Gesundheitswesen 2020; 82(07): 575-577
DOI: 10.1055/a-1195-0143
Editorial

COVID-19: …Order!

Manfred Wildner
 

Die schnarrende Stimme John Bercows, Speaker des Britischen Unterhauses, wird noch eine Weile erinnert werden. Seine „Order!“-Rufe während der hitzigen Brexit-Debatten des Jahres 2019 und sein Verweis auf parlamentarische Regeln aus dem Jahr 1604, welcher eine wiederholte Abstimmung über einen unveränderten Brexit-Antrag verhinderte, verschafften ihm allerdings auch etliche Animositäten. Notwendig waren seine beherzten Zwischenrufe in diesen turbulenten Zeiten allemal, der sonst übliche Sitz im Oberhaus im Anschluss an seine Zeit als Sprecher wurde ihm allerdings verwehrt. Dass die Corona-Krise neue Turbulenzen zeitgleich zu den Austrittsverhandlungen hervorbringen würde, kam für das Vereinigte Königreich ebenso überraschend wie für die Europäische Union. Dass in Deutschland diese turbulenten Zeiten bisher vergleichsweise gut bewältigt wurden – bisher ohne erkennbare Einschränkungen einer bestmöglichen gesundheitlichen Versorgung zumindest bei COVID-19-Patienten – ist eine erhebliche Leistung von vielen. Eine der Stimmen in den COVID-19-Turbulenzen, welche in zeitgeschichtlicher Erinnerung bleiben werden, ist die des Generaldirektors der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Tedros Adhanom Ghebreyesus von Mitte März 2020: „Man kann ein Feuer nicht blind bekämpfen und wir können dieser Pandemie nicht Einhalt gebieten, wenn wir nicht wissen, wer infiziert ist. Wir haben eine einfache Botschaft für alle Länder: testen, testen, testen. Testen Sie jeden Verdachtsfall. Bei einem positiven Testergebnis isolieren Sie diesen und finden Sie die Kontaktpersonen“ [1]. Diese Botschaft verbreitete sich nachfolgend in verkürzter Form als kulturelles Mem „testen, testen, testen“ gleichsam selbst viral über das Internet und andere Kommunikationskanäle. Innerhalb Deutschlands wurde dieser Botschaft jedenfalls entsprochen: Waren in den ersten 10 Kalenderwochen des Jahres 2020 insgesamt 125 000 Abstrichuntersuchungen mittels Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR) vorgenommen worden, wurden bereits einen Monat nach diesem Aufruf wöchentlich etwa 400 000 Testungen durchgeführt. Der Anteil an positiven Befunden sank von etwa 9% um etwa den Faktor 10 auf 1% zwei Monate später [2].


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Manfred Wildner

In der Situation einer beginnenden Pandemie war dieser Aufruf zu umfassenden Testungen auch in seiner verkürzten Form eine zeitgerechte und angemessene Botschaft, als Allheilmittel ist er im weiteren Verlauf allerdings weniger geeignet und bedarf der Ergänzungen. Bei aller unvermeidbaren Turbulenz in der seitherigen Pandemiebekämpfung wünscht man sich bisweilen hinsichtlich der Testungen einen wohlgemeinten Ruf zur Ordnung, auch und gerade um das hohe Engagement und die vielfältige Expertise einer hoch entwickelten Gesellschaft in bestmögliche Synergien zu bringen. Bei dem Mem „testen, testen, testen“ sollten auch die 2 weiteren Kernaussagen der Botschaft im Bewusstsein bleiben: Die Aufforderung, in der Bekämpfung der Pandemie nicht blind zu bleiben, und die Fokussierung auf das gezielte Testen von Verdachtsfällen und ihre infektionsepidemiologische Ab- und Aufarbeitung. Dafür sollte immer das gesamte ergriffene Maßnahmenbündel, die gezielten Infektionsschutzmaßnahmen und Testungen ebenso wie die weitreichenden Maßnahmen des wirtschaftlichen Shutdowns und des gesellschaftlichen Lockdowns, betrachtet werden.

