Hebamme 2020; 33(04): 20-28
DOI: 10.1055/a-1213-8025
Aktuelles
COVID-19

Aufsuchende Familienbegleitung in der COVID-19-Krise durch Gesundheitsfachkräfte der Frühen Hilfen

Sara Scharmanski
,
Juliane van Staa
,
Ilona Renner
 

Um die aktuelle Arbeitssituation der aufsuchend tätigen Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen und die Lage der Familien während der Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie einschätzen zu können, befragte das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) Familienhebammen sowie Familien- und Gesundheitskinderkrankenpflegende. Die Ergebnisse der Befragung sind in dieser Arbeit zusammengefasst.


#
Zoom Image
Abb. 1 Während der Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie konnte ein großer Teil der Betreuung durch die Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen nur über telefonische Beratung stattfinden. (Foto: Kirsten Oborny – Thieme Gruppe, Symbolbild)

COVID-19 und die Frühen Hilfen

Während der COVID-19-Pandemie in Deutschland – auf der Hochphase des Lockdowns – waren die Frühen Hilfen, deren Angebote wesentlich auf dem persönlichen Kontakt zwischen Hilfe-Erbringenden und den Familien basieren, stark von den Kontaktbeschränkungen betroffen. Diese Kontaktbeschränkungen, die deutschlandweit in der Zeit ab Mitte März 2020 verordnet wurden, beinhalteten im öffentlichen Raum ein Mindestabstandsgebot von 1,5 Metern sowie ein Kontaktverbot von Personen, die nicht im gleichen Haushalt leben. Es wurde empfohlen, die räumliche Nähe zu Personen außerhalb des eigenen Haushaltes so weit wie möglich zu vermeiden und alle nicht medizinisch notwendigen Dienstleistungen wurden untersagt. Zudem beschlossen einige Bundesländer (Bayern, Berlin, Brandenburg, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt) in dieser Zeit strikte Ausgangsbeschränkungen, die das Verlassen der Wohnung nur in Ausnahmefällen zuließen.

Vor diesem Hintergrund scheint insbesondere die aufsuchende, längerfristige Betreuung durch Gesundheitsfachkräfte, die sich vorrangig an Familien in belastenden Lebenslagen wendet, durch die Kontaktbeschränkungen vor große Herausforderungen gestellt worden zu sein. Im Rahmen dieser Betreuungsform finden regelmäßige Termine bei den Familien zu Hause statt. Die Gesundheitsfachkraft berät und unterstützt die Eltern vor Ort bei der Fürsorge, Pflege und Entwicklung ihres Kindes, aber auch bei der Alltagsorganisation. Aspekte des Beziehungsaufbaus und der Interaktion zwischen Eltern, Kind und der Gesundheitsfachkraft sind von zentraler Bedeutung. Wichtig ist der „ganzheitliche Blick“ auf das Familiensystem in vertrauensvoller, wertschätzender Atmosphäre [5] [6].

Mit den kontaktbeschränkenden Vorgaben zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie ist zu vermuten, dass dieser bewährte Ablauf der längerfristigen, aufsuchenden Betreuung nicht aufrechterhalten werden konnte und neue Wege des Zugangs und der Begleitung von Familien gefunden werden mussten.


#

Ziele, Fragestellungen und Methodik

Um Erkenntnisse zu Maßnahmen und Veränderungen in der Betreuungsarbeit sowie zu deren Bewertung durch Fachkräfte und Familien zu gewinnen sowie Unterstützungsbedarfe in dieser Ausnahmesituation zu ermitteln, wurde eine Befragung von Familienhebammen (FamHeb) und Gesundheitskinderkrankenpflegenden (FGKiKP) durchgeführt. Dadurch sollten auch Erkenntnisse darüber gewonnen werden, inwiefern die Gesundheitsfachkräfte in den von ihnen betreuten Familien möglicherweise ein erhöhtes Risiko für Gewalt wahrnahmen, das während der COVID-19-Pandemie gesellschaftspolitisch diskutiert wurde. Des Weiteren sollen die Ergebnisse der vorliegenden Studie im Sinne einer retrospektiven Bewertung der Situation unter COVID-19 einen Beitrag leisten, zukünftig auch unter Einfluss von möglicherweise massiven Kontaktbeschränkungen sekundärpräventive Angebote für Familien in schwierigen sozialen Lebenslagen bestmöglich aufrechterhalten zu können.

