Placebo-Definition des NIH
Zahlreiche wissenschaftliche Forschungsarbeiten belegen, dass Placebos ein erhebliches
Heilungspotential besitzen. Die aus Placebo-Therapien resultierenden positiven Effekte
werden zumeist als „unspezifisch“, „psychologisch“ oder „psychophysiologisch“ bezeichnet
[1], [2], [3].
Man kann Placeboeffekte allerdings auch anders verstehen. Nach intensiver Diskussion
definierte eine Expertengruppe des US-amerikanischen ‚National Institute of Health‘
(NIH) im Jahr 2002 den Begriff Placeboeffekte durch „positive Heilungseffekte“ [4]. Diese ergeben sich aus der Nutzung irgendeiner therapeutischen Maßnahme und/oder
kommen durch die symbolische Bedeutung einer Intervention für den Patienten zustande.
In gleicher Weise definiert das ‚National Center for Complementary and Integrative
Health‘ den Placeboeffekt [5].
Neurobiologie Bei einem Placeboeffekt existiert neben Konditionierungseffekten eine sehr enge Beziehung
zwischen dem Induzieren von Erwartungen, der Wirkung auf unterschiedliche Hirnregionen
und folglich auf Transmittersysteme [6]. Die Erwartungsinduktion beim Placeboeffekt gehört zu den wenigen psychologischen
Phänomenen, welche so gut erforscht und neurobiologisch erklärt werden können.
Zusatzinfo
Volkswirtschaftlicher Aspekt
Placeboeffekte sind volkswirtschaftlich von großer Bedeutung. Einerseits sparen sie
kaum abschätzbare Beträge bei der Therapie von Schmerzpatienten ein, andererseits
verschlingen Placeboeffekte immense Summen, weil jedes neue Pharmakon seine Effizienz
gegenüber Placebos im Doppelblindverfahren belegen muss.
Klinische Bedeutung
Die Placebo-Definition des NIH ist aus mehreren Gründen klinisch hoch bedeutsam. Erstens
werden Placeboeffekte als eigenständige therapeutische Kategorie definiert, wodurch
eine Unterteilung in „spezifische“ und „unspezifische“ Effekte entfällt. Zum Zweiten
werden Placeboeffekte als positiv anerkannt. Drittens werden die Effekte theorieunabhängig
gesehen. Damit unterstellt die NIH-Definition keinerlei Annahmen zu den Ursachen der
Therapiewirkung. Viertes resultieren Placeboeffekte aus Sicht des Patienten hinsichtlich
der Behandlung, woraus sich ihre nachgewiesene individuelle Variabilität ergibt. Und
schließlich werden unter dem Begriff ‚Placeboeffekt‘ neben pharmakologischen Effekten
nun auch andere Effekte erfasst – so auch die Wirkung eines Behandlers auf seinen
Patienten.
Merke
Konsequenzen aus der NIH-Definition
Placeboeffekte repräsentieren einen Bestandteil jeder medizinischen Intervention,
weil jede medizinische Intervention eine Interaktion zwischen Therapeut und Patient
beinhaltet. In diesem Sinne muss dann unterschieden werden zwischen dem positiven
Placeboeffekt und seinem „bösen Zwilling“, dem negativen Noceboeffekt.
Einfluss des Therapeuten
Gemäß der NIH-Definition muss es eine kaum kontrollierbare Menge unterschiedlicher
Einflüsse geben, die – durch das Wecken spezifischer Erwartungen, Beobachtungen oder
Konditionierungsreize – Placeboeffekte hervorrufen können [1]. Eine herausragende Rolle hierbei spielt die Interaktion zwischen Therapeut und
Patient. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob nicht die Persönlichkeiten
oder Fähigkeiten von Patienten und Therapeuten letztendlich ausschlaggebend für die
Ausprägung positiver Heilungseffekte sind.