Ein notwendiger Schritt für eine solche verständige Bestandsaufnahme bezogen auf die Teilmaßnahme „Testen“ ist u. a. die Unterscheidung zwischen der Hochprävalenzphase mit täglich vielen Tausend neuen Meldefällen und der nun zu beobachtenden Niedrigprävalenzphase mit nur mehr wenigen hundert Meldefällen mit abnehmender Tendenz. Dies hat in verschiedener Hinsicht Auswirkungen auf die zu verfolgenden Teststrategien. Auch wenn die Meldefälle nach dem Infektionsschutzgesetz eine erste Orientierung geben und ceterum paribus die Dynamik eines pandemischen Infektionsgeschehens abzubilden vermögen, sind sie doch von einer erheblichen Untererfassung geprägt. Am ehesten ist Vollständigkeit für die COVID-19-spezifischen Todesfallmeldungen anzunehmen, welche näherungsweise der Exzessmortalität gegenüber den Vorjahren entspricht. Orientiert an den Ergebnissen an vollständig untersuchten Personenkreisen wie z. B. bei Reiserückholaktionen, Kreuzfahrtschiffen oder lokalen Ausbrüchen [3] [4] [5] lässt sich für Deutschland eine Gesamtzahl jemals Infizierter von etwa 2% in der Bevölkerung abschätzen, andere Schätzungen gehen von nur etwa 1% aus [6]. Dies entspricht mithin einer Erfassung von nur jedem fünften bis zehnten tatsächlichen Fall im Meldesystem nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG). Aus dieser substantiellen Untererfassung ergeben sich Konsequenzen für die weiteren Maßnahmen der Pandemiekontrolle, z. B. hinsichtlich einer massiven personellen wie auch einer stark vernachlässigten technologisch-wissenschaftlichen Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD).

Bieten erweiterte PCR-basierte Testungsangebote an die allgemeine Bevölkerung bzw. an bestimmte Personenkreise eine kurzfristige Lösung? Diese Hoffnung ist bei einer kritischen Überprüfung wenig nachhaltig. Jeder Test ist zum einen hinsichtlich seiner Fähigkeit, Erkrankte mit einem positiven Testergebnis (Sensitivität) wie auch hinsichtlich seiner Fähigkeit, Nicht-Erkrankte mit einem negativen Testergebnis (Spezifität) zu erkennen, zu bewerten. Hinzu kommt die Berücksichtigung der sog. Vortest-Wahrscheinlichkeit, also der Häufigkeit („Prävalenz“) von Infizierten in der zu testenden Bevölkerungsgruppe. Um das Beispiel einer präventiven Testung symptomfreier Personengruppen aufzugreifen: Die jemals Infizierten bei speziellen Personengruppen in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Schulen und Kindertagesstätten oder auch anderen Institutionen würden sich nur durch eine sero-epidemiologische Untersuchung abschätzen lassen. Die Ergebnisse bewegen sich dafür voraussichtlich im einstelligen Prozentbereich und lassen wichtige Erkenntnisse hinsichtlich real bestehender besonderer Vulnerabilitäten aus der zurückliegenden Hochprävalenzzeit zu – sie sind mithin ein wertvoller Blick in die Vergangenheit. Dass noch weiterer Test-Entwicklungsbedarf besteht, steht dem nicht entgegen.

