Die „Gesundheit ist einer der wichtigsten Glücksfaktoren“ der Deutschen und eine „Demenz
senkt das Lebensglück am stärksten“, so weist es der Glücksatlas 2019 aus [1]. Gleichzeitig ergeben sich durch den biomedizinischen Fortschritt neue Möglichkeiten
der Frühdiagnostik auch demenzieller Erkrankungen. Gerade bei dem wachsenden Anteil
der Älteren an der Gesamtbevölkerung und der damit einhergehenden Zunahme der Demenzen
kommt ihrer frühzeitigen Erkennung und Behandlung eine enorme Bedeutung zu.
Allerdings ist die Frühdiagnose einer Demenz mit dem Problem verbunden, dass weder
der tatsächliche Ausbruch der infrage stehenden Demenz innerhalb der zur Verfügung
stehenden Lebenszeit noch gar der Zeitpunkt ihrer Manifestation verlässlich vorhergesagt
werden kann. Hinzu kommt, dass derzeit keine wirksamen Behandlungsoptionen verfügbar
sind. Darüber hinaus geht eine Biomarkerpositivität nicht zwangsläufig mit kognitiven
Einbußen einher. Dieses zeigt sich in einer zunehmenden Zahl größerer Studien, denen
zufolge sich auch bei knapp 50 % der älteren Probanden eine Biomarkerpositivität fand,
ohne dass zum Zeitpunkt der Untersuchung irgendein kognitives Defizit feststellbar
war.
Sollte man eine solche Diagnostik trotzdem routinemäßig in die bislang vorrangig neuropsychologisch
und an den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 ausgerichtete Diagnostik integrieren?
Oder sollte auch ohne eine neuropsychologische Befunderhebung generell mehr getestet
werden, um Risikopersonen zu identifizieren? Die Befürworter eines solchen Vorgehens
führen ins Feld, dass die Betroffenen sich dann „besser vorbereiten könnten“ und sie
„ihr Leben so rechtzeitig auf die später sich verändernde Situation und die damit
einhergehenden Einschränkungen und Verluste einstellen könnten“.
Inzwischen gibt es Bestrebungen, die Demenzdiagnose nur biomarkerbasiert und unabhängig
vom klinischen Syndrom zu stellen. So sei die Diagnose der Alzheimer-Demenz gemäß
der Kriterien des NIA-AA Research Framework nur noch biologisch und damit unabhängig
vom klinischen Syndrom zu stellen. Bezeichnungen wie z. B. „Mild Cognitive Impairment“
o. Ä. indizierten demnach nur noch den Schweregrad einer Demenz [2].
Neben dem unbezweifelbaren Nutzen häufiger Biomarkeranalysen für die Forschung ist
bei diesem Standpunkt mit einzubeziehen, dass Menschen sehr unterschiedlich mit negativen
Informationen umgehen und dass Wahrscheinlichkeitsaussagen in der Regel nur schlecht
verarbeitet werden können. Wird die Hoffnung auf ein „gutes“ Ergebnis nämlich enttäuscht,
kann es zu klinisch bedeutsamen Angstzuständen, depressiven Reaktionen bis hin zu
Suizidhandlungen, erheblichem (Selbst)Stigmatisierungs- und Diskriminierungserleben,
nicht kontrollierbarem Rückzugsverhalten, der dysfunktionalen Übernahme einer Krankenrolle
und assoziierten Verhaltensstörungen, vor allem aus dem Bereich der Substanzkonsumstörungen
kommen.
Hinzu sind interindividuelle Unterschiede im Umgang mit Risikoinformationen zu berücksichtigen.
Einige Menschen neigen zur Informationssuche und wollen alle Details möglicher Verläufe
und möglicher Komplikationen wissen („Sensitivierer“), andere wiederum neigen zur
Informationsabwehr und fühlen sich auch durch gut gemeinte Erläuterungen im Übermaß
belastet („Unterdrücker“). Gerade für die zuletzt genannte Personengruppe ist das
„Recht auf Nichtwissen“ in besonderem Maße zu berücksichtigen.
Ein weiteres Problem besteht in der menschlichen Schwierigkeit im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten.