Erklärungsversuche
Irrungen Angesichts der breitgefächerten interindividuellen Varianz von Placeboeffekten wurde
in der wissenschaftlichen Literatur früher die Hypothese aufgestellt, dass das Ausmaß
einer Placebo-Hypalgesie, d. h. einer Reduktion der Schmerzwahrnehmung durch die Gabe
eines Placebo-Präparats, von der Persönlichkeit des Patienten abhängt. Viele a priori
als wesentlich empfundenen Persönlichkeitsvariablen haben tatsächlich jedoch keinerlei
Bedeutung für einen Placeboeffekt. Dazu zählen u. a. demografische Parameter wie das
Geschlecht oder das Alter des Patienten, die Art, Dauer und Dominanz seiner Erkrankung
sowie andere Faktoren wie die soziale Anerkennung oder die diametralen Persönlichkeitseigenschaften
Introversion-Extroversion nach Hans Jürgen Eysenck [7]. Erstaunlicherweise korrelierten selbst die Suggestibilität, Hypnotisierbarkeit
sowie die Absorptionsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer
zu versetzen, nicht
oder nur sehr geringfügig mit dem Ausmaß eines Placeboeffekts.
Korrelationen Dementgegen wurden signifikante Korrelationen zwischen der Ausprägung einer Placebo-Hypalgesie
und der Angst eines Patienten entdeckt. Je mehr Angst ein Patient z. B. vor Schmerzen
hatte, desto ausgebildeter war auch die Placebo-Hypalgesie. Neben den Angstwerten
sind auch andere patientenspezifische Faktoren relevant für die Reduktion der Schmerzwahrnehmung.
So sind der Optimismus eines Patienten und dessen Motivation zur Therapie ebenso bedeutsam
wie sein Glaube, die richtige Medizin zu erhalten. Als weitere Faktoren gelten die
allgemeine Konditionierbarkeit des Patienten sowie seine Vorerfahrungen mit Pharmakotherapien.
Und schließlich beeinflusst auch die Anziehungskraft des Therapeuten, d. h. seine
Attraktivität, Kompetenz und seine Liebenswürdigkeit, einen Placeboeffekt.
Sichtweise des Patienten Howard Brody nannte die „Bedeutung, die der Patient der Krankheit beimisst“ als weiteren
wichtigen Faktor, der drei generelle Unterfaktoren beinhaltet [8]:
-
verständliche und zufriedenstellende Erklärung der Erkrankung durch den Behandler
-
ausreichendes Mitgefühl und adäquate Versorgung
-
Glaube des Patienten an die Überwindung der Symptome oder zumindest deren Kontrolle
Entscheidend für die Wirkung dieser drei Unterfaktoren ist ausschließlich die Sichtweise
des Patienten. Wenn seine Anschauungen positiv beeinflusst werden, können positive
Heilungseffekte generiert werden.
Generierung positiver Heilungseffekte
Konditionierung Positive Heilungseffekte lassen sich aktiv fördern [9]. Dies gelingt mit einfachen Umgebungsvariablen wie etwa einer sauberen Arbeitskleidung
und einem gepflegten Erscheinungsbild, einem ordentlichen Wartebereich, einem gutem
System zur Terminvergabe, kurzen Wartezeiten sowie ausreichenden Parkmöglichkeiten.
Diese zum Teil leicht realisierbaren Details tragen zu einem Placeboeffekt bei, weil
sie ihre Wirkung u. a. über Konditionierungsprozesse entfalten. Wenn ein Patient zum
wiederholten Male eine Praxis mit ansprechendem Ambiente und freundlichen Mitarbeitern
besucht, wirkt dies wie ein konditionierter Stimulus.
Strategien
Noch wichtiger: Die bei der Anamnese gezeigte Warmherzigkeit und das demonstrative
Mitgefühl des Therapeuten sind maßgeblich für die Zufriedenheit und Compliance des
Patienten. Dies wiederum ist von entscheidender Bedeutung für positive Heilungseffekte.
Lege artis können vier Strategien genutzt werden, um Placeboeffekte zur Unterstützung
der Therapie zu generieren. Geeignet sind kognitive, affektive, verhaltenstherapeutische
und soziale Strategien. Zu jeder dieser Strategien lassen sich Unterpunkte differenzieren
[10], [11].
Training Einige US-amerikanische und deutsche medizinische Fach- und Hochschulen bieten spezielle
Trainingsprogramme an, um den Umgang mit diesen Strategien zu erlernen und spezifisch
zu nutzen [12], [13].
