Die Buzzwords der Digitalisierung sind in aller Munde: Ob Homeoffice, Cloud-Working,
Videokonferenzen oder virtuelle Kongresse, die neuen digitalen Möglichkeiten haben
dazu beigetragen, die Folgen der Coronapandemie für weite gesellschaftliche Bereiche
abzufedern. Die kontaktbeschränkte digitale Gesellschaft zur neuen Normalität zu erklären
ist jedoch verfrüht. Zu tief verwurzelt ist das menschliche Bedürfnis nach sozialer
Nähe und unmittelbarer Erfahrung, welches sich durch digitale Formate nicht erfüllen
lässt.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten wahrscheinlich alle – freiwillig oder
unfreiwillig – Erfahrungen mit dem Arbeiten im Homeoffice, mit Gremien- und Teamsitzungen
per Videokonferenz und vielleicht auch schon mit Webinaren und virtuellen Konferenzen
gesammelt. Während die Auswirkungen der Coronakrise gezeigt haben, wo virtuelle Formate
echte Meetings sinnvoll ergänzen können, macht der Ausnahmezustand doch auch die Grenzen
digitaler Lösungen besonders deutlich.
Der Zufall lässt sich nicht digitalisieren
Der Zufall lässt sich nicht digitalisieren
Tagungen, Konferenzen und Kongresse sind für viele ein Höhepunkt im Berufsalltag.
Sie sind eine willkommene Abwechslung, der Ausbruch aus der Alltagsroutine löst bei
vielen einen regelrechten Motivationsschub aus. Auf Kongressen findet sich alles an
einem Ort, die geballte Ladung an Fachwissen, Eindrücken und Meinungen, die gesamte
Breite und Vielfalt des Fachs, was sie zur optimalen Plattform für die fachliche Fort-
und Weiterbildung macht. Aber auch das kulturelle Rahmenprogramm, das Kennenlernen
einer fremden Stadt und insbesondere zwischenmenschliche Begegnungen tragen zur Attraktivität
von Kongressen bei. Sei es das Treffen von Experten nach einem Vortrag, das Wiedersehen
von alten Kollegen oder neue Bekanntschaften. Hier begegnet man Experten, Chefs und
Kollegen auf Augenhöhe. Im vertraulichen persönlichen Gespräch am Rande der Veranstaltungen
tauscht man sich über Referenten und Vorträge, aber auch über die Herausforderungen
im Berufsalltag aus. Auch kommt man mit Menschen in Kontakt, mit denen man sonst keine
Gelegenheit zum Austausch hätte: Neben den Koryphäen des Fachs z. B. mit Vertretern
von Selbsthilfe, Kostenträgern, Politik und Industrie. Es ist sicht- und spürbar,
dass sie alle trotz unterschiedlichster Hintergründe das gemeinsame Interesse an einer
guten psychiatrischen Versorgung eint. So kann ein Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl
entstehen, das vielen Teilnehmern noch Wochen und Monate Kraft für den nicht immer
einfachen Berufsalltag spendet.
Auch spielt die Zufälligkeit von Begegnungen und Erfahrungen eine große Rolle. Der
Verlauf eines Kongresses lässt sich nicht planen. Die Verantwortung kann am Eingang
abgegeben werden, ab hier wird man geführt und kann sich treiben lassen. Unabhängig
von geplanten Fortbildungen sammelt man an jeder Ecke neue Eindrücke und Ideen. An
Zufallsbekanntschaften und ungeplante Vorträge erinnert man sich im Nachhinein besonders
gern.
Besondere Momente durch unmittelbare, geteilte Erfahrung
Besondere Momente durch unmittelbare, geteilte Erfahrung
Ein Kongress-Saal mit Hunderten Wissbegierigen, Spannung liegt in der Luft, dann raschelt
das Mikrofon, ein Räuspern, der lang ersehnte Vortrag beginnt. Auf Konzentration folgt
Entspannung, Lachen, Stille, am Ende tosender Applaus und Standing Ovations. Wenn
diese Beschreibung etwas in Ihnen auslöst, dann ist dies die tiefsitzende Erinnerung
an die Atmosphäre besonderer, denkwürdiger Kongressmomente, welche Sie mit allen Sinnen
erlebt haben. Solche Momente können nur durch die Unmittelbarkeit der geteilten Erfahrung
in einem Resonanzraum mit physischer Präsenz entstehen. Große Geschichten werden in
Videokonferenzen eher nicht geschrieben.