Eine Abschätzung der Vortestwahrscheinlichkeit für eine geplante präventive Testung erschöpft sich allerdings nicht in der Schätzung der jemals Infizierten, sondern verlangt auch eine Abschätzung hinsichtlich der aktuell zu erwartenden infizierten Personen. In einer Niedrigprävalenzphase lassen sich z. B. täglich etwa 3 neue Fällen je 10 000 Einwohner/innen vermuten. Das Erkennen der aktuell Infizierten ist auf einen Nachweis von Virengenen angewiesen, welche in Körpermaterialien wie Sputum, nasopharyngealen Abstrichmaterialien oder Saliva (Speichel) gefunden werden können. Die Sensitivität der RT-PCR-Testung beträgt in den typischen vier Tagen vor Symptombeginn allerdings nur zwischen 0 und 30% – im Mittel kann daher bei einem präsymptomatischen Abstrich nur eine von fünf infizierten Personen erkannt werden [7]. Bei einem täglichen Abstrich würden sich so in den 4 Tagen maximal 60% der präsymptomatischen Personen erkennen lassen, bei einem Abstrich alle 2 Wochen nur etwa 5%, also nur eine von 20 präsymptomatischen infizierten, möglicherweise auch schon infektiösen Personen – sog. statistische Testunabhängigkeit vorausgesetzt. Ob komplett asymptomatische Krankheitsverläufe, welche in einem Viertel der Fälle angenommen werden, größere epidemiologische Relevanz haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit diese erkannt werden können, ist eine offene Frage. Für eine präventive Testung unter Schutzaspekten empfiehlt sich somit am ehesten eine tägliche Abstrichnahme, z. B. in medizinischen Hochrisikobereichen. Wäre bei einer Niedrigprävalenzlage z. B. 1 „prävalent infizierte“ Person pro 1000 Mitarbeiter zu erwarten, wären bei einem täglichen Abstrich knapp siebentausend Abstriche für eine entdeckte präsymptomatische infizierte Person notwendig (4 000/0,6). Die Vollkosten liegen damit bei etwa 700 000 EUR für jeden entdeckten präsymptomatischen Fall, wobei 4 von 10 Fällen weiterhin unentdeckt bleiben. Allerdings sind in einer Niedrigprävalenzlage auch erhebliche Nebeneffekte zu erwarten. Die Testspezifität der RT-PCR beträgt nach einem aktuellen Ringversuch 98,6% [8], eine andere Schätzung geht von 98,8% aus [9]. Demnach sind in unserem Beispiel etwa 80 falsch positive Testergebnisse zu erwarten, denen nur ein richtig positives Testergebnis gegenübersteht. Für eine Institution mit eintausend so täglich getesteten Mitarbeiter/innen wären damit täglich etwa 12 falschpositive Fälle zu erwarten, mithin täglich 12 Mitarbeiter/innen, die in vermutlich mehrtägige Absonderung und diagnostische Abklärung zu nehmen sind. Bei einer 2-wöchentlichen Testung reduzieren sich diese Ausfälle zwar auf 1 Mitarbeiter/innen täglich, allerdings ist auch der Nutzen entsprechend minimal. Diese Teststrategie empfiehlt sich als Schutzstrategie somit eher für Hochprävalenzlagen. Der Nutzen eines einmaligen oder gelegentlichen präventiven Testens symptomloser Personen im Niedrigprävalenzbereich ist für die weiteren Pandemie-Bekämpfungsziele des Eindämmens oder der Abmilderung aus den gleichen Gründen ebenfalls nur schwer darzustellen. Als objektiv verlässliche Beruhigung für besorgte Bürger taugt solches Testen wegen der geringen Sensitivität bei fehlenden Symptomen ebenfalls nicht. Aus dem Umfeld von Altenheimen berichtete Ergebnisse von einstellig positiven Ergebnissen in einem getesteten Kollektiv von etwa 2000 Personen sollten vor dem Hintergrund von in dieser Höhe zwanglos erwarteten falsch-positiven Testergebnissen nur nach weiterer diagnostischer Abklärung als erfolgreiche Suche gewertet werden [10]. Forschungs- und zugehöriger Ressourcenbedarf besteht über den engeren Bereich der COVID-19 Diagnostik hinaus auch in vielen anderen Bereichen: Bezogen auf die Dauer einer Immunität nach durchgemachter Infektion, die Rolle von „Major“ und „Super“spreadern und den zugehörigen äußeren Rahmenbedingungen, bezogen auf Risikogruppen und Risikofaktoren für schwere Verläufe, auch unter Nutzung von minimal-invasiven Autopsien, bezogen auf Wechselwirkungen mit der zu erwartenden saisonalen Influenza und auch bezogen auf angepasste Maßnahmen unterhalb eines umfassenden gesellschaftlichen Lockdowns bei einem Wiederaufflackern der Pandemie.

Im Sinne solcher auch selbstkritischer wissenschaftlicher Vernunft wollen die verschiedenen Berichte dieses Heftes ihren jeweiligen Beitrag leisten. Sie behandeln die Themen MDK als Institution der Qualitätssicherung im deutschen Gesundheitssystem am Beispiel der Richtlinie zu minimalinvasiven Herzklappeninterventionen, Health in All Policies – Entwicklungen, Schwerpunkte und Umsetzungsstrategien für Deutschland, Veränderungen der Patienten- und Krankheitsstruktur einer psychiatrischen Krankenhausabteilung durch Übernahme der sektorisierten Pflichtversorgung, Antibiotikanutzung bei Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, motivationale Faktoren für die Präferenz der Fachrichtung Allgemeinmedizin unter Medizinstudierenden in NRW und Lehrpraxen-Charakteristika in der Allgemeinmedizin, Manfred Pflanz (1923–1980) und sein früher Beitrag zur Versorgungsepidemiologie der Appendektomie, Digitalisierung und Gesundheitswissenschaften, die Ergebnisse eines Workshops zur Gesundheitsgefährdung durch langes Sitzen am Arbeitsplatz sowie das DNVF Memorandum Gesundheitskompetenz. Themen, welche Aufmerksamkeit, kritische Diskussion und ggf. auch die Zuordnung von im Gesundheitswesen verfügbaren, immer auch knappen Ressourcen verdienen.