Kognitive Strategien
Fragen Sie Ihren Patienten nach seinem Erklärungsbild für seine Krankheit und lassen
Sie ihn wenn möglich ausreden. Über diesen Weg finden Sie schnell einen Zugang, um
die drei von Brody postulierten Unterfaktoren – Erklärung der Erkrankung, Mitgefühl
und Versorgung sowie Glaube an die Überwindung/Kontrolle der Symptome – positiv zu
beeinflussen.
Nur wenn ein Therapeut weiß, wie ein Patient seine Erkrankung deutet, kann er dessen
Erklärung bzw. sein Krankheitsmodell modifizieren. Dadurch gelingt es, (1) das Verständnis
des Patienten für seine Erkrankung zu verbessern, (2) ihm die Art und das Ausmaß der
Versorgung mit Blick auf die Entstehung und den Verlauf seiner Krankheit verständlicher
zu machen, (3) seine positiven Erwartungen hinsichtlich der Therapie zu verstärken
und (4) seinen Glauben an die Überwindung oder Kontrolle der Symptome zu bekräftigen.
Therapieerwartungen Zu den kognitiven Strategien gehören außerdem die Verhandlung und unter Umständen
auch die Umwandlung von Prioritäten und Therapieerwartungen. Unrealistische Therapieerwartungen
führen zwangsläufig zu Enttäuschung und Frustration. Demzufolge ist es elementar,
die an die Behandlung geknüpften Erwartungen frühzeitig und explizit zu erfragen.
Sind die Erwartungen des Patienten unrealistisch, erläutern Sie ihm hierfür die Gründe.
Bilden Sie dazu den Patienten weiter, und legen Sie ihm seine Prognose dar. Nutzen
Sie Erklärungsmodelle mit bildlichen Darstellungen, um ihm zu veranschaulichen, warum
seine Erwartungen an die Therapie wenig realistisch sind.
Systematische Untersuchungen unter Praxisbedingungen ergaben eine erstaunlich geringe
Übereinstimmung der Behandlungsziele und -erwartungen von Therapeuten und Patienten.
Oftmals hegen Patienten versteckte Erwartungen, welche nicht aus ihrer vordergründigen
Symptomatik heraus verstanden werden können. Die angeregte Einbindung eines Patienten
in Therapieentscheidungen verbessert diese Situation deutlich. Folglich ist es zweckdienlich,
einen Patienten bereits in der Anamnese nach seinen Erwartungen zu befragen und diese
gegebenenfalls mit ihm zu verhandeln.
Der Konsens über gemeinsame Behandlungsziele führt zur Wahrnehmung höherer Kompetenz,
er steigert die Verantwortlichkeit beider Seiten für den Therapieerfolg, und er schützt
vor unrealistischen Wunschvorstellungen, deren Nichteintreten einen bereits errungenen
Teilerfolg subjektiv negativ bewerten lässt.
Shared-Decision-Making Ein wesentliches Element der kognitiven Strategie ist das Offerieren von Entscheidungsmöglichkeiten.
Mit Blick auf gemeinsame Therapieziele kann ein Patient in die Auswahl geeigneter
Übungen miteinbezogen werden. Das Darlegen von Entscheidungsmöglichkeiten muss aber
nicht zwingend Bestandteil jeder Behandlung sein. Es gibt sehr häufig Situationen,
in denen die Therapie vom Patienten eine erhebliche Veränderung seiner Lebensgewohnheiten
erfordert. Um dies zu ermöglichen, sollten unbedingt Alternativen für unterschiedliche
Szenarien erörtert werden. Dadurch steigt die Akzeptanz des Patienten für die Therapiemaßnahme
erheblich.
Edukation Zu den Bestandteilen der kognitiven Strategie gehört nicht zuletzt auch die Weiterbildung
des Patienten. Es wurde wiederholt gezeigt, dass die Patientenedukation die Wirkung
von Bewältigungsstrategien verbessert, die Therapiezufriedenheit steigert und die
Compliance erhöht.
