Einleitung
Die Gesundheitsgefährdung durch zunehmend sedentäre Arbeits- und
Lebensweisen ist ein wichtiges Problem unserer Zeit. Seine Lösung verlangt
interdisziplinäre Zusammenarbeit von Wissenschaft und betrieblicher Praxis
und muss aus verschiedenen Perspektiven (bspw. Arbeitswissenschaft, Arbeitsmedizin,
Arbeits- und Organisationspsychologie, Ingenieurwissenschaften und Sportmedizin)
betrachtet werden. Die Bezeichnung sedentäres Verhalten, abgeleitet vom
englischen Begriff „sedentary behaviour“ beschreibt
geringfügig energetisch beanspruchende Verhaltensweisen der Wachzeit
(≤ 1,5 metabolische Äquivalente [MET], z. B.
aufrecht oder zurückgelehnt sitzen) [1]. Im Rahmen eines Workshops thematisierten Fachleute aus der Arbeits-
und Betriebsmedizin, Arbeitswissenschaft, Sportwissenschaft und Public Health die
derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gesundheitsgefährdung durch
Sitzen am Arbeitsplatz, welche im ersten Teil beschrieben sind [2].
Im vorliegenden Teil II der Workshop-Dokumentation werden in den Beiträgen
betriebliche Lösungsansätze in den Blick genommen und diskutiert,
wie Maßnahmen zur Unterbrechung von sedentärem Verhalten am
Arbeitsplatz gelingen können. In der betrieblichen Praxis gibt es inzwischen
eine Vielzahl an verhaltens- sowie verhältnispräventiven
Maßnahmen, um sedentäres Verhalten am Arbeitsplatz zu unterbrechen
und Bewegung zu fördern. Typische Beispiele für etablierte
Maßnahmen der Verhaltensprävention sind die Anregung zu
Bürotätigkeiten im Stehen, weiterhin wird empfohlen den direkten
Kontakt zu Kollegen in umliegenden Büros zu suchen anstatt zu telefonieren
oder E-Mails zu schreiben. Im Bereich der Verhältnisprävention sind
bisher v. a. die Platzierung von Arbeitsmitteln außerhalb des Sitzbereichs
(wie die Aufstellung des Druckers in einem anderen Raum) oder technische
Veränderungen der Arbeitsumgebung durch den Einsatz
bewegungsfördernden Mobiliars bekannt. Hierzu zählen auch dynamische
Büroarbeitsstühle und Sitz-Steharbeitsplätze.
Im Folgenden werden die im Workshop von der Sportwissenschaftlerin Vera Schellewald
und dem Arbeitswissenschaftler Rolf Ellegast aus der Perspektive des
Forschungsinstituts IFA der gesetzlichen Unfallversicherungsträger
präsentierten Erkenntnisse der Evaluation zu dynamischen Arbeitsstationen
zusammengefasst. Diese Ergebnisse waren bisher nur z. T. in systematische
Reviews zur Wirkung dynamischer Arbeitsplätze eingeflossen [3]. Zwei Beispiele zur Bewegungsanregung am
Arbeitsplatz, das Konzept „Aktives Büro“ im Hessischen
Ministerium für Finanzen und die „Lohnende Pause“ bei der
Deutschen Rentenversicherung Bund, wurden von den jeweiligen Verantwortlichen
für das betriebliche Gesundheitsmanagement in Vorträgen vorgestellt.
Sie geben einen Einblick in die betriebliche Praxis, die in Deutschland aktuell noch
von Bewegungsförderung im betrieblichen Alltag und weniger von
Maßnahmen zur Unterbrechung der Sitzzeiten geprägt ist, da
sedentäre Arbeit bisher als Handlungsfeld eingeschätzt wird, dem mit
bekannten Methoden der Ergonomie und Bewegungsförderung begegnet werden
sollte. Die wissenschaftliche Evidenz zu sedentärem Lebensstil, der sowohl
Sitzzeiten am Arbeitsplatz als auch in der Freizeit umfasst, und dessen Bedeutung
für die Entwicklung von Erkrankungen (v. a.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen) [2] wird bisher
nur unzureichend wahrgenommen. Die sich aus der Zusammenschau der wissenschaftlichen
Perspektiven auf das Thema (vgl. 1. Beitragsteil) und aus den
Lösungsansätze der Praxis ergebenden Fragen werden
abschließend zusammenfassend diskutiert.
