
|
%
|
Normalgewicht
|
18,5–25,0
|
5
|
3,3
|
Übergewicht
|
25,0–29,9
|
15
|
10,0
|
Adipositas Grad I
|
30,0–34,9
|
25
|
16,7
|
Adipositas Grad II
|
35,0–39,9
|
36
|
24,0
|
Adipositas Grad III
|
≥ 40,0
|
69
|
46,0
|
Ergebnisse der Pilotstudie
Ergebnisse zur Klärung der Frage: Ist die Erkrankung Lipödem tatsächlich Ursache von
schweren psychischen Belastungen (inklusive psychischer Störungsbilder)?
Psychische Belastungen, die der Entwicklung Lipödem-typischer Schmerzen vorausgehen
Untersucht wurden hierzu schwere psychische Belastungen (psychische Störungen und
gravierende psychische Auffälligkeiten), die dem erstmaligen Auftreten Lipödem-typischer
Beschwerden innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums unmittelbar vorausgingen.
Darüber hinaus wurde auch der Zeitraum über die gesamte bisherige Lebensspanne untersucht,
d. h. der gesamte Zeitraum vor der Entwicklung Lipödem-typischer Beschwerden als auch
der Zeitraum danach.
Die Ergebnisse der Diagnostik psychischer Störungsbilder (ICD-10-F-Diagnosen) in den
12 Monaten vor dem Auftreten Lipödem-bedingter Schmerzen ([Tab. 3]) zeigten eine starke Häufung depressiver Störungen, die mindestens die Schwere einer
leichten depressiven Episode erreichten (Dysthymia, eine mildere depressive Entwicklung,
die noch nicht die Kriterien einer depressiven Episode erfüllt, wurde ausgeschlossen
und unter Sonstige gerechnet). Darüber hinaus war das Auftreten von Essstörungen mit
Essanfällen im beschriebenen Zeitraum stark erhöht. Während die 12-Monats-Prävalenz
depressiver Störungen in der Normalbevölkerung bei 8,4 % liegt, wies die untersuchte
Lipödem-Population eine Rate von 30,7 % auf. Für die Essstörungen mit Essanfällen
liegt die 12-Monats-Prävalenz in der Normalbevölkerung bei 0,1 %; bei den untersuchten
Patientinnen mit Lipödem-Syndrom zeigten 18,0 % im 12-Monats-Zeitraum vor der Entwicklung
Lipödem-assoziierter Schmerzen eine Essstörung.
Tab. 3
Psychische Störungen vor Entwicklung Lipödem-typischer Schmerzen in % der nach BMI
eingeteilten Untergruppen bzw. in % der Gesamtstichprobe N = 150, teilweise mit Mehrfachdiagnosen.
|
Patientinnen mit BMI < 40 kg/m²
n1 = 81
in %
|
Patientinnen mit BMI ≥ 40 kg/m²
n2 = 69
in %
|
Gesamtstichprobe
N = 150
in %
|
Vergleich:
12-Monats-Prävalenz
dt. Frauen [43]
in %
|
depressive Störungen
|
24,7
|
37,7
|
30,7
|
8,4
|
Essstörungen (vor allem Binge Eating Disorder) [29]
|
16,0
|
20,3
|
18,0
|
0,1
|
posttraumatische Belastungsstörung
|
2,5
|
4,3
|
3,3
|
3,6
|
Angst- und Panikstörungen
|
3,7
|
5,8
|
4,7
|
2,9
2,8
|
DAET (mind. eine der oberen 4)
|
40,7
|
53,6
|
46,7
|
–
|
Schmerzen mit somatoformen Anteilen (Zweitdiagnose)
|
1,2
|
1,4
|
1,4
|
5,0
|
Sonstige als Erstdiagnose
|
11,2
|
7,3
|
9,3
|
–
|
keine psychische Störung nach ICD-10-F
|
48,1
|
39,1
|
44,0
|
–
|
DAET: Vorliegen von mindestens einer psychischen Störung aus den 4 oberen Bereichen:
depressive Störungen, Angst-, Ess- oder posttraumatische Belastungsstörung. Bei DAET
und Sonstige kein direkter Vergleich mit der 12-Monats-Prävalenz möglich. Schmerzen
mit somatoformen Anteilen kamen nur als Zweitdiagnose vor.
Fasst man die in der Literatur beschriebenen schmerzrelevanten psychischen Störungen
wie Depression, Angststörungen, Essstörungen oder posttraumatische Belastungsstörung
(PTBS) zusammen, so fanden sich in der Gesamtstichprobe 46,7 %, die eine oder gleichzeitig
mehrere dieser psychischen Störungsbilder aufwiesen. Schmerzen mit somatoformen Anteilen
in anderen Körperpartien als den später vom Lipödem-Syndrom betroffenen traten bei
1,4 % auf (allerdings nicht als Erstdiagnose, d. h. es lagen andere gravierendere
Diagnosen vor). 9,3 % zeigten in diesem Zeitraum andere Erstdiagnosen, wie z. B. Dysthymia,
psychophysisches Erschöpfungssyndrom, Borderline-Störung oder Alkoholabhängigkeit.