Vorgehen

  • qualitative Ad-hoc Befragung

  • Online-Fragebogen mit überwiegend offenen Fragen

  • Feldzeit: 30.03.2020 bis 14.04.2020

  • Feldzugang erfolgte durch ein „Schneeballsystem“: Fragebogen-Link wurde durch Befragte an Kolleginnen weitergeleitet

Stichprobe

  • finaler Datensatz von N = 58 Befragten

  • teilnehmende Gesundheitsfachkräfte sind in der Hälfte der Fälle (48,3 %, n = 28) angestellt, zu 44,8 % (n = 26) ausschließlich freiberuflich und zu 6,9 % (n = 4) sowohl angestellt als auch freiberuflich tätig

  • größter Teil der angestellten Gesundheitsfachkräfte (82,1 %, n = 23) ist bei einem öffentlichen Träger angestellt

Statistische Analysen

  • Entwicklung eines Kategoriensystems für die Codierung der Aussagen

  • Auswertung mit einer strukturierenden Inhaltsanalyse


#

Ergebnisse für die Betreuungsarbeit von Gesundheitsfachkräften im Kontext der COVID-19-Kontaktbeschränkungen

Verlagerung zu telefonischer Betreuung

In der Hochphase der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie fand im Rahmen der Betreuungstätigkeit von Gesundheitsfachkräften in den Frühen Hilfen eine weitgehende Verlagerung der persönlichen Kontakte auf die telefonische Betreuung statt, Hausbesuche wurden nur noch sehr eingeschränkt durchgeführt. Die Fachkräfte gaben an, dass sie ausschließlich oder überwiegend Telefonberatungen durchführten (52 %) und die Betreuung über häufige, regelmäßige Telefonate, auch in kürzeren Abständen (22 %) oder auch per Videochat, E-Mail, SMS (14 %) aufrechterhalten wurde. Die Anzahl der Hausbesuche reduzierte sich entsprechend (21 %) und wurde auf die dringendsten Fälle beschränkt. Persönliche Besuche bei den Familien fanden nur noch in Ausnahmefällen, bei stark belasteten Familien oder zur Krisenintervention, statt (19 %). Wenn Hausbesuche durchgeführt wurden, dann nur mit Schutzausrüstung und unter Beachtung der Abstands- und Hygieneregeln (21 %).


#

Bewertung der Kontaktbeschränkungen

Auch wenn viele Gesundheitsfachkräfte betonten, dass sie die einschränkenden Maßnahmen im Kontext der COVID-19-Pandemie für angebracht und notwendig erachteten (19 %), gaben auch viele Befragte an, dass sie die Situation als sehr herausfordernd, belastend und „nicht zufriedenstellend“ (#35) empfanden (26 %).Wesentlich hierfür war die Einschätzung, dass die Betreuungsqualität leide und die Familien nicht intensiv begleitet werden könnten (22 %); es fehle der persönliche Kontakt und „das direkte Erleben der Familie“ (#53), das über einen telefonischen Kontakt so nicht möglich sei (21 %). Zudem berichteten einige Fachkräfte von der Sorge, in den Familien etwas zu „übersehen“ (#18), weil der „Blick auf das Kind“ (#53) fehle (14 %).

