Zeitschrift für Palliativmedizin 2020; 21(06): 271-272
DOI: 10.1055/a-1228-6436
Editorial

Akademisierung im Pflegeberuf

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Prof. Dr. Henrikje Stanze

Liebe Leser*innen, liebe Kolleg*innen,

die Palliativversorgung in Deutschland hat aufgezeigt, wie Multiprofessionalität und Interdisziplinarität im stationären und ambulanten Behandlungssetting funktionieren kann. So werden u. a. in fachübergreifenden Besprechungen die individuellen Situationen der Patient*innen sowie der Angehörigen durch die einzelnen Berufsgruppen eingeschätzt und führen letztlich zu einer ganzheitlichen Betrachtung und Behandlung von Menschen in besonderen Lebenslagen. Dadurch bekommt die Pflege mehr Anerkennung innerhalb der Kreise der Palliativversorgung, was einerseits positiv ist, andererseits ist dies ein Effekt der weiter ausgelegten Delegation ärztlicher Leistungen, statt eigens geschaffener pflegerischer Verantwortungsbereiche. Dies liegt u. a. an unserem Gesundheits- und auch Bildungssystem.

An mehreren Standorten in Deutschland, so wie auch in Bremen, kann Pflege jetzt primärqualifizierend, d. h. in Vollzeit, studiert werden. Ähnlich wie auch im Medizinstudium seit jeher gelehrt wird, sind Theorie- und Praxisanteile im Studium enthalten: Theorie während der Vorlesungszeit, Praxisphasen während der vorlesungsfreien Zeit. Die Hochschule Bremen hat dahingehend ein Alleinstellungsmerkmal, dass die Absolvent*innen einen international anerkannten Hochschulabschluss erlangen können, neben dem in Deutschland bereits anerkannten Staatsexamen für Pflegende. Die Anerkennung erfolgt im europäischen Ausland als „registered nurse“ und somit ist diese Qualifikation in Deutschland nun mit internationalen vergleichbar. Das Studium dauert 4 Jahre und beinhaltet ein zu absolvierendes Auslandssemester.

Mit Blick in das europäische Ausland hinkte die Pflege trotz des Angebots berufsbegleitender Studiengänge mit der Berufsausbildung hinterher. Zur Erklärung ein kurzer Ausflug in die Geschichte. An der ältesten Universität Europas, der Universität Bologna, unterzeichneten im Jahr 1988 über 388 weltweit ansässige Universitätspräsidenten die Magna Charta Universitatum. Daraus entstanden verschiedene Bestrebungen, die Freiheit der Forschung und Lehre zu schützen und zu fördern sowie Bildungsabschlüsse zu garantieren, die über Landesgrenzen hinaus anerkannt werden. Um den Jahrtausendwechsel unterzeichneten 29 europäische Nationen die Bologna-Erklärung, so auch Deutschland. Dies führte in der Bundesrepublik zur allgemeinen Einführung von Bachelor- und Master-Studienabschlüssen. Studienabschlüsse in der Pflege wurden bisher weniger beachtet oder mitgedacht. International betrachtet können jedoch im Vereinigten Königreich, in Schweden und Norwegen seit Jahrzehnten alle Pflegekräfte einen Studienabschluss nachweisen, in Deutschland liegt dies aktuell immer noch unter einem Prozent. Zum einen ist somit der Bildungsabschluss in der Pflege international nicht angeglichen und zum anderen hat dies Auswirkungen auf Verantwortungsbereiche, Karriereoptionen für Pflegekräfte, die Weiterentwicklung des Pflegeberufes an sich und nicht zuletzt die Bezahlung.

Mit der Einführung der primärqualifizierenden Pflegestudiengänge ist Deutschland das letzte europäische Land, das Pflege (nun endlich) voll akademisiert hat. Es war ein langer „Kampf“, besonders in Anbetracht der altmodischen Auffassungen, die Pflege als bloßen „Assistenzberuf des Arztes/der Ärztin“ anstatt als eigene Profession anzusehen. Und selbst in dieser Debatte gibt es immer noch unterschiedliche Auffassungen, ob denn die Pflege eine eigene Profession sei oder nicht. Zu sehen ist es daran, dass Pflegeutensilien immer noch über Ärzt*innen verschrieben werden müssen (abgesehen von kleinen Modellprojekten) und Pflegende rechtlich betrachtet ohne die Anordnung von Ärzt*innen nicht einmal nicht-steroidale Antirheumatika verabreichen dürfen, obwohl diese für jede Person in der Apotheke rezeptfrei zu kaufen sind – von der Wundversorgung ganz abgesehen, die ein pflegetherapeutisches Feld ist, obwohl es als ärztlich delegierte Leistung von Pflegenden ausgeführt wird. Ich könnte hier diverse weitere Beispiele anfügen. Auch das Konzept „Basale Stimulation“ und deren Wirkweise haben viele Pflegende in der Praxis beobachtet, aber bis heute konnten diese Effekte nicht ausreichend wissenschaftlich belegt werden. Groß angelegte Studien, durchgeführt von Pflegewissenschaftler*innen, fehlen für viele Pflegethemen, da es an Forschungsanträgen fehlt, die meist aus der eigenen Profession heraus angedacht und beantragt werden.

Die Pflege hat eigene therapeutische Felder im Rahmen der Behandlung von Patient*innen und diese gilt es zu verdeutlichen und zukünftig mehr hervorzuheben und damit die eigenen Arbeitsbereiche mehr in den Fokus zu nehmen. Dazu bedarf es eines Qualifikations-Mix in Deutschland. Eine Mischung aus nicht akademisch und akademisch ausgebildeten Pflegekräften, die am Patientenbett tätig sind, gilt es zu qualifizieren, um längst überfällige Verantwortungsbereiche zu definieren und um die eigenen, sehr besonderen Arbeitsfelder in der eigenen Profession zu belassen. Nach den bisherigen Erfahrungen verliert die Pflege durch diese Form der Akademisierung keine Kolleg*innen, sondern gewinnt junge Menschen hinzu, die sonst womöglich in einem anderen Bereich gelandet wären, die studieren möchten und das für den Pflegeberuf. Der Deutsche Wissenschaftsrat hat bereits 2012 die Empfehlung ausgesprochen, dass mindestens 10 % aller Pflegenden an deutschen Kliniken studiert haben sollten. Das ist nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu sehen, um die Möglichkeiten zu fördern, die wir dadurch bekommen, wie eine gesteigerte Anerkennung und Attraktivität des Pflegeberufes, dem Entgegenwirken der Deprofessionalisierung und dem Pflegenotstand.

Letztlich sind es Pflegekräfte, aber auch Ärzt*innen, die die Akademisierung der Pflege im praktischen Arbeitsfeld mitbestimmen werden. Gemeinsam müssen wir uns für erweiterte und neue Aufgabenfelder in der Pflege einsetzen, damit sich die Praxis neu strukturieren kann und wir die zukünftigen Herausforderungen meistern können. Wir alle sind das Zünglein an der Waage und wo könnten neue Aufgabenfelder und innovative Verantwortungsbereich im Bereich Pflege besser umgesetzt werden, als in der bereits multiprofessionell und interdisziplinär aufgestellten Palliativversorgung?!

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Ihre Henrikje Stanze

Fakultät 3, Gesellschaftswissenschaften, Fachgebiet „Pflegewissenschaft mit dem, Schwerpunkt Beratung, Schulung, Case und Care Management“, Professorin des Studiengangs Internationaler Studiengang Pflege B. Sc.
Universitätsmedizin Göttingen, Klinik für Palliativmedizin, Forschungsbereich



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Article published online:
27 October 2020

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