Darüber hinaus wiesen 24 % der Gesamtstichprobe in den 12 Monaten vor der Entwicklung
der Schmerzen gravierende psychische Auffälligkeiten auf, die nicht die Kriterien
einer „F-Diagnose“ erfüllten und als „Z-Diagnose“ verschlüsselt wurden (z. B. Burnout,
Stressessen, extremer chronischer Stress) und mehrere Monate lang andauerten bis zum
Beginn der Schmerzsymptomatik.
Somit präsentierten exakt 80 % (n = 120) der untersuchten Frauen mit der Diagnose
Lipödem-Syndrom eine relevante psychische Belastung, die bereits in einem 12-Monats-Zeitraum
vor der Entwicklung der Lipödem-assoziierten Beschwerden vorhanden war. Dies schloss
sowohl neu aufgetretene Belastungen im untersuchten 12-Monats-Zeitraum ein als auch
Rezidive einer bereits vor dem 12-Monats-Zeitraum aufgetretenen psychischen Belastung
(z. B. bei erneuter depressiver Episode).
Die Störungen, die bereits im Zeitraum vor der Entwicklung Lipödem-assoziierter Schmerzen
festzustellen waren, konnten – formallogisch – auf keinen Fall Folge des Lipödems
sein, da sie bereits zuvor bestanden haben.
Aktuelle psychische Störungsbilder (reine ICD-10-F-Diagnosen)
Um der Frage nachzugehen, ob ein Lipödem-Syndrom tatsächlich zu psychischen Störungsbildern
wie Depression, Angststörung, Essstörung oder PTBS führt, wurden die aktuellen (d. h.
zum Zeitpunkt der Untersuchung vorhandenen) Störungsbilder untersucht und in Bezug
zur Krankheit Lipödem gesetzt.
Die Ergebnisse der Diagnostik aktueller psychischer Störungsbilder ([Tab. 4]) zeigen, dass von allen 150 Patientinnen mit Lipödem-Syndrom zum Zeitpunkt der Untersuchung
noch 26 % an Depression litten, 14,7 % an Essstörungen mit Essanfällen, 5,3 % an PTBS
sowie 3,3 % an Angststörungen, wobei auch Patientinnen mit Mehrfachdiagnosen vorhanden
waren.
Tab. 4
Aktuelle psychische Störungen in % der nach BMI eingeteilten Untergruppen bzw. in
% der Gesamtstichprobe N = 150, teilweise mit Mehrfachdiagnosen.
|
Patientinnen mit BMI
< 40 kg/m²
n1 = 81
in %
|
Patientinnen mit BMI
> 40 kg/m²
n2 = 69
in %
|
Gesamtstichprobe
N = 150
in %
|
depressive Störungen
|
18,5
|
34,8
|
26,0
|
Essstörungen (vor allem Binge Eating Disorder) [42]
|
8,6
|
21,7
|
14,7
|
posttraumatische Belastungsstörung
|
3,7
|
7,2
|
5,3
|
Angst- und Panikstörungen
|
2,5
|
4,3
|
3,3
|
DAET (mind. eine der oberen 4)
|
25,9
|
49,3
|
36,7
|
Schmerzen mit somatoformen Anteilen[
1
]
|
7,4[
1
]
|
4,3[
1
]
|
6,0[
1
]
|
Sonstige als Erstdiagnose
|
13,6
|
10,1
|
10,6
|
keine psychische Störung nach ICD-10-F
|
56,8
|
40,6
|
49,9[
2
]
|
DAET: Vorliegen von mindestens einer psychischen Störung aus den 4 oberen Bereichen:
depressive Störungen, Angst-, Ess- oder posttraumatische Belastungsstörung.
1 davon als Erstdiagnose bei n1: 4,9 %, bei n2: 0 % und bei N: 2,7 %.
2 darunter 12,7 % von N mit Essanfällen bei Stress (n1: 7,4 %, n2: 18,8 %).
Der prozentuale Anteil an den jeweiligen psychischen Störungsbildern war dabei in
der Untergruppe mit höherem BMI höher. So litten in der Untergruppe mit BMI < 40 kg/m2 25,9 % an einer psychischen Störung aus den Bereichen Depression, Angst- oder Essstörung
und Traumafolgestörung (PTBS) (im Folgenden zusammengefasst als DAET), aus der Untergruppe
mit BMI ≥ 40 kg/m2 waren es 49,3 %.