Die folgenden Aussagen verdeutlichen den Zwiespalt zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit der einschränkenden Maßnahmen einerseits und der Sorge um die betreuten Familien (und auch sich selbst) andererseits:

„Ich halte die Kontaktverbote aus medizinischer Sicht zwar für sinnvoll, aber aus psycho-sozialer Sicht für sehr gefährlich.“ (#39)

„Die Angst ist immer ein Begleiter. Angst, sich bei den Familien zu infizieren oder den Virus zu verbreiten. Auch die Angst, sich nicht genügend um die Familie zu kümmern, da wir auch so kurz wie möglich uns aufhalten sollen.“ (#34)

„Telefonische Beratung ist sehr schwierig, Signale vom Kind können nicht beobachtet werden, den Angaben der Mutter / Eltern soll Glauben geschenkt werden – müssen nicht der Wahrheit entsprechen! Eine Einschätzung zur Entwicklung und Bindung ist z. Zt. nicht möglich.“ (#20).


#

Akzeptanz der Veränderungen bei den Familien

Auch die betreuten Familien zeigten nach Aussagen der Gesundheitsfachkräfte überwiegend Verständnis und akzeptierten die Veränderungen in der Betreuungsarbeit (50 %). Viele Fachkräfte berichteten, dass die telefonische Betreuung von den Familien gut und häufig angenommen wurde und die Familien dankbar für den Austausch waren (40 %). Zum Teil wurde der telefonische Kontakt von den Familien aus Sorge vor einer Ansteckung sogar gegenüber dem Hausbesuch präferiert (12 %). Trotz dieses positiven Stimmungsbildes schilderten die Fachkräfte auch Verunsicherungen, Hilflosigkeit und Angst (26 %) auf Seiten der Familien, sowie Überforderung (10 %) und Enttäuschung über ausbleibende Hausbesuche (12 %). Die folgenden Aussagen verdeutlichen exemplarisch sowohl die Dankbarkeit für die telefonische Unterstützung als auch Sorgen und Unsicherheiten, die die Gesundheitsfachkräfte in den Familien wahrnahmen:

„Die Reaktionen der Familien haben ein breites Spektrum: Verständnis, Disziplin, Hoffnung, Unsicherheit / Angst / Panik, Stress, Überforderung, Unvernunft. Viele Familien zeigen sich dankbar für die Unterstützung, bedeutet Sicherheit und Anteilnahme.“ (#16)

„Die Eltern haben alle Verständnis für die getroffenen Maßnahmen, sind aber oft überfordert, da sie keine Ressourcen mehr aktivieren können. Soweit Unterstützung am Telefon möglich ist, sind sie sehr dankbar.“ (#39)

„Die Familien verstehen die Maßnahmen, auch wenn sie sich mehrheitlich einen direkten Kontakt zur Fachkraft wünschen.“ (#66)


#
#

Ergebnisse für die familiäre Situation im Kontext der COVID-19-Kontaktbeschränkungen aus Sicht von Gesundheitsfachkräften

Neben ihrem beruflichen Alltag schilderten die Gesundheitsfachkräfte, wie sie die Situation in den von ihnen betreuten Familien zur Hochphase der Kontaktbeschränkungen wahrgenommen haben.

Sorgen und Belastungen der Familien

Gefragt nach den drängendsten Sorgen und Problemen der Familien gaben die Gesundheitsfachkräfte an, dass vor allem finanzielle und existenzielle Belastungen für die Familien am bedeutsamsten sind (26 %): „existenzielle Ängste“ (#39), Sorgen um die „finanzielle Absicherung des Lebensunterhaltes“ (#49) oder auch Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Erschwerend kamen in diesem Zusammenhang geschlossene Ämter und verzögerte Antragstellungen hinzu (10 %). Ähnlich häufig gaben die Gesundheitsfachkräfte Überforderung als ein drängendes Problem in den von ihnen betreuten Familien an. Dies war aus Sicht der Fachkräfte darauf zurückzuführen, dass die ganze Familie inklusive der Kinder permanent zuhause war (22 %), die Kinderbetreuung (19 %) bzw. andere Unterstützungen (17 %) wegbrachen und der Alltag von den Familien komplett alleine bewältigt werden musste (17 %). Die Familien sorgten sich zudem um Konflikte (19 %) und die wenigen Rückzugsmöglichkeiten (12 %).