Lösungsansätze für die Praxis
Bewegungsförderung durch Nutzung dynamischer Arbeitsstationen im
Büro
Bisherige Erkenntnisse aus Labor- und Feldstudien zeigen, dass zwischen
verschiedenen Bürostuhltypen (dynamisch und konventionell) keine
signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Muskelaktivität, den
Körperhaltungen oder der physischen Aktivität festzustellen sind
[4]. Die Nutzung von
Sitz-Steharbeitsplätzen wiederum führt in der Regel zu einer
Erhöhung des Anteiles stehender Körperhaltungen und auch zu mehr
Bewegung insgesamt [5]. Sitz-
Steharbeitsplätze stellen jedoch hinsichtlich der metabolischen Effekte
noch keine ausreichende Präventionsmaßnahme zur
Aktivitätsförderung im Büro dar, da der Energieverbrauch
im Stehen nur geringfügig oder gar nicht gegenüber
sedentärem Verhalten erhöht ist [6].
Zur Verbesserung der metabolischen Situation wurden daher weitere
Primärpräventionsmaßnahmen zur
Bewegungsförderung während der Ausführung von
Bürotätigkeiten, wie so genannte dynamische Arbeitsstationen,
entwickelt. Diese Geräte verbinden die Nutzung eines Laufbandes,
Sitzergometers oder Ellipsentrainers und eines Schreibtisches und
ermöglichen dadurch eine leichte physiologische Aktivierung
während der Arbeit am Bildschirm. In einigen wissenschaftlichen Studien
wurden mögliche Effekte bei der Nutzung solcher Geräte auf die
physische sowie psychische Aktivität, auf kognitive Parameter und auf
die Arbeitsleistung untersucht. Darüber hinaus gibt es inzwischen
Erkenntnisse bzgl. des Nutzungsverhaltens und der Akzeptanz dynamischer
Arbeitsstationen seitens der Beschäftigten sowie zu deren
Arbeitssicherheit.
Ergebnisse von Laborstudien, die die Nutzung von Laufbändern und
Sitzergometern untersuchen, zeigen hierzu eine signifikante Erhöhung der
physischen Aktivitäten und des Energieumsatzes [7] oberhalb von 1,5 MET. Außerdem
wurden keine objektiven Einschränkungen der Arbeitsleistungen (mit der
Ausnahme von präzisen Tätigkeiten mit der Maus) festgestellt,
subjektiv wurde die Arbeitsleistung von den Nutzern jedoch als schlechter
empfunden [8]. In den letzten Jahren
wurden zunehmend kleine, portable Geräte wie
Schreibtisch-Fahrräder oder Untertisch-Geräte untersucht. Das
Institut für Arbeitsschutz (IFA) führte dabei 2 Studien durch,
in denen Büroangestellte über einen Interventionszeitraum von
6-12 Wochen freien Zugang zu einem Schreibtischfahrrad (Deskbike, Worktrainer)
und/oder einem Untertischgerät (activeLife Trainer, Duo Desk
LLC) hatten ([Abb. 1]).
Abb. 1 Dynamische Arbeitsstationen. li Deskbike (Quelle: IFA), re
activeLife Trainer (Quelle: IFA).
Die Nutzungsfrequenz, -dauer und -intensität waren ebenfalls frei
wählbar. Erfasst wurden Parameter kinematisch-physiologischer
Aktivität (Herzfrequenz, Aktivitätsindex (PAI), Energieumsatz)
sowie psychologische Parameter (subjektive Beanspruchung, aktuelles
Wohlbefinden). Außerdem wurden die Zeiträume der Ausleihe und
Intervalle tatsächlicher Nutzung gemessen. Die Ergebnisse der Studien
zeigten signifikante Erhöhungen der physischen Aktivität (PAI)
und des Energieumsatzes bei regelmäßiger Nutzung der
Geräte [9]. Auch wurden
prinzipielle Anzeichen für positive Effekte auf das psychische
Wohlbefinden gefunden [10]
[11], hier sind jedoch weitere
systematische Untersuchungen notwendig. Bezüglich der Arbeitsleistung
und kognitiven Leistungsfähigkeit wurden vergleichbare Ergebnisse zur
vorherigen Laboruntersuchung gefunden: objektiv gemessen gab es keine
Beeinträchtigungen während der Nutzung [Schellewald et al. in
Vorbereitung]. Die Nutzer zeigten zwar ein unterschiedliches Verhalten
hinsichtlich der Präferenz des Gerätes sowie der Frequenz und
Dauer der Nutzung. Insgesamt jedoch wurden die Geräte
regelmäßig genutzt und es ließ sich eine gute bis sehr
gute Akzeptanz feststellen. Auch hinsichtlich des Aspekts der Arbeitssicherheit
sind die portablen Geräte als akzeptabel einzuschätzen [11].