Die in [Tab. 4] gezeigten Prozentwerte der aktuellen psychischen Störungsbilder fielen gegenüber
jenen vor dem Auftreten des Lipödems in der Gesamtstichprobe etwas geringer aus. Dies
betraf die Bereiche Depression, Essstörung und Angststörung. Dies ist z. B. durch
die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Behandlungen zu erklären, sodass das ursprüngliche
Störungsbild zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht mehr vorhanden war.
Der höhere Prozentwert bei aktueller PTBS ist durch das Erleben von Gewalt in der
Paarbeziehung und das Erleben eines Verbrechens bedingt, nicht durch das Bestehen
eines Lipödems.
Im Rahmen der Interviews der Pilotstudie wurde ein möglicher Einfluss des Lipödems
auf die Entwicklung psychischer Störungsbilder exploriert. Dabei zeigen die Ergebnisse:
Aktuelle psychische Störungen mit Hauptauslöser Lipödem waren nur bei einer Patientin
(0,7 %) zu verzeichnen; zu einer Verschlechterung eines – bereits bestehenden – Störungsbildes
durch die weitere Belastung im Rahmen des Lipödems kam es bei 6 % (9/150).
Konkrete Suizidgedanken und deren Hintergrund
Erfragt wurden auch konkrete Suizidgedanken: 34 Patientinnen (22,7 % von N) gaben
an, schon einmal konkrete Suizidgedanken gehabt zu haben – allerdings nicht wegen
des Lipödems. Als Gründe wurden u. a. Todesfälle nahestehender Personen genannt, das
Erleben von Gewalt oder der Verlust der Arbeitsstelle. Das Auftreten von Suizidalität
ausschließlich wegen des Lipödems bestätigte sich in der vorliegenden Pilotstudie
trotz hoher psychischer Belastung bei keiner Patientin.
Ergebnisse zur Klärung der Frage: Besteht ein Zusammenhang zwischen dem psychischen
Störungsbild der Patientin mit der Diagnose Lipödem-Syndrom und der wahrgenommenen
Schmerzintensität?
Untersucht wurden die maximalen und minimalen Schmerzwerte im Alltag innerhalb der
vergangenen 7 Tage mit der visuellen Analogskala (VAS) sowie deren Bezug zu den aktuellen
psychischen Störungsbildern.
Darstellung der aktuellen maximalen und minimalen Schmerzwerte im Alltag (VASmax und VASmin)
[Abb. 1] zeigt die maximale Schmerzstärke im Alltag durch die Patientinnen, gemessen mit
der visuellen Analogskala (VAS) und dargestellt in Prozent der Stichprobe.
Abb. 1 Werte für das aktuelle Schmerzmaximum VASmax (0–10) bei % von N = 150.
Knapp 70 % (69,3 %) der Patientinnen gaben ein VASmax von 6 oder mehr an, über die Hälfte der Patientinnen (51,3 %) berichtete über einen
VASmax von 7 oder mehr. VAS 0 bedeutete keinen Schmerz. VASmax 10 wurde als „Amputationsschmerz“ vorgegeben.
[Abb. 2] zeigt die minimale Schmerzstärke im Alltag durch die Patientinnen, eingeschätzt
mit VAS und dargestellt in Prozent der Stichprobe. Die minimalen Schmerzwerte VASmin zeigen, dass 28,7 % aller Patientinnen zumindest kurzzeitig auch Schmerzfreiheit
(VAS 0) erreichten. Knapp ein Fünftel (18 %) der untersuchten Frauen präsentierte
ein VASmin von 5 oder mehr. Mit anderen Worten, knapp ein Fünftel der Patientinnen mit Lipödem-Syndrom
erreichte im Alltag nie – auch nicht kurzzeitig – einen Schmerzwert, der unterhalb
von 5 lag!
Abb. 2 Werte für das aktuelle Schmerzminimum VASmin (0–10) bei % von N = 150.
Statistische Zusammenhänge zwischen den aktuellen psychischen Störungen und den aktuellen
Schmerzmaxima und Schmerzminima im Alltag
Patientinnen mit der Diagnose Lipödem-Syndrom und mit einer aktuellen psychischen
Störung aus den Bereichen Depression, Angststörung, Essstörung oder PTBS (DAET) zeigten
ein signifikant höheres Schmerzmaximum VASmax als Patientinnen ohne eines dieser psychischen Störungsbilder (mit DAET: M = 6,95;
SD = 1,64 vs. ohne DAET: M = 6,32; SD = 1,94; sign. 0,046) ([Abb. 3]).
Abb. 3 Aktuelle maximale Schmerzwerte Vasmax (0–10) bei Patientinnen mit Lipödem ohne (0) oder mit (1) einer Störung aus dem Bereich
DAET (ohne DAET: Median = 6,0; mit DAET: Median = 7,0).