Die Sorgen und Belastungen der Familien, die die Gesundheitsfachkräfte im Rahmen der Befragung schilderten, spiegeln sich u. a. in folgenden Aussagen wieder:

„Kinderbetreuung fällt weg, man darf nicht auf die Spielplätze … Die Belastungen für die Familien sind größer. Sie bräuchten zum Teil eher mehr Unterstützung als weniger.“ (#23)

„[…] Familie ist die ganze Zeit auf meist engem Raum zusammen. Fehlende Tagesstruktur.“ (#39)

„Starke Nerven zu bewahren, vor allem dann, wenn noch größere Kinder, die grade nicht in Schule oder Kita sind, zu Hause sind.“ (#27)

Hinzu kamen aus Sicht der Gesundheitsfachkräfte Unsicherheiten bezüglich der Präventionsmaßnahmen (16 %) sowie Angst vor Ansteckung mit COVID-19 (12 %) und die Ungewissheit, wie lange der Zustand noch anhalten würde (21 %).


#

Bewältigungsstrategien

Auf die Frage nach den Bewältigungsstrategien der Familien zeichnen die Gesundheitsfachkräfte unterschiedliche Bilder. So gaben die Gesundheitsfachkräfte häufig an, dass die Familien teilweise „ihre Ressourcen nutzen“ und „sich wieder vermehrt telefonisch vernetzten“ (#13) – sowohl zu Familienmitgliedern und Freunden (14 %) als auch zu der Gesundheitsfachkraft (16 %). In einigen Familien beobachteten die Fachkräfte auch eine Entschleunigung, reduzierten Alltagsstress, einen Zugewinn an gemeinsamer Familienzeit (12 %) sowie eine Stärkung des Familienzusammenhalts, der auch Freiräume ermöglichte (9 %), wie die folgenden Aussagen verdeutlichen:

„Manche Familien genießen es auch weniger Termine zu haben […]. Manche Familien trauen sich plötzlich mehr selbst zu – und das stärkt sie, denn sie schaffen vieles mit weniger Unterstützung als bisher.“ (#4) „Je nach Resilienz schaffen es manche, auch etwas Positives in allem zu sehen und nutzen die gemeinsame Zeit, soweit sie es können.“ (#25)

Die häufigste Bewältigungsstrategie, die Gesundheitsfachkräfte während der Kontaktbeschränkungen beobachteten, war jedoch eine verstärkte Mediennutzung (21 %). Die Familien reagierten teilweise auch mit „Resignation“ und „lebten in den Tag hinein“, während andere „gute Strukturen mit Zeitplan“ entwickelten (#28), einen Alltagsrhythmus beibehielten oder aufbauten (10 %).


#

Konflikt- und Gewaltrisiko

Während der COVID-19-Pandemie wurde gesellschaftspolitisch auch das Risiko für möglicherweise ansteigende Gewalt in den Familien diskutiert. Aus diesem Grund wurde offen gefragt: „Welche Risiken bzw. Gefahren sehen Sie aufgrund der Corona Krise insbesondere für Familien in belastenden Lebenssituationen?“ Die meisten Fachkräfte gaben hierzu an, dass sie ein höheres Risiko für Gewalt und Aggressionen befürchten (45 %) und dass (bestehende) Konflikte als Folge von Überforderung und Belastung verstärkt werden bzw. eskalieren könnten (43 %).