Dynamische Arbeitsstationen sind derzeit die einzigen bekannten
Primärpräventionsmaßnahmen, die während der
Ausübung von Computertätigkeiten im Büro eine
signifikante Erhöhung des Energieumsatzes von mehr als 1,5 MET
ermöglichen. Aus Sicht des Arbeitsschutzes sind die neuartig
entwickelten Geräte unproblematisch (Ausnahme: Laufband). Die
Geräte sollten auf freiwilliger Basis genutzt werden und können
so für die Nutzung in der betrieblichen Praxis empfohlen werden.
„Aktives Büro“ im Hessischen Ministerium für
Finanzen
Im Hessischen Ministerium für Finanzen (HMdF) ist der Arbeitsalltag
entsprechend der Aufgaben durch überwiegend sitzende Tätigkeiten
wie Schreibtischarbeit in Einzel- oder Doppelbüros und Besprechungen
geprägt. Aufgrund der Ausgestaltung eines in 2016 fertiggestellten
Erweiterungsbaus und einer geplanten Renovierung des Bestandsgebäudes
wurde über innovative Raumkonzepte nachgedacht. Hierbei sollten auch
gesundheitliche Aspekte berücksichtigt werden mit dem Ziel, den
Büroalltag bewegungsfreudiger zu gestalten und lange Sitzzeiten
zugunsten von Aktivität zu unterbrechen. Überdies sollten
Räume für Team- und Projektarbeit sowie
Rückzugsmöglichkeiten geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund
wurden in 2017 im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM)
Maßnahmen ergriffen, um die Büros bewegungsfreundlicher bzw.
bewegungsanregend zu gestalten. Hierbei wurden Bewegungsanimationen und
Gesundheitsvorsorgemaßnahmen in bestehende Büroprozesse
integriert, die keinen physischen oder räumlichen Mehraufwand bedeuten.
Gleichzeitig wurden alle Büroarbeitsplätze mit
höhenverstellbaren Schreibtischen ausgestattet und zentrale
Druckerstationen eingerichtet. Ein wichtiges Kernstück des Konzepts
bilden zentrale Orte im Haus, überwiegend bei den zentralen
Druckstationen, an denen unterschiedliche bewegungsfördernde Elemente
(z. B. Aktivhocker, Balanceboards, Bälle) zum
vorübergehenden Gebrauch im eigenen Büro ausgeliehen werden.
Weitere Angebote des Konzepts sind Roller, die in den langen Gängen
genutzt werden können, sowie ein mit einer Deckenwelle ausgestatteter
Flur, die zur Berührung und damit zur Aufrichtung und Streckung
einlädt. Weiterhin stehen für kurze Besprechungen sog.
Besprechungsecken mit hohen Tischen und einem weichen
„Aktivstehboden“ zur Verfügung. Für
längere Besprechungen gibt es einen Raum mit Tischpodest und hohen
Bürostühlen, der Steh- sowie Sitzmöglichkeiten bietet.
Ergänzt wird das Konzept durch weitere Sport- und Bewegungsangebote des
BGM wie z. B. Präventionskurse (Pilates, Rückenschule)
sowie durch Gesundheitsvorträge und Workshops. Diese Maßnahmen
scheinen von den Beschäftigten gut akzeptiert zu werden.