Mit einem Lipödem-Syndrom diagnostizierte Patientinnen mit Traumafolgestörungen hatten
hochsignifikant höhere Schmerzmaxima als Patientinnen mit Lipödem-Syndrom ohne dieses
Störungsbild (mit PTBS: M = 8,38; SD = 1,85 vs. ohne PTBS: M = 6,44; SD = 1,80; sign.
0,004) ([Abb. 4]).
Abb. 4 Aktuelle maximale Schmerzwerte Vasmax (0–10) bei Patientinnen mit Lipödem ohne (0) oder mit (1) aktueller posttraumatischer
Belastungsstörung (ohne PTBS: Median = 6,5; mit PTBS: Median = 9,0).
Depression (ohne Depression: M = 6,43 vs. mit Depression: M = 6,87) und Angststörung
(ohne Angststörung M = 6,54 vs. mit Angststörung M = 6,80) zeigten keine signifikanten
Unterschiede in den Schmerzmaxima – Depression allerdings in den Schmerzminima.
In Beziehung zum Schmerzniveau, das von den Patientinnen als absolutes Minimum im
Alltag angegeben wurde, zeigte sich Folgendes: Bei Patientinnen mit einer psychischen
Störung aus dem Bereich DAET lag das Schmerzminimum signifikant höher, als wenn aktuell
keine Störung aus diesem Bereich vorlag (mit DAET: M = 3,07; SD = 2,30 vs. ohne DAET
M = 2,18; SD = 1,91; sign. 0,011), d. h. Patientinnen, bei denen eine Störung aus
dem Bereich DAET vorlag, hatten im Durschnitt auch dann stärkere Schmerzen, wenn sie
ihr Schmerzminimum erreichten.
Mit einem Lipödem-Syndrom diagnostizierte Patientinnen mit aktueller Depression hatten
ein signifikant höheres Schmerzminimum als Patientinnen ohne Depression (mit Depression:
M = 3,08; SD = 2,30 vs. ohne Depression: M 2,31; SD = 2,00; sign. 0,048). Ebenso war
der minimale Schmerzwert VASmin höchstsignifikant höher bei Patientinnen mit der Diagnose Lipödem-Syndrom mit Traumafolgestörung
(mit PTBS: M = 5,25; SD = 2,36 vs. ohne PTBS: M = 2,25; SD = 1,98; sign. 0,000). Das
bedeutet: Patientinnen mit PTBS erreichten im Durchschnitt keinen Schmerzwert unter
5,25 auf der 0–10-Skala, Patientinnen ohne PTBS im Schnitt keinen Schmerzwert unter
2,25.
Die Anzahl psychischer Störungsbilder im bisherigen Lebensverlauf korrelierte signifikant
mit der aktuellen maximalen Schmerzstärke im Alltag (Kendalls-Tau-b = 0,185; sign.
0,006), d. h. je mehr psychische Störungsbilder Patientinnen gleichzeitig aufwiesen,
desto höher war die maximal erlebte Schmerzstärke im Alltag.
Ebenfalls untersucht wurde ein möglicher Unterschied im BMI bei Frauen mit und ohne
psychische Störungsbilder: Demnach wiesen Frauen mit aktueller Essstörung insgesamt
einen hochsignifikant höheren BMI auf als jene ohne (mit Essstörung: M = 44,69 kg/m2; SD = 8,77 vs. ohne Essstörung: M = 39,13 kg/m2; SD = 8,65; sign. 0,006).
Frauen mit einer psychischen Störung aus den Bereichen Depression, Essstörung, Angststörung
oder PTBS hatten einen signifikant höheren BMI als jene ohne (mit DAET: M = 41,97;
SD = 8,76 vs. ohne DAET M = 38,77; SD = 8,75; sign. 0,033). In einer linearen Regression
zeigte sich darüber hinaus der BMI (zusammen mit dem Bestehen einer PTBS vor der Entwicklung
Lipödem-assoziierter Schmerzen) als signifikanter Prädiktor für das Schmerzmaximum
VASmax, wenn auch mit geringer Varianzaufklärung (im Modell für PTBS vor Lipödem und BMI:
korrigiertes R-Quadrat = 0,076 und F (2,147) = 7,151; p < 0,001).