Jeder Test weist eine Ungenauigkeit mit einer gewissen Rate falsch positiver und falsch
negativer Ergebnisse auf. Darüber hinaus resultiert auch ein perfekter Test immer
in einer Wahrscheinlichkeitsaussage, derzufolge die Demenz innerhalb der zur Verfügung
stehenden Lebenszeit auftreten kann. Wir Menschen neigen aber zur Überschätzung seltener
(z. B. Flugreisen) und zur Unterschätzung hochwahrscheinlicher Gefahren (z. B. im
Straßenverkehr). Eine Aussage wie z. B.: „mit 30 %iger Wahrscheinlichkeit kann das
Ereignis x eintreten“, wird eben nicht so gelesen, dass das Ereignis mit 70 % nicht eintritt und dass die Ratewahrscheinlichkeit ohnehin bei 50 % liegt. Und schließlich
können die meisten Menschen auch eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit emotional
schlecht verarbeiten. Denn auch eine beispielsweise nur 5 %ige Wahrscheinlichkeit
bedeutet ja keineswegs, dass das Ereignis für eine einzelne Person nicht eintritt, die Wahrscheinlichkeit ist lediglich gering. Und da Menschen generell nach
eindeutigen Aussagen streben, können viele mit einer solchen wahrscheinlichkeitsbasierten
Aussage nicht gut umgehen. Je nach emotionaler Ausgangslage, Persönlichkeitsstil oder
Kompetenz in der Reaktion auf und Beurteilung von Unsicherheitsaussagen kann es deshalb
zu emotionalen, psychophysiologischen und behavioralen Verwerfungen kommen, die nicht
selten ihrerseits ein behandlungsbedürftiges Ausmaß erreichen. Auch neigt diese Personengruppe
dazu, „sich fallen zu lassen“ und die derzeit als sinnvoll erwiesenen Maßnahmen der
Lebensstiländerung wie zum Beispiel regelmäßige geistige und motorische Aktivitäten,
Diabeteskontrolle, Prophylaxe kardiovaskulärer Erkrankungen sowie Stress- und Entzündungsmanagement
nicht mit der gebotenen Sorgfalt zu betreiben („Hat ja eh’ keinen Zweck“).
Doch es gibt auch ein grundsätzliches Problem. Werden Demenzerkrankungen nur noch
an den Biomarkern und nicht mehr am neuropsychologischen Syndrom definiert, bestünde
eine Konsequenz dieses Vorgehens zunächst in einer massiven Erhöhung der Demenzraten
in der Bevölkerung, denn es wäre definitionsgemäß auch jeder demenzkrank, der zwar
komplett symptomfrei aber biomarkerpositiv ist. Wenn nun bedacht wird, dass in absehbarer
Zeit für alle ernst zu nehmenden Erkrankungen Biomarker verfügbar sein werden, dann
wird vermutlich jede Person unserer Gesellschaft irgendeine Biomarkerpositivität aufweisen.
Damit wären 100 % der Bevölkerung im klinischen Sinne „krank“ – womit die Unterscheidung
von krank und gesund hinfällig werden würde! Alle Kranken, also die gesamte Gesellschaft,
hätte Anspruch auf eine Behandlung und deren Bezahlung. Eine offensichtlich erkenntnistheoretische wie praktische und gesundheitsökonomische
Unmöglichkeit.
Deshalb bezieht sich die Haltung der Deutschen Neuropsychologie weiterhin auf die
Diagnose am Syndrom, nämlich an dem Muster von Beschwerden, Defiziten und Kompetenzen.
Die Biomarkerdiagnostik kann in diesem Zusammenhang eine Rolle bei der Sicherung der
Diagnose spielen, zwingend erforderlich ist sie dafür aber nicht. Die syndromale (Differenzial)Diagnose
eines Demenzsyndroms oder einer ihrer Vorstadien ist heutzutage bei sorgfältiger Untersuchung
auch ohne Biomarker mit hoher Sicherheit gegeben.
Wegen der für die Betroffenen, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft als Ganzes
möglicherweise folgeschweren Konsequenzen einer rein biomedizinischen Demenzuntersuchung
müssen genauer Regeln erarbeitet werden, nach denen die biologische Diagnostik durchgeführt
und das Ergebnis kommuniziert wird. So sind parallel zu jeder Biomarker-Demenztestung
formalisierte Beratungseinheiten vorzuhalten, in welchen die Motivation der Ratsuchenden
genau abgeklärt werden kann, über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgeklärt
wird („Recht auf Nichtwissen“) und in denen vor allem der psychische Status’ des/der
Ratsuchenden, der Persönlichkeitsstil (z. B. Sensitization/Repression; s. o.), das
Risiko psychischer Störungen oder anderer klinisch relevanter Reaktionen besprochen
wird. Auf jeden Fall muss zudem sichergestellt werden, dass keine Informationspflicht
gegenüber Dritten, wie zum Beispiel (Kranken)Versicherungen oder Arbeitgebern etc.
entsteht.