Die Frühen Hilfen bewegen sich auch an der Grenze zum Kinderschutz. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass knapp ein Viertel der befragten Gesundheitsfachkräfte während der Kontaktbeschränkungen die Befürchtung hatte, dass es verstärkt zu Kindeswohlgefährdungen, Verwahrlosung und Vernachlässigung von Kindern kommen könne (24 %), auch weil externe Unterstützung und Kontrolle fehle. So berichtete eine Fachkraft:

„Dass Sorgen untergehen, Familien sich allein gelassen fühlen, dass Kinder nicht ausreichend geschützt werden, Stress / Depression zunimmt und niemand ein Auge drauf hat.“ (#65)

Eine weitere Person spricht vom „fehlendem Blick der Kitas / Schulen“ (#27). Soziale Isolation (17 %), finanzielle Sorgen und ein Alltag ohne Betreuung und externe Unterstützung (16 %) stellten aus Sicht der Gesundheitsfachkräfte eine große Gefahr für Familien in belastenden Lebenslagen dar, wie es eine Gesundheitsfachkraft zusammenfassend beschrieb:

„[…] Familien mit wenig Ressourcen stehen vor besonderen Herausforderungen, konnten schon unter normalen Umständen ihr Leben nur mit Unterstützung bewältigen, diese Unterstützungen fallen nun z. T. ganz oder teilweise weg und die Familien sind komplett auf sich allein gestellt. […].“ (#3)

Beispielhaft hier einige weitere Aussagen, die das wahrgenommene Konflikt- und Gewalt-Risiko in den Familien verdeutlichen:

„Die Familien sind ein ganzes Stück allein gelassen, […]. Die angespannte Situation und vor allem die Angst könnte zu mehr Aggression führen.“ (#44) „Emotionale Überlastung in den Familien, welche zu Konflikten führt. Hochbelastete Familien sind für einen längeren Zeitraum auf engem Raum zusammen […]. Konflikte können eskalieren, vermehrt häusliche Gewalt gegen Mitglieder der Familie, Missbrauch / Misshandlung von Kindern.[…].“ (#3)

Auch psychische Erkrankungen und Suchtproblematiken (16 %) verstärkten sich aus Perspektive der Gesundheitsfachkräfte während der Kontaktbeschränkungen, was sich exemplarisch in folgender Aussage widerspiegelt:

„[…] Schon vorher dagewesene Überlastung verstärkt sich, psychische Probleme verstärken sich in Isolation.“ (#5)

Das multifaktorielle Geschehen, das im Ergebnis zu einem erhöhten Risiko für häusliche Gewalt und Kindeswohlgefährdung führen könnte, wurde von den Fachkräften zum Teil sehr differenziert geschildert, wie diese Aussagen verdeutlichen:

„Die Belastungen in den Familien werden vermutlich noch steigen, sich zuspitzen!! […] Familien mit Gewaltthematik haben geringere Ressourcen der Stressbewältigung, Wahrscheinlichkeit der erneuten / akuten Situation von Übergriffen steigt enorm! ASD [Allgemeiner Sozialer Dienst] hat persönliche Kontakte ebenso auf ein Minimum beschränkt, mögliche latente Familien könnten,übersehen‘ werden!?“ (#14)

„Jede Familie ist momentan extrem belastet, und belastete Familien erst recht. Sie sollen sich mitkümmern um die Schule ihrer größeren Kinder, haben große Geldsorgen, müssen ihre Kinder momentan komplett alleine versorgen, haben kaum bis keine Unterstützung. Dadurch steigt der Stresslevel enorm … die Gefahr der Kindeswohlgefährdung steigt und die Gefahr der Verwahrlosung von Kindern.“ (#58) „Die Überforderung der Eltern, den ganzen Tag mit ihren Kindern zusammen zu sein. Es wird den ganzen Tag ferngesehen, Computer oder Handy gespielt. Zu wenig Bewegung. Erhöhte Aggression und Gewaltgefahr!“ (#19)


#

Maßnahmen zur Gewaltprävention

Um einem möglicherweise erhöhten Risiko für Gewalt in den Familien zu begegnen, sahen sich die Fachkräfte vor allem selbst in der „Pflicht“ bzw. betonten die Wichtigkeit von Begleitung und Unterstützung der Familien. Neben der Möglichkeit, bei Bedarf weiterhin Hausbesuche durchführen zu können (33 %), wurde eine engmaschige, regelmäßige Betreuung der Familien als zentral angesehen (28 %). Beispielhaft hier eine Aussage:

„In diesen Familien [darf] der Hausbesuch höchstens reduziert, aber auf keinen Fall komplett gestrichen werden.“ (#23)

Dabei schätzten die Gesundheitsfachkräfte vor allem das Angebot entlastender Telefonate bzw. das Signalisieren von Gesprächsbereitschaft und Erreichbarkeit (25 %) als sehr wichtig ein. Zum Beispiel:

„[…]. Die Familien wissen lassen, wir lassen euch jetzt nicht alleine.“ (#62)

„[…] Ich bin für diese Familien bis spät abends telefonisch erreichbar.“ (#48).

In der konkreten Arbeit mit den Familien war aus Sicht der Fachkräfte vor allem die Vermittlung von Entspannungsstrategien (22 %) und Tagesstrukturen (14 %) von großer Bedeutung sowie auch die Bewegung an der frischen Luft (14 %). Strukturell betonten die Fachkräfte neben der Kooperation zwischen den verschiedenen Professionen (14 %) insbesondere die Bereitstellung von Informations- bzw. Notfallnummern für die Familien sowie die Schaffung von (Not-)Betreuungsplätzen für die Kinder (jeweils 11 %). Eine Gesundheitsfachkraft fasste die Hilfestellungen, die das Risiko für Gewalt reduzieren könnten, wie folgt zusammen:

„Engmaschige Beratung / Begleitung der Familien, verbindliche Vereinbarungen treffen, Thematisierung der Sorge, […] Möglichkeiten für Entlastung, Entwickeln von Notfallplänen.“ (#4).

INFO

Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen

In Deutschland leben ca. 13 % der Familien mit jungen Kindern unter Bedingungen, die durch vielfältige und häufig kumulierte Belastungen gekennzeichnet sind [2]. Diese familiären Belastungslagen (z. B. Armut, soziale Isolation oder psychische Erkrankung eines Elternteils) können dazu beitragen, dass Eltern Erziehungskompetenzen nicht ausreichend entwickeln [1] [14]. Familiäre Armutslagen und andere psychosoziale Belastungen scheinen die Chancen auf eine gesunde und gewaltfreie Entwicklung der Kinder zu reduzieren [3] [4] [8].

Die sekundärpräventiven Angebote der Frühen Hilfen zielen darauf ab, Entwicklungs- und Gesundheitschancen von Familien und Kindern in psychosozial belastenden Lebenslagen zu verbessern. Zu diesem Zweck arbeiten Akteure des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe sowie weitere Akteure in der Lebenswelt von Familien in kommunalen Netzwerken Frühe Hilfen sektorübergreifend zusammen [10].

Ein zentrales Angebot Früher Hilfen ist die längerfristige aufsuchende Betreuung durch Gesundheitsfachkräfte, die als Familienhebammen (FamHeb) und Familien- und Gesundheitskinderkrankenpflegende (FGKiKP) an der Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe tätig sind. FamHeb und FGKiKP sind staatlich examinierte Hebammen und Kinderkrankenpflegende mit einer Zusatzqualifikation, die sie besonders dazu befähigt, Familien zu unterstützen, die Kinder unter psychosozial belastenden Umständen versorgen und erziehen.

Seit 2012 fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) mit der „Bundesinitiative Frühe Hilfen“ und seit 2018 mit der „Bundestiftung Frühe Hilfen“ den bundesweit flächendeckenden Auf- und Ausbau Früher Hilfen in Deutschland [7]. Aktuell wird die längerfristige aufsuchende Betreuung durch Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen deutschlandweit in nahezu allen Kommunen vorgehalten [9] und das Angebot wird von den Familien auch in Anspruch genommen [2]. Des Weiteren liegen Hinweise vor, dass die Betreuung durch Gesundheitsfachkräfte zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenzen beiträgt [11] [13].


#
#

Diskussion

Die vorliegende Befragung ermöglichte in der Hochphase der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie einen explorativen Einblick in den veränderten Berufsalltag der Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen und die Lebenssituation von Familien in schwierigen sozialen Lebenslagen.