Da in der traditionellen Lipödem-Literatur [45]
[46]
[47] Ödeme häufig als Ursache der einschlägigen Schmerzsymptomatik der Frauen mit Lipödem
beschrieben wurden, überprüften wir den möglichen Einfluss eines Lymphödems auf die
Schmerzstärke: Mit einem Lipödem-Syndrom diagnostizierte Patientinnen mit und ohne
– zumeist Adipositas-assoziiertem – Lymphödem unterschieden sich nicht signifikant
in den maximalen oder minimalen Schmerzwerten (n = 72 nach Verifizierung der Diagnostikstandards,
VASmax bei n = 44 ohne Lymphödem: M = 6,41; SD = 1,87 vs. VASmax bei n = 23 mit Lymphödem: M = 5,61; SD = 1,73; n. sign. 0,093; n = 5 Flüssigkeitsretention)
(VASmin bei n = 44 ohne Lymphödem: M = 2,27; SD = 2,02 vs. VASmin bei n = 23 mit Lymphödem: M = 1,74; SD = 2,14; n. sign. 0,317). Ein additiv bestehendes
Lymphödem hatte somit keinen Einfluss auf die wahrgenommene Schmerzstärke.
Jenseits psychischer Störungsbilder
In den Interviews zeigten sich die typischen Problembereiche unserer Patientinnen
mit der Diagnose Lipödem-Syndrom deutlich: die Selbstakzeptanz, die Gewichtsentwicklung
und damit auch zusammenhängend die Akzeptanz des eigenen Körpers sowie der Umgang
mit den Lipödem-assoziierten Schmerzen. Darüber hinaus waren die Stressbewältigung
sowie der Umgang mit Gefühlen wie Angst, Wut und Scham in Bezug auf das Lipödem zentrale
Themen. Bei einigen Frauen mit Erfahrungen von Gewalt und/oder sexuellem Missbrauch
zeigte sich eine dadurch geprägte, schwierige Beziehung zum eigenen Körper auch jenseits
des Lipödems.
52 % der Gesamtpopulation äußerten auf gezieltes Nachfragen das Erleben von sexuellem
Missbrauch und/oder physischer Gewalt in der Vergangenheit. Gewalt wurde hier definiert
als vielfach erfahrene schwere Gewalt, die zu einer Hämatombildung führte, wie z. B.
Schläge mit Stock, Gürtel oder anderen Gegenständen.
Qualitativer Teil
Die folgenden Zitate aus den Interviews vermitteln einen Eindruck dessen, was Frauen
mit Lipödem in den Studieninterviews schilderten: „Ich fühle mich so schuldig, dass
mein Körper so ist.“, „Schon als Kind war ich immer dicker als die anderen.“, „Ich
habe schon immer gegen meinen Körper gekämpft, seit dem Missbrauch (in der Kindheit)…“,
„… und wenn ich zwischendrin nur etwas Kleines gegessen hatte, dann musste ich mich
dafür bestrafen und mindestens eine Mahlzeit weglassen – manchmal bin ich dann hungrig
ins Bett…“, „Ich war lange mit meiner Kraft und meinen Nerven am Ende und dann kamen
auch noch diese fiesen Schmerzen in den Beinen dazu.“, „Wenn mein Mann sagt, dass
er mich liebt, so wie ich bin, kann ICH ihm einfach nicht glauben…“.
Aber auch Ressourcen zeigten sich in diesen Interviews: „Ja, mein Schmerz ist oft
7 (auf der 0–10-Skala), aber wenn Sie mich so fragen, wieviel ich darunter leide,
dann ist das Leiden eher so bei 3 (Subjective Units of Disturbance: 0–10-Skala)… ich
hab’ inzwischen gelernt, damit umzugehen.“, „Laufen und Schwimmen hilft mir, am nächsten
Morgen hab’ ich dann manchmal sogar eine Weile keine Schmerzen.“, „Inzwischen zieh’
ich mich auch modisch an und fang’ immer mehr an, mich so gut zu finden.“
Diskussion
Die vorliegende Pilotstudie exploriert ein bislang noch nie beachtetes Feld: die psychische
Situation von Frauen mit der gesicherten Diagnose Lipödem-Syndrom unmittelbar vor
der Entwicklung Lipödem-assoziierter Beschwerden sowie den Einfluss der psychischen
Belastung der Patientinnen mit Lipödem-Syndrom auf die empfundene Schmerzstärke.
Zunächst wurde ein häufig in der Literatur und in den Medien wiederholtes Statement
auf wissenschaftliche Evidenz geprüft. Untersucht wurde die Frage:
Ist die Erkrankung Lipödem tatsächlich Ursache von schwerer psychischer Belastung?
Psychische Belastung wurde in dieser Studie definiert als das Vorliegen einer manifesten
psychischen Störung (ICD-10-F-Diagnose) oder/und gravierende psychische Auffälligkeit
(ICD-10-Z-Diagnose). Exakt 80 % (n = 120) der Patientinnen mit der Diagnose Lipödem-Syndrom
zeigten eine hohe psychische Belastung.
