„Mama/Papa, mir ist langweilig“ – Eltern kennen das. Wer jetzt Vorschläge macht –
               „Du könntest mal wieder aufräumen/Klavier üben/Dein Buch weiterlesen“ – hat schon
               verloren, denn was man auch immer vorschlägt, wird prompt mit immer der gleichen Begründung
               abgelehnt: „Ist mir zu langweilig“. Man könnte auch anders reagieren: „Hey super!
               Endlich hast Du mal Zeit, einfach genau das zu machen, was Dir am meisten Spaß macht!“
               – Dann wird man vom Kind ungläubig angesehen und erhält meist eine Antwort mit leicht
               aggressivem Unterton, etwa wie folgt: „Mach’ Dich bloß nicht über