Die „Lohnende Pause“ – das Konzept der Deutschen
Rentenversicherung Bund
Zentraler Gedanke des Bewegungskonzepts der Deutschen Rentenversicherung ist die
Idee, dass eigene Mitarbeiter/innen, sog. Multiplikator/innen
andere Mitarbeiter/innen in Bewegung bringen können. In der
Behörde mit 25 000 Beschäftigten (77% weiblich,
Mittelwert 50 Jahre) arbeiten nahezu alle in klassischer Büroarbeit am
Bildschirm. Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung
(BGF) gibt es seit 2000, die Dienstvereinbarung mit dem Ziel Arbeitsbedingungen
gesundheitsgerecht zu gestalten seit 2007. Das Konzept der lohnenden Pause wurde
vor 10 Jahren entwickelt. Der Impuls ging dabei von den
Mitarbeiter/innen aus, die etwas für ihre Gesundheit tun
wollten. Etwa 800 Mitarbeiter/innen wurden als
Multiplikator/innen wiederholt geschult, um den Kolleg/innen im
Rahmen von kurzen Pausen (10 min) Bewegungsübungen zu zeigen. Die
Multiplikator/innen laden zu Übungen in eigens dafür
vorgesehene Übungsräume ein. Zehn Minuten Bewegung als kurze
Arbeitspause an jedem Tag erschien allen Beteiligten ein guter Kompromiss
zwischen Arbeitszeitverlust und Gesundheit der Mitarbeiter/innen zu
sein.
Evaluationen zeigen, dass dieses Angebot die Produktivität der
Mitarbeiter/innen nicht negativ beeinflusst. Das Angebot wurde sehr gut
angenommen, von den Führungskräften unterstützt und es
gab viele positive Rückmeldungen. Nach über 10 Jahren jedoch hat
sich das Konzept „abgenutzt“, das Angebot wird weniger
angenommen, von den 800 Multiplikator/innen sind nur noch die
Hälfte aktiv. Auch aufgrund der zunehmenden Digitalisierung
(elektronische Akte) und der damit verbundenen geringeren
Bewegungsnotwendigkeiten (z. B. Gang zum Drucker) sind neue Konzepte
erforderlich. Das neue Bewegungskonzept sieht vor, Multiplikator/innen
in einer aufsuchenden Beratung zu schulen. Sie werden, wenn von den
Beschäftigten gewünscht, am Arbeitsplatz deren spezifische
Probleme (z. B. Nacken- oder Rückenbeschwerden) erfragen und
individuelle Möglichkeiten für
Haltungsänderungen/Bewegungsabläufe und
Bewegungsübungen aufzeigen. Die aufsuchende Beratung wurde bereits in
einem ersten Projekt mit Physiotherapeuten und Sportwissenschaftlern
durchgeführt und auch von eher wenig bewegungsfreudigen Personen gut
angenommen.
Diskussion
In der abschließenden offenen Diskussionsrunde zur wissenschaftlichen Evidenz
[2] und zu betrieblichen
Lösungsansätzen bestand Konsens, dem Thema
„Gesundheitsgefährdung durch langes Sitzen am Arbeitsplatz“
in der Arbeitswelt mehr Aufmerksamkeit zu geben. Die in der Diskussion entstandenen
Fragen und Antworten sind in den folgenden Abschnitten gebündelt.
Wie grenzt sich Sitzen von fehlender körperlicher Aktivität
ab und was heißt das für die Konzeption von
Interventionen?
Im Verlauf der Vorträge und der Diskussion wurde erkannt, dass langes
Sitzen eine „liebgewonnene“ Gewohnheit ist, die schon
früh im Lebensverlauf entsteht und durch die jeweilige Lebenswelt
(z. B. Kindergarten/Schule/Universität) immer
stärker ausgeprägt wird. Menschen lernen ihr Verhalten in der
jeweiligen Umgebung: Schüler setzen sich, weil ihr Klassenraum bestuhlt
ist, Beschäftigte setzten sich, weil ihre Arbeit einen Schreibtisch mit
Stuhl erfordert. Sitzen ist die „Norm“. Diesen frühen
Prägungen sollte auch schon vor Eintritt in das Berufsleben mit
Interventionen begegnet werden.
Sedentäres Verhalten ist nicht mit fehlender körperlicher
Aktivität gleichzusetzen. Beide hängen zwar miteinander
zusammen, können aber unabhängig voneinander vorkommen und sich
in ihrer Wirkung auf die Gesundheit ergänzen [2]. Hinzu kommt, dass sich die
Einflussfaktoren, durch die sich Sitzen bzw. sportliche Aktivität
erklären lassen, unterscheiden [2]. Maßnahmen zur Reduktion von sedentärem Verhalten
sollten dieses berücksichtigen. Am Arbeitsplatz spielen auch spezifische
arbeitsbedingte Determinanten für lange wenig unterbrochenen Sitzzeiten,
z. B. die Arbeitsmenge oder auch Zeitdruck, eine Rolle [12]. Lösungsansätze liegen
daher in einer menschengerechten und gesundheitsförderlichen Gestaltung
von Arbeit, die zu Sitzunterbrechungen einlädt und leichte Bewegung
ermöglicht. Die Lösung liegt nicht allein in einer definierten
Arbeitspause, während der z. B. ein Sportkurs angeboten wird.