Diese psychische Belastung der Patientinnen trat allerdings im 12-Monats-Zeitraum
vor dem Auftreten der Lipödem-assoziierten Beschwerden auf. Was jedoch bereits vor dem
Auftreten der Lipödem-assoziierten Schmerzen auftritt, kann rein formallogisch – und
das ist gesichert – nicht dessen Folge sein.
Verschlechterungen des bereits bestehenden psychischen Befundes, die auf das Lipödem
zurückzuführen waren, wurden nur bei 6 % beobachtet, eine psychische Störung, bei
der das Lipödem der Hauptauslöser war, zeigte sich nur selten, nämlich bei einer Person
(0,7 %).
Somit kann die populäre Behauptung, ein Lipödem mache psychisch krank oder ein Lipödem
sei die Ursache aller psychischer Belastung der Frauen mit der Diagnose Lipödem, für
die große Mehrheit der Frauen mit Lipödem widerlegt werden.
Angesichts des Auftretens der schweren psychischen Belastung unmittelbar vor dem Auftreten
der Lipödem-assoziierten Beschwerden drängt sich die Frage auf, ob diese nachgewiesenen
psychischen Belastungen einen Einfluss auf die Entwicklung dieser Schmerzen haben.
Eine direkte Kausalität können wir mit retrospektiv erhobenen Daten nicht nachweisen,
dennoch können wir Hinweise auf mögliche Einflüsse analysieren.
Ein hoher Anteil der Frauen mit Lipödem (80 %) zeigte nicht nur eine gravierende psychische
Belastung, sondern zeigte diese auch unmittelbar im Zeitraum vor der Entstehung der
Lipödem-assoziierten Beschwerden. Dieses gehäufte – und im Vergleich zur Normalbevölkerung
deutlich erhöhte – Auftreten (gerade von Störungsbildern wie Depression, Essstörung
oder PTBS) im unmittelbar vorausgehenden 12-Monats-Zeitraum vor Auftreten der Lipödem-assoziierten
Beschwerden kann auf Folgendes hinweisen:
Bei entsprechender somatischer Voraussetzung können psychische Faktoren zur Entstehung
Lipödem-assoziierter Schmerzen beitragen.
Auch wenn man einen kausalen Einfluss durch die vorliegenden Daten nicht beweisen
kann, untersuchten wir einen möglichen Zusammenhang zwischen psychischen Faktoren
und Lipödem-assoziierten Schmerzen:
Besteht ein Zusammenhang zwischen einem psychischen Störungsbild der Patientin und
der wahrgenommenen Schmerzintensität?
Wie oben dargestellt sind diese Einflüsse bei anderen „Schmerzerkrankungen“ bekannt.
Vor allem Depression, Angst, chronischer Stress und Traumata werden mit chronischen
Schmerzen in Verbindung gebracht.
In der vorliegenden Pilotstudie waren die aktuellen psychischen Störungsbilder aus
dem Bereich Depression, Essstörung, Angststörung oder PTBS mit höheren Schmerzmaxima
verbunden, d. h. bei der Gruppe von Patientinnen, bei denen eines dieser Störungsbilder
vorlag, lagen die Schmerzmaxima durchschnittlich höher als bei jenen ohne eines dieser
Störungsbilder.
Von besonderer Bedeutung zeigte sich der Einfluss von Depression und posttraumatischer
Belastungsstörung auf die Schmerzstärke. So hatten mit einem Lipödem-Syndrom diagnostizierte
Patientinnen mit Depression ein signifikant höheres Schmerzminimum als Patientinnen
ohne Depression. Das bedeutet: Auch in relativ guten Alltagsmomenten blieb die empfundene
Schmerzstärke höher als bei jenen Patientinnen mit Lipödem-Syndrom und ohne Depression.
Sowohl eine PTBS vor der Entstehung der Lipödem-assoziierten Schmerzen als auch eine
aktuelle PTBS wirkten sich eklatant auf das aktuell empfundene Schmerzmaximum aus.
Aber auch das Schmerzminimum, das die mit Lipödem diagnostizierten Patientinnen mit
PTBS in ihren besten Momenten im Alltag erreichten, blieb höchstsignifikant höher
gegenüber den Patientinnen ohne PTBS. Diese Patientinnen zeigten extreme Schmerzen
in den vom Lipödem-Syndrom betroffenen Körperregionen, meist mit großen Schwierigkeiten,
an diesen Stellen berührt zu werden. Die Grundlage dafür könnte eine (wie unter Kapitel
3 skizzierte) stressinduzierte Hyperalgesie (SIH) nach dem Erleben von Traumata als
Extremstress sein.
Der Anteil an Angststörungen lag in unserer Stichprobe mit 3,3 % relativ niedrig und
zeigte – möglicherweise dadurch – keinen signifikanten Einfluss auf das Schmerzmaximum.