Virtuelle Formate können ergänzen, nicht ersetzen
Virtuelle Formate können ergänzen, nicht ersetzen
Die bisherigen Anmerkungen machen deutlich, warum digitale Formate Präsenzveranstaltungen
allenfalls ergänzen können und niemals ersetzen werden. Dafür spricht auch, dass es
in einem virtuellen Format wie beispielsweise einer Videokonferenz oder einem Webinar
für einen Referenten nahezu unmöglich ist, die Stimmung der Teilnehmer so einzufangen
und darauf zu reagieren, wie dies beim Vortrag mit Präsenzpublikum möglich wäre. Unterschwellige
Rückmeldungen, ein promptes „Stimmt“, ungeduldiges Zucken, ein ablehnendes Kopfschütteln,
können von Referenten oder Moderatoren nicht einbezogen werden. Dies wird durch die
„Mikro-Aus-Doktrin“ in Videokonferenzen noch verschärft. Ohne einen solchen Resonanzraum
(Grummeln, Lachen, Augen-Rollen) sinkt die Motivation zu spritzigen, provokanten oder
humorvollen Thesen beim Referenten. Und selbst wo Teilnehmer ein hör- oder sichtbares
Feedback geben können, verlangen die durch die Übertragung entstehenden Latenzen den
Teilnehmern einiges an Geduld ab. Dies erschwert die Kommunikation erheblich und führt
u. a. dazu, dass ein engagierter Schlagabtausch oftmals nicht gelingen mag und (notwendige)
Debatten zu selten stattfinden. Auch sind die Nutzer virtueller Angebote mit sich
und dem PC alleine, während Lernen ein sozialer und nicht nur technischer Prozess
sein sollte. Aus Veranstaltersicht bilden digitale Formate den organisatorischen Aufwand
dahinter nicht ab, die vielen beteiligten Helfer bleiben unsichtbar. Dies mindert
die wahrgenommene Wertigkeit des Erlebnisses, es wird austauschbar und schlimmstenfalls
sogar beliebig. Das spiegelt sich häufig darin wider, dass Kunden trotz qualitativ
hochwertiger Inhalte und teurer Produktion nicht bereit sind, für digitale Inhalte
angemessene Preise zu zahlen.
Typisches Kongresserlebnis digital nicht abbildbar
Typisches Kongresserlebnis digital nicht abbildbar
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das typische Kongresserlebnis in all seinen
fachlich-inhaltlichen und zwischenmenschlichen Facetten digital nicht abbildbar ist.
Der Kongress lebt von der Unmittelbarkeit des gemeinsamen Erlebnisses. Der Charme
des Klassentreffens und der vielen zufälligen Begegnungen ist nicht ersetzbar. Der
große Vorzug eines Präsenzkongresses, alles und alle zur selben Zeit an einem Ort,
geht verloren. Virtuelle Tagungen sind besser als keine, aber eine gewisse digitale
Übersättigung und der Hunger auf „echte“ Beteiligung sind schon deutlich spürbar.
So werden der DGPPN Kongress 2020 und die diesjährigen Hauptstadtsymposien, welche
pandemiebedingt virtuell stattfinden, das Beste davon bieten, was die heutigen digitalen
Möglichkeiten hergeben. Bewährte Formate wie Lectures, State-of-the-Art-Symposien,
Meet-the-Expert-Sessions, E-Poster und besondere Vorträge von hochkarätigen Persönlichkeiten
werden in kompakten und interaktiven Online-Formaten an mehreren Kongresstagen Ende
November präsentiert. Dies ist aber nicht als neue Normalität gedacht, sondern ausdrücklich
als eine den Umständen geschuldete Ausnahme. Umso mehr darf man sich auf die vielen
geplanten und ungeplanten persönlichen Begegnungen, die kleinen und großen Höhepunkte
und die besonderen Momente zukünftiger Präsenzkongresse freuen.
Hinweis: Dieser Artikel stellt die Meinung der Autoren dar und spiegelt nicht notwendigerweise
die Meinung des DGPPN-Vorstands wider.