Eine Doppelstrategie zur Reduktion von sedentärem Verhalten einerseits
und Bewegungsförderung andererseits ist jedoch erwünscht [2].
Sitzen am Arbeitsplatz – Sitzen in der Freizeit – gibt es
Unterschiede?
Arbeitsplätze haben sich in den letzten Jahren verändert, immer
mehr Beschäftigte verrichten vorwiegend sedentäre
Tätigkeiten [13], gleichzeitig
werden Zeitdruck und Arbeitsverdichtung wahrgenommen [14]. Sitzen am Arbeitsplatz unterscheidet
sich von Sitzen in der Freizeit. Die Arbeitssituation erfordert ein
höheres Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration. Daher ergeben
sich auch andere Sitz- bzw. Bewegungsmuster und ggf. ein anderer Energieumsatz
als bspw. das Sitzen am Abend vor dem Fernsehgerät, das oft mit
erhöhter Kalorienzufuhr („Snacken“) verbunden ist. Zu
Unterschieden auch in Bezug auf die Energiebilanz gibt es noch wenige
Informationen. Sitzen am Arbeitsplatz ist jedoch von anderen Zwängen
bestimmt, die Sitzgelegenheiten können nicht nach Wunsch gewechselt
werden und sind oftmals vorgegeben. Qualitative Studien zeigen, dass auch die
Arbeitsmenge und der möglicherweise damit verbundene Termin- und
Zeitdruck und die dadurch eingeschränkten Möglichkeiten
für eine Pause eine Rolle spielen. Auch eine wenig
unterstützende Organisationskultur wurde als weitere Determinante
für ein ungünstiges Sitzverhalten am Arbeitsplatz benannt [12]. Ein Arbeitsplatz, an dem soziale
Unterstützung und gute Beziehungen zu Kollegen und Vorgesetzten erlebt
werden, kann zu einer freieren und flexibleren Atmosphäre
führen, in der dann mehr Bewegungspausen möglich sind [15]. Beschäftigte profitieren daher
bei ihrer Arbeit von Rahmenbedingungen, die Sitzunterbrechungen und Bewegung
fördern.
Weitere Determinanten für das Sitzverhalten am Arbeitsplatz ergeben sich
aus der jeweiligen Arbeitskultur eines Unternehmens. Beschäftigte sind
am Arbeitsplatz stärker unter Beobachtung als in der Freizeit. Es spielt
eine Rolle, wie die Kolleginnen und Kollegen oder auch Vorgesetzte über
das Sitz- und Bewegungsverhalten urteilen und wie beide sich selbst verhalten.
Angst vom Vorgesetzten nicht am Arbeitsplatz angetroffen zu werden oder auch
Bedenken, Kollegen bei ihrer Arbeit zu stören, können
Sitzunterbrechungen und Bewegungspausen erschweren [12].
Was sind betriebliche Aspekte ?
Aus der Perspektive der betrieblichen Akteure sind Interventionen oft ein
Störfaktor, denn sie werden als Eingriff in ein funktionierendes System
wahrgenommen. In der Regel steht nur ein Teil der Beschäftigten
Interventionen positiv gegenüber. Deswegen ist es sinnvoller,
Veränderungsansätze und -wünsche aufzunehmen, die schon
im Unternehmen vorhanden sind, und Interventionen mit den Beteiligten gemeinsam
zu erarbeiten. Mit kleinen Gruppen kann im Vorfeld erprobt werden, welche
Veränderungen positive Resonanz finden. Veränderungen
können so partizipativ gestaltet und angepasst werden, was zur Akzeptanz
einen entscheidenden Beitrag leisten kann.
Um präventives Potenzial auszuschöpfen, ist es in Zukunft wichtig
umzudenken und Arbeitsprozesse schon prospektiv so zu planen, dass sowohl
physische als auch psychische Über- und Unterforderung vermieden wird
(siehe auch das „just right“ bzw. Goldilocks-Prinzip) [16]. Die oben genannten Determinanten
für berufliches Sitzen (Zeitdruck, Arbeitsmenge, soziale
Unterstützung) sind dabei zu berücksichtigen. Im Rahmen einer
ganzheitlichen Vorsorge können Vorsorgeanlässe (z. B.