Eine andere Erklärung wäre, dass die für Schmerzen relevanten krankheitsbezogenen
Ängste sich nur in wenigen Fällen in einer Angststörung widerspiegelten. Ähnliche
Beobachtungen wurden bereits in der Onkologie gemacht [44].
Bei den Essstörungen zeigte sich eine Untergruppe, die beschrieb, dass „Essen dazu
dient, belastende Gefühle zu betäuben“ oder „Stress zu bewältigen“. Essanfälle stellten
dort einen Lösungsversuch zur Bewältigung psychischer Belastungen dar [42] und wirkten bei dieser Personengruppe stress- und damit auch schmerzreduzierend.
In der traditionellen Lipödem-Literatur werden Ödeme gerne als Ursache der Spannungs-,
Berührungs- und Druckschmerzen angegeben [45]
[46]
[47]. Abgesehen von der Tatsache, dass die Sichtweise auf das „Lipödem als Ödemerkrankung“
ohnehin verlassen wurde [2]
[49]
[50], zeigt die vorliegende Studie, dass ein additiv bestehendes Lymphödem bei Patientinnen
mit Lipödem keinen Einfluss auf die Schmerzintensität hatte.
Ein kleiner Exkurs zur Adipositas, einem bei Frauen mit der Diagnose Lipödem oft ignorierten
Thema ([Abb. 5]): Bereits bei der Beschreibung unserer Studienpatientinnen fällt auf: 86,7 % der
Studienpopulation mit Lipödem-Syndrom waren adipös, 46 % präsentierten sogar eine
Adipositas Grad III (BMI ≥ 40 kg/m2). Nur 3 % der Studienpopulation waren normalgewichtig (BMI 18,5–25 kg/m²). Diese
hohe Prävalenz an Adipositas unter stationären Patientinnen mit der Diagnose Lipödem-Syndrom
unterscheidet sich nicht von den Zahlen ambulanter Behandlungszentren.
Abb. 5 Patientin mit den Diagnosen Lipödem-Syndrom und Adipositas.
Lymphologische Zentren in anderen Ländern präsentieren ähnliche Zahlen bei Patientinnen
mit Lipödem. So haben z. B. nach einer viel zitierten britischen Studie von Child
und Gordon [6] 8 % Adipositas Grad I, 27 % Adipositas Grad II und 50 % Adipositas Grad III. Nur
4 % der britischen Studienpopulation waren normalgewichtig. Die Studien von Dudek
[7] zeigen ebenfalls hohe BMI-Werte bei den via Internet befragten Frauen mit Lipödem
aus verschiedenen Ländern (Studie 1 mit n = 113; BMI: Mittelwert = 41,24 kg/m2; Studie 2 mit n = 321; BMI: M = 42,51 kg/m2).
Die Integration der vorliegenden Studienergebnisse – nach BMI-Gruppen aufgeteilt -verdeutlicht,
dass die Patientinnen mit Lipödem-Syndrom eine Patientengruppe darstellen, bei denen
beide Problembereiche, sowohl die Adipositas als auch die hohe psychische Belastung
sowie mögliche Zusammenhänge zwischen beiden, in den Fokus genommen werden müssen.
Da mit steigendem BMI auch die Schmerzwerte für VASmax ansteigen, müssen Behandler auch die Adipositas der Frauen mit der Diagnose Lipödem-Syndrom
in den Fokus nehmen.
Nicht alle Problembereiche sind so stark ausgeprägt, dass das Kriterium für eine psychische
Störung (ICD-10-F-Diagnose) erreicht wird. Beim aktuellen psychischen Befinden spielen
auch Probleme mit der Selbstakzeptanz (generell), der Akzeptanz des eigenen Körpers
(im Besonderen), der Umgang mit den Lipödem-assoziierten Schmerzen, die Stressbewältigung
sowie „schwierige“ Gefühle wie Angst, Wut und Scham in Bezug auf das Lipödem eine
wichtige Rolle. Diese Probleme bilden sich nicht unbedingt in psychischen Störungsbildern
ab, beeinflussen aber dennoch die Beziehung zum eigenen Körper, das Schmerzerleben
und den Umgang mit den Schmerzen.
Psychotherapeutische Verfahren wie kognitive Verhaltenstherapie [35]
[36], Acceptance and Commitment Therapy [37]
[38] oder EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) [39] und Pain Neuroscience Education (PNE) [33] haben, wie unter Kapitel 4 dargelegt, international einen hohen Stellenwert bei
der Behandlung von Schmerzpatienten. Es spricht vieles dafür, dass auch Patientinnen
mit der Diagnose Lipödem-Syndrom von diesen Verfahren profitieren könnten.