Testen, testen, testen: Diese Botschaft des WHO-Generaldirektors sollte auch mit Rücksicht auf die alternative Verwendung begrenzter Ressourcen nicht in einen Test „hype“ umschlagen, dessen Nutzen unzureichend ist und der in der Konsequenz wegen seiner unvermeidlichen falsch positiven Ergebnisse zu einem gesellschaftlich explosiven Perpetuum mobile eines damit nur scheinbaren epidemischen Geschehens werden kann. Für diesen Fall wäre zunächst der Ruf „…Order!“ mehr als wünschenswert. Die aktualisierte Interpretation des Mems „testen, testen, testen“ zur Pandemiekontrolle wäre wohl eher diese: Reihentestungen sollten insbesondere in Niedrigprävalenzphasen nur Bestandteil von multimodalen Maßnahmenbündeln sein, welche persönliche, technische und organisatorische Schutzmaßnahmen mit gezielten und in ihrem Nutzen gerechtfertigten Teststrategien verknüpfen und unter Berücksichtigung der epidemiologischen Lage prävalenz- und risikoadaptiert zum Einsatz gebracht werden. Einfacher ist eine kritisch-vernünftige Auslegung nicht zu haben [11]. Mögliche Konkretisierungen dieser Botschaft wären z. B. in der Fallzahl deutlich effizientere sero-epidemiologische Studien zur Bestimmung von gesellschaftlichen Risikogruppen und Risikosettings und daran anknüpfend die gezielte Entwicklung von Schutzkonzepten, die Durchführung von auch durch Genomsequenzierung unterstützten Clusteranalysen unter Beteiligung der Kontaktpersonennachverfolgung durch den ÖGD, die Identifikation von Konstellationen mit hohem Risiko für Super- und Major-Spreading Ereignisse zur Entwicklung gezielter und die Gesellschaft weniger belastender allgemeiner Schutzstrategien, die Entwicklung innovativer und kreativer Testkonzepte jenseits der direkten persönlichen Testung einzelner Menschen und auch die Investition in weiter verbesserte serologische und PCR- bzw. Antigen-basierte Testmethoden einschließlich der Probenahme [12] [13]. Um abschließend noch einmal eine Redewendung zu bemühen: Dem römischen Kaiser Vespasian wird die Erhebung einer Latrinensteuer bei Nutzung öffentlicher Toiletten zur Aufbesserung der Staatsfinanzen zugeschrieben. Um diese gegenüber seinem Sohn zu rechtfertigen, soll er ihm ein Geldstück mit der Frage unter die Nase gehalten habe, ob dieses einen üblen Geruch habe. „Pecunia non olet“ – Geld stinkt nicht. Gleiches könnte auch für das Wissen gelten, welches sich in Niedrigprävalenzphasen z. B. auf innovative Weise aus Umwelt- und ja, auch Abwasser-Proben, gewinnen lässt [14] [15] – oder auch nur für das Geld, welches durch einen Verzicht auf ungezieltes Testen eingespart und im Sinne der bestmöglichen allokativen Effizienz für alternative Public-Health-Maßnahmen gewinnbringend eingesetzt wird.

Hinweis

Dieser Artikel wurde gemäß des Erratums vom 02.09.2020 geändert.


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Erratum

Im oben genannten Artikel wurden die Literaturstellen 6 und 7 vertauscht. Richtig ist:

[6] Flaxman S, Mishra S, Gandy A et al. Estimating the effects of nonpharmaceutical interventions on COVID-19 in Europe. Nature: https://www.nature.com/articles/s41586-020-2405-7_reference. pdf (accessed 26.06.2020)

[7] Kucirka LM, Lauer SA, Laeyendecker O et al. Variation in False-Negative Rate of Reverse Transcriptase Polymerase Chain Reaction – Based SARS-CoV-2 Tests by Time Since Exposure. Annals Internal Med 2020; 13.05.2020. https://www.acpjournals. org/doi/10.7326/M20-1495 (accessed 01.06.2020)


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
22. Juli 2020

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