Bildschirmarbeit) und die Wunschvorsorge grundsätzlich genutzt werden,
um Risikofaktoren (wie z. B. sedentäre Arbeits- und
Lebensweisen) zu adressieren und damit zum Erhalt der
Beschäftigungsfähigkeit beizutragen [17]. Unabhängig davon, ob
berufliches Sitzen ein eigenständiger arbeitsbedingter Risikofaktor ist
[2], bietet die Durchführung
und Umsetzung einer ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung und
menschengerechten präventiven Gestaltung von Arbeit hier ein hohes
Präventionspotenzial für ein umfassendes betriebliches
Gesundheitsmanagement, das sowohl Aspekte der Verhaltens- und
Verhältnisprävention einbezieht. Als weiterer Aspekt wurde
angesprochen, dass Sitzarbeitsplätze, im Sinne der Inklusion, Menschen
mit Einschränkungen das Arbeiten erst ermöglichen, d. h.
sie können für diese auch eine Chance sein. Bei allen
Maßnahmen mit dem Ziel Sitzzeiten zu unterbrechen und auch bei der
Arbeitsgestaltung sollte deswegen vorsichtig und nicht direktiv vorgegangen
werden. Die Beschäftigten müssen für sich selbst
entscheiden dürfen, ob sie Angebote annehmen und an welchen
Maßnahmen einer Intervention sie sich beteiligen wollen.
Wie sollen gute Maßnahmen zur Veränderung des Sitzverhaltens
gestaltet sein? Was sind gute Beispiele?
In Deutschland gibt es bis auf die hier beschriebenen Ergebnisse von Ellegast und
Schellewald nur wenige Erfahrungen mit der wissenschaftlichen Evaluation von
Interventionen, die das Sitzverhalten am Arbeitsplatz adressieren. Aus
Australien („Stand up Victoria“) [18], aus Dänemark („Take a
Stand“) [19] und aus England
(„Beat the Seat“) [20]
gibt es Erfahrungen, die mit Kombinationen aus umgebungsbezogenen,
organisationsbezogenen und an das Individuum gerichteten Maßnahmen unter
Einbeziehen aller Ebenen des Managements positive Veränderungen in Bezug
auf Sitz- und Bewegungsverhaltens und gesundheitlicher Parameter zeigen
konnten.
Bei der Entwicklung einer Intervention sollten
verhältnispräventive Maßnahmen im Fokus stehen. Sie
können mit verhaltenspräventiven (an das Individuum gerichteten
edukativen) Maßnahmen kombiniert werden. Neben der Gestaltung eines
bewegungsfreundlichen Umfelds sind Maßnahmen der
Organisationsentwicklung relevant, wie z. B. die Gestaltung einer
Unternehmenskultur, die der Bedeutung von Bewegung Rechnung trägt.
Neben der Hoffnung auf Verbesserungen gesundheitlicher Parameter nach
Veränderung des sedentären Verhaltens wurden in der Diskussion
mögliche Veränderungen in Bezug auf die Arbeitsleistung
thematisiert. Sie sind bei der Entwicklung von Maßnahmen zu bedenken.
Die Arbeitsleistung kann positiv verändert sein, möglicherweise
gibt es aber auch Einschränkungen in bestimmten Bereichen [3]. Trotz vieler Forschungslücken
bestand unter den an der Diskussion beteiligten Expert/innen ein Konsens
jetzt zu handeln, d. h. geeignete Präventionsstrategien und
-maßnahmen mit der besten verfügbaren Evidenz nach aktuellem
Wissenstand auszuwählen und diese in den Betrieben zu entwickeln,
erproben und zu evaluieren.
Wie können Gender und Diversity konzeptionell berücksichtigt
werden?
Erfahrungen bzw. Berichte aus der Praxis bestätigen, wie wichtig es ist,
partizipativ vorzugehen und Beschäftigte und Vorgesetzte dabei
gleichermaßen zu beteiligen, wenn Maßnahmen akzeptiert und
erfolgreich sein sollen. Wünsche und Vorlieben von Beschäftigten
können sich entsprechend der kulturellen Prägung oder auch
entsprechend des Geschlechts unterscheiden, was in der Planung zu
berücksichtigen ist.