Limitationen
Gerne hätten wir noch eine Kontrollgruppe aus Patientinnen mit schmerzfreier Lipohypertrophie
miteinbezogen, um einen Vergleich mit Patientinnen zu ziehen, die dem gängigen schlanken
Schönheitsideal genauso wenig entsprechen wie unsere Patientinnen mit der Diagnose
Lipödem-Syndrom – allerdings sehen wir solche Patientinnen so gut wie nie in unserer
Klinik. Eine parallelisierte Gruppe von Frauen mit schmerzfreier Lipohypertrophie
über Hausarztpraxen zu finden, scheiterte an der Umsetzbarkeit. Durch den Einbezug
einer Kontrollgruppe hätten die Ergebnisse in diesem neu erforschten Feld besser abgesichert
werden können. Aufgrund dieser Limitation wird die vorliegende Arbeit weiter als Pilotstudie
bezeichnet.
Schmerzen sind ein komplexes Geschehen, in das viele Aspekte miteinfließen. Das grobe
Raster psychischer Störungsbilder kann daher in der prospektiven Forschung um viele
Feinheiten ergänzt werden, wie z. B. die krankheitsbezogenen Ängste, die gerade beim
Lipödem aufgrund von Fehlinformationen eine wichtige Rolle spielen [48]. Fehlinformationsbedingte Ängste vor Progression des Lipödems (bei Frauen mit einem
Lipödem-Syndrom oft thematisiert als die Angst, später am Rollator gehen zu müssen
oder im Rollstuhl zu landen) decken sich nur zu einem sehr geringen Prozentsatz mit
der Diagnose Angststörung. Vergleichbares wurde auch in der onkologischen Forschung
beobachtet [44]. Diese krankheitsbezogenen Ängste, aber auch katastrophisierende Gedanken, das Körperbild
und das Vertrauen in die Veränderbarkeit der Schmerzen können nur im Rahmen einer
prospektiven Studie differenziert erfasst werden.
Schlussfolgerungen und Ausblick
80 % der Patientinnen mit der Diagnose Lipödem zeigen eine hohe psychische Belastung
unmittelbar im Zeitraum vor der Entstehung Lipödem-assoziierter Beschwerden. Die vorliegende
Pilotstudie gibt trotz aller Limitationen Hinweise darauf, dass bei entsprechenden
somatischen Voraussetzungen psychische Belastungen zur Entwicklung Lipödem-assoziierter
Schmerzen beitragen können. Zudem zeigen sich Zusammenhänge zwischen psychischen Störungsbildern
und den empfundenen Schmerzstärken im Alltag.
Dadurch ergeben sich neue Ansatzpunkte für die interdisziplinäre Therapie von Frauen
mit der Diagnose Lipödem-Syndrom. Einen ersten Eindruck vermittelt die über diese
Pilotstudie hinausgehende interdisziplinäre Therapie und Weiterbeobachtung der Patientinnen
mit aktuellen Traumafolgestörungen in der Fachklinik für Lymphologie, einer Patientengruppe,
die durch besonders hohe Schmerzstärken belastet war. Durch traumapsychotherapeutische
Impulse konnte bereits in einer ersten Sitzung – vor Beginn der interdisziplinären
Therapie (Sport- und Kompressionstherapie sowie Ernährungstherapie) – eine deutliche
Linderung der Schmerzen von anfänglich 8–10 (VAS) auf 3–4 (VAS) erreicht werden. Nach
Beginn der interdisziplinären Therapie – und 1–3 weiteren psychotherapeutischen Sitzungen
– konnte die Schmerzsymptomatik sogar auf 1–2 (VAS), in wenigen Fällen sogar auf 0
(VAS) reduziert werden, wobei hier dann auch sicher Sport-, Kompressions- und Ernährungstherapie
ihren Beitrag zur Schmerzreduktion leisteten. Allerdings ist die Zahl dieser Untergruppe
klein, sodass weitere, vor allem therapiefokussierte Studien benötigt werden, um generellere
Schlüsse zu ziehen.
Es gilt, Ärzte, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten und andere Behandler für diese
häufigen und wichtigen Themenbereiche psychischer Belastungen zu sensibilisieren und
den betroffenen Frauen die Scham zu nehmen, sich damit auseinanderzusetzen. Die psychologische
Perspektive betrachtet psychische Störungsbilder als Bewältigungsstrategien und Lösungsversuche
der Psyche und bezieht diese Sichtweise in die Planung der Therapie ein. Die bei den
Patientinnen unserer Pilotstudie identifizierten psychischen Störungsbilder sind –
wenn erst einmal erkannt – in der Regel gut veränderbar.
Die hohe Ausprägung psychischer Belastung betont die Wichtigkeit der Integration der
psychosozialen Therapiesäule in die weitere Forschung und vor allem auch in die interdisziplinäre
Therapie des Lipödem-Syndroms.