Die Befragung stieß trotz des kurzen Zeitfensters und der geringen Vorlaufzeit bei den Gesundheitsfachkräften auf große Resonanz, was sich aus der hohen Zahl an Teilnehmenden und den umfangreichen inhaltlichen Antworten in den Freitextfeldern ableiten lässt. Dies spricht für die Dringlichkeit des Themas, ein großes Mitteilungsbedürfnis auf Seiten der Fachkräfte und einen hohen Handlungsdruck zum Zeitpunkt der Erhebung. Auch die Strategie des Feldzugangs über das „Schneeballsystem“ hat sich mit der hohen Anzahl an Fachkräften, die auf diesem Weg kurzfristig für die Befragung gewonnen werden konnten, als erfolgreich erwiesen.

Limitierend sei erwähnt, dass die hier beschriebenen Befunde der Ad-hoc Befragung rein explorativen Charakter haben und kein repräsentatives Abbild der Situation von psychosozial belasteten Familien während der COVID-19-Pandemie darstellen. Da es sich zudem bei den Angaben zu den Familien um Fremdurteile handelt, können verzerrende Antworttendenzen nicht ausgeschlossen werden. Des Weiteren ist anzunehmen, dass sich auch individuelle Unsicherheiten und Ängste in den Aussagen der Gesundheitsfachkräfte widerspiegeln.

FAZIT

Die vorliegende qualitative Studie liefert Hinweise auf ein multifaktorielles Belastungsgeschehen von Familien in schwierigen sozialen Lebenslagen im Kontext der COVID-19-Kontaktbeschränkungen, wie es von den Gesundheitsfachkräften wahrgenommen wurde. Gerade Familien, die bei der Bewältigung des Alltags und bei Fürsorge- und Erziehungsaufgaben auf externe Unterstützung angewiesen sind, scheinen stark von den Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie betroffen gewesen zu sein, da externe Hilfen nicht mehr im gewohnten Umfang bereitgestellt werden konnten. Aus Sicht der Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen bestand nicht die Möglichkeit, die notwendige Betreuung der Familien im Hinblick auf Quantität (der wichtigen persönlichen Kontakte) und Qualität (Verlagerung auf telefonische Beratung) aufrechtzuerhalten.

Die Ergebnisse der Befragung verdeutlichen, dass gerade in gesellschaftlichen Krisen-Situationen wie einer Pandemie die Betreuungstätigkeit von Gesundheitsfachkräften in den Frühen Hilfen unverzichtbar ist: Insbesondere Familien in schwierigen sozialen Lebenslagen sind – noch mehr als sonst – mit Herausforderungen konfrontiert und aufgrund ihrer oft nur geringen Bewältigungsressourcen gerade dann auf Unterstützung angewiesen. Um für zukünftige vergleichbare Situationen gut gerüstet zu sein, müssen das multifaktorielle Belastungsgeschehen in einer Krisensituation sowie die daraus resultierenden Unterstützungsbedarfe von Familien in schwierigen sozialen Lebenslagen explizit in den Blick genommen werden. Dies setzt voraus, dass sekundärpräventive Angebote für Familien auch unter massiven Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen aufrechterhalten werden müssen.

In der COVID-19-Pandemie wurden die Förderrichtlinien der Bundesstiftung Frühe Hilfen dahingehend angepasst, dass zusätzlich zu den bisherigen Angeboten auch die Möglichkeit besteht, Unterstützungsangebote für Eltern über andere Formate bzw. Medien durchzuführen und abzurechnen, so z. B. Telefon-, Video- und Online-Beratung. Zudem bedarf es eines einheitlichen und stringenten Konzeptes inklusive klarer Handlungsempfehlungen und Richtlinien für die längerfristige aufsuchende Betreuung in den Frühen Hilfen. Dieses Konzept sollte präzisieren, in welchen Fällen und unter welchen Bedingungen Hausbesuche stattfinden sollen bzw. müssen – auch um einer drohenden Eskalation von intrafamiliären Konflikten und Kindeswohlgefährdung vorzubeugen.