Affektive Strategien
Affektive Strategien sind auf den Abbau negativer Emotionen, besonders von Angst,
Depression und Ärger, ausgerichtet. Der Umgang mit diesen Strategien kann erlernt
bzw. deutlich verbessert werden [12], [13], [14].
Zu den affektiven Strategien zählen u. a. das Einfühlungsvermögen und der Zuspruch
des Behandlers, das Vermitteln von Hoffnung, das Beruhigen sowie das Ermuntern des
Patienten zur Darstellung seines emotionalen Zustandes und das Verstärken der Selbstversöhnung.
Das Einfühlungsvermögen ist eine potente therapeutische Intervention. Bereits mit
einfachen Aussagen kann die Interaktion zwischen Patient und Therapeut verbessert
werden, um schneller das Therapieziel zu erreichen.
Verhaltenstherapeutische Strategien
Verhaltenstherapeutische Strategien sollen fehladaptierte Verhaltensrituale und/oder
Bewegungsstereotype dauerhaft ändern. Der Schwerpunkt liegt auf der Betonung der aktiven
Rolle des Klienten. Die Erhöhung der Aktivität verbessert die Kontrollmöglichkeiten
eines Patienten und stärkt seine Kontrollüberzeugungen. Er fühlt sich dann wieder
oder besser in der Lage, seine Symptomatik kontrollieren zu können.
Die verhaltenstherapeutischen Strategien umfassen auch das Aufzeigen alternativer
Bewältigungsstrategien sowie das aufmerksame Verfolgen und Loben des gewünschten Verhaltens.
Soziale Strategien
Soziale Strategien unterstützen die vorgenannten Strategien. Sie zielen auf die Einbeziehung
der Familie des Patienten und seines sozialen Netzwerks ab. Durch familiäres Engagement
kann die häusliche Aktivität gesteigert werden. Andererseits können evtl. vorhandene
operante Mechanismen, welche Schmerzen und/oder Inaktivität fördern, aufgedeckt und
abgebaut werden. Angenehme Aktivitäten mit Partnern oder Kindern können zur Genesung
beitragen, indem sie das allgemeine Aktivitätsniveau und Bewegungsverhalten verbessern.
Fazit
Verschiedene therapeutische Strategien sind geeignet, um die Bedeutung einer Behandlungsmaßnahme
zu unterstreichen und zu verstärken. Gemäß der Placebo-Definition des NIH ist die
Bedeutung, welcher der Patient einer Behandlungsmaßnahme zuspricht, von erheblicher
Relevanz für das Ausmaß zusätzlicher positiver Heilungseffekte.
Mittlerweile liegen zahlreiche Studien vor, welche positive Heilungseffekte mit Blick
auf die Wirkung verschiedener Einflussgrößen aufdecken. Sämtliche Faktoren wirken
letztendlich dadurch, dass sie den Bedeutungsgehalt der Therapie verändern. Hierzu
gehört die weiße Kleidung medizinischen Fachpersonals, die Bewegungsgeschwindigkeit
eines Therapeuten (hektisch vs. ruhig), seine Aussprache, die Art der Untersuchung
(therapeutisch vs. experimentell) sowie gegebenenfalls auch spezifische kulturelle
Einflüsse [15], [16], [17], [18].
„Bedeutungseffekte“ Infolge der Studienlage ist eine Diskussion entbrannt, ob man Placeboeffekte nicht
besser als „Meaning Response“ bzw. „Bedeutungseffekte“ bezeichnen sollte. Wahrscheinlich
wird sich diese Begrifflichkeit nicht durchsetzen – auch weil dadurch Konditionierungsprozesse
nur schwer zu fassen sind. Alles in allem ist es zwingend notwendig und an der Zeit,
Placeboeffekte breiter zu definieren als nur Effekte einer scheinbar wirkungslosen
Medikation. Vielmehr kann man eine Therapie lege artis durch Placeboeffekte zum Wohle
des Patienten bedeutsam unterstützen. Dieses hilfreiche Add-on ist keine eigenständige
Therapieform, sondern entfaltet seine Wirkung im Schulterschluss mit spezifischen
und fundierten Behandlungsmaßnahmen.