Schon in der Konzeption von Präventionsmaßnahmen sind
Überlegungen zur Genderspezifität wichtig [2]. So sind geschlechtstypische
Bewegungsvorlieben bekannt sowie Unterschiede in Bezug auf Veränderungen
im Sitz- und Bewegungsverhalten und gesundheitliche Folgen. Auch
gesellschaftlich tradierte unterschiedliche Rollenverteilungen mit ungleichen
Belastungsprofilen können Grund für unterschiedliches Sitz- und
Bewegungsverhalten sein. So steht einem Teil der Beschäftigten
(z. B. Menschen mit aufwändigen Sorgeaufgaben) ggf. nur wenig
Zeit für Bewegungspausen außerhalb der Arbeitszeit zur
Verfügung. Männer sind zwar häufiger
körperlich aktiv, sitzen dafür im Durchschnitt etwas
länger [21]. Es gibt weiterhin
Hinweise darauf, dass Frauen von moderater körperlicher
Aktivität anders bzw. mehr profitieren als Männer [22]. In vielen betrieblichen
Interventionsstudien sind die Teilnehmenden überwiegend weiblich [23]. In den daraus abgeleiteten Aussagen
zur Wirkung der Interventionen werden das biologische Geschlecht (Sex) und das
soziale Geschlecht (Gender) und deren verschränkte Bedeutung jedoch
meist nicht berücksichtigt. Die zurzeit noch fehlende
Berücksichtigung einer Betrachtung der Diversität, d. h.
der Unterschiede in Bezug auf Sex/Gender [2], aber auch unterschiedliche
kulturelle Prägungen oder unterschiedliche Vorlieben z. B.
aufgrund des Alters sind möglicherweise ein Grund für die
Heterogenität der Ergebnisse aus Interventionsstudien. Aus Vergleichen
in multizentrischen internationalen Studien können Erkenntnisse zur
Wirkung von Interventionen in verschiedenen Kulturen und zur Diversität
gewonnen werden.
Was erwarten wir für die Arbeitsplätze der Zukunft?
Die zunehmende Digitalisierung wird die Arbeits- und Lebenswelten nachhaltig
verändern, v. a. die Flexibilisierung sowie neue
Möglichkeiten komplexer, vernetzter und „intelligenter“
Systeme. Daraus ergeben sich Chancen, aber auch Risiken. So kann die
Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort (z. B. Telearbeit,
Homeoffice oder Coworking Spaces) den Beschäftigten mehr Autonomie
geben, ihre Arbeit zu unterbrechen. Durch Änderungen der
Arbeitsorganisation, wie z. B. die Einführung der elektronischen
Akte (E-Akte) in der öffentlichen Verwaltung, kann die Arbeit in
operativen Einheiten, d. h. Einheiten, die Aufgaben gemeinsam
bearbeiten, gedacht werden. Damit ergeben sich auch Möglichkeiten, die
Arbeit dynamischer zu gestalten. Andererseits gibt es durch die E-Akte weniger
Anlässe, sitzende Tätigkeiten durch Anforderungen in Bewegung zu
unterbrechen (z. B. physische Weitergabe der Akten). Es wird
prognostiziert, dass es mehr „Selbstständige“ in neuen
Arbeitsorganisationsformen wie der sogenannten Plattformökonomie
(„Crowdworking“) geben wird [24], die sich dann eigenverantwortlich um gesundheitsgerechtes
Verhalten und um die bestehenden Regelungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
kümmern müssen.
Wenn steigender Zeit- und Leistungsdruck hinzukommen, wächst die Gefahr
von selbstschädigendem Verhalten. Wir wissen heute nicht, ob als Folge
der Digitalisierung und Flexibilisierung der Arbeit in 5 Jahren der klassische
Büroarbeitsplatz mit der Arbeit am Schreibtisch mit PC und Maus in
dieser Form noch vorhanden sein wird. In Zukunft könnte auch zunehmend
die Interaktion von Mensch und Computertechnologie genutzt werden, um Menschen
in Bewegung zu bringen. So bietet die Digitalisierung verschiedene
Möglichkeiten über IT-basierte Lösungen (z. B.
Messung von Sitzverhalten mit Feedback) Beschäftigte zu
Sitzunterbrechungen anzuregen und zukünftige Computereingabemittel so zu
gestalteten, dass bei deren Nutzung ein Energieumsatz über 1,5 MET
Nutzung möglich ist.