Über Fragen im Zusammenhang mit einer digitalen Betreuung als zusätzlicher Kontaktmöglichkeit zu Familien sollte nachhaltig diskutiert werden. Hier gilt es, insbesondere Aspekte des Datenschutzes und der technischen Ausstattung sowohl der Gesundheitsfachkräfte als auch der Familien in den Blick zu nehmen. Zudem sollte in Fachkreisen eine kritische Auseinandersetzung darüber erfolgen, in welchen Stufen des Betreuungsprozesses digitale Zugänge und Konzepte sinnvoll und gewinnbringend eingesetzt werden können, aber auch wo ihre Grenzen sind.

Nicht zuletzt scheint es unabdingbar, auch während massiver Kontakteinschränkungen zur Eindämmung einer Pandemie Anlaufstellen und Unterstützungsangebote auf kommunaler Ebene für Familien in schwierigen Lebenslagen offen zu halten und deren Erreichbarkeit zielgruppenspezifisch zu kommunizieren. Während der Pandemie wurden Familien mit einer bundesweiten Postkarten-Aktion des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und des NZFHs über Beratungsangebote für Eltern informiert. Diese Beratungsangebote sind telefonisch und online erreichbar und damit – gerade in Krisensituationen – leicht zugänglich, anonym und kostenfrei. Zusätzlich besteht für Kommunen die Möglichkeit, über eine anpassbare Version der Postkarte Familien über drei lokale Beratungsangebote zu informieren.

Für die Erreichbarkeit von Familien ist es zudem von zentraler Bedeutung, die Vernetzung aller relevanten Akteure in den Kommunen fortzuführen und zu intensivieren.

Es ist anzunehmen, dass erst in der retrospektiven Betrachtung belastbare Erkenntnisse darüber vorliegen werden, zu welchen (möglicherweise längerfristigen) Auswirkungen die Kontakteinschränkungen auf Seiten der Familien und Kinder in schwierigen sozialen Lebenslagen geführt haben. Im Sinne eines „Lessons learned“-Ansatzes sollten Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie kritisch analysiert und interpretiert werden und zur Vorbereitung auf zukünftige, vergleichbare Ereignisse oder Krisen genutzt werden. Denn nur so können sekundärpräventive Angebote zur Förderung einer gesunden und gewaltfreien Entwicklung von Kindern auch unter schwierigen gesellschaftlichen Verhältnissen aufrechterhalten werden.

Über diesen Artikel

Die Studie wurde vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) aus Mitteln der Bundesinitiative Frühe Hilfen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) durchgeführt. Das NZFH wird getragen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI).

Die Autorinnen bedanken sich sehr herzlich bei den teilnehmenden Fachkräften für ihre Zeit und ihr Vertrauen. Sie bedanken sich auch bei den folgenden Kolleginnen, die sie beim Feldzugang tatkräftig unterstützt haben: Prof. Dr. Elisabeth Holoch, Elke Mattern, Katrin Schaub, Alexandra Preßler und Silke Metzler.


#
#
#

Autorinnen / Autoren

Sara Scharmanski ist Wissenschaftliche Referentin am Nationalen Zentrum Frühe Hilfen in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln.

Juliana van Staa ist Wissenschaftliche Referentin am Nationalen Zentrum Frühe Hilfen in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln.

Ilona Renner ist Wissenschaftliche Referentin am Nationalen Zentrum Frühe Hilfen in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln.


Korrespondenzadresse

Juliane van Staa
Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH)
in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Maarweg 149–161
50825 Köln

Publication History

Article published online:
24 August 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


Zoom Image
Abb. 1 Während der Kontaktbeschränkungen durch die Corona-Pandemie konnte ein großer Teil der Betreuung durch die Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen nur über telefonische Beratung stattfinden. (Foto: Kirsten Oborny – Thieme Gruppe, Symbolbild)