Handlungsbedarf und konkrete Empfehlungen für die Praxis
In Deutschland können wir aus den guten Beispielen anderer Länder
lernen. Entscheidungsträger dort haben erkannt, dass es im 21. Jahrhundert
einen Trend hin zu körperlicher Unterforderung durch sedentäres
Verhalten am Arbeitsplatz gibt, der die Gesundheit der Beschäftigten und der
Bevölkerung generell gefährdet, und dass trotz noch vorliegender
Evidenzlücken wissenschaftsbasierte Entscheidungen in Politik und Praxis
getroffen werden sollten.
Hierfür müssen die bestehenden Erkenntnisse so aufbereitet werden,
dass Entscheidungsträger die notwendigen Schlüsse ziehen. In
Betrieben wird weder mit dem für die Arbeitgeber verpflichtenden Ziel der
Prävention körperlicher Überforderung des
Muskel-Skelett-Systems durch statische Muskelbelastung bei Zwangshaltung, noch mit
dem für Arbeitgeber freiwilligen Ziel der Bewegungsförderung das
Ziel der Prävention körperlicher Unterforderung durch lange, wenig
unterbrochene Sitzzeiten am Arbeitsplatz erreicht. Auf den bisherigen Erkenntnissen
aufbauend, ist es wichtig Determinanten von sedentärem Arbeits- und
Lebensstil differenzierter zu verstehen. Dazu gehören nicht nur
Determinanten, die die Arbeit als solche sowie die Organisationkultur betreffen,
sondern auch personenbezogene Determinanten. So können theoriegeleitet
Interventionen entwickelt und evaluiert werden. Eine Kombination aus
Ansätzen, die die Lebenswelt Arbeit als solche in den Fokus nehmen [25] d. h. die Arbeitsgestaltung
berücksichtigen und Ansätzen der Verhaltensprävention,
entsprechend der Public Health Strategien, sind für das Setting Arbeitswelt
zu empfehlen. Es ist sinnvoll, die beiden Ziele Bewegungsförderung und
Sitzreduktion zu verbinden. So sind z. B. regelmäßige
Sitzunterbrechungen für Gänge zum Drucker gut für das
Muskel-Skelett und Herz-Kreislauf-System sowie für den Stoffwechsel.
Möglichkeiten, die Risiken sitzender Arbeitsweisen zu verringern werden im
Konzept ‚Safe Work Australia‘ [26] aufgezeigt. In den digitalisierten Arbeitswelten ist es entscheidend
sicher zu stellen, dass die Arbeitsbedingungen ungünstige kardiometabolische
Risikoprofile [27] nicht weiter verschlechtern
und dabei auch Dimensionen von Diversity (z. B. Geschlecht und kultureller
Hintergrund) beachtet werden ([Tab. 1]).
Tab. 1 Empfehlungen für die arbeitsmedizinische
Praxis/Betriebliche Gesundheitsförderung.
Gestaltung der Arbeitsaufgaben, sodass ein Wechsel zwischen
Sitzen, Stehen und Bewegung möglich ist
-
Vermeidung von langen ununterbrochenen Sitzperioden
(>30 min)
-
Lange Sitzzeiten als möglichen gesundheitliche
Risikofaktor mit den Beschäftigten
thematisieren
-
Den Beschäftigten Möglichkeiten bieten,
dass eigene Sitzverhalten zu reflektieren (Feedback
z. B.: über Schrittzähler)
-
Einbinden des Managements und der direkten
Vorgesetzten
|
Konkrete Möglichkeiten, zu Sitzunterbrechungen
anzuregen
-
Drucker entfernt vom Arbeitsplatz positionieren
-
Arbeitsbesprechungen in Bewegung oder Stehmeetings
einführen
-
beim Telefonieren immer aufstehen
-
Emails an Kollegen durch persönliche
Gespräche ersetzen
-
eine weiter entfernte Toilette aufsuchen
-
höhenverstellbare Schreibtische nutzen
-
Treppen anstatt Aufzüge nutzen
-
die Mittagspause nicht am Computer, sondern
außerhalb des Büros verbringen
-
immer wieder an Sitzunterbrechungen erinnern
(z. B. Erinnerungsmails)
|
Eigene Darstellung, angelehnt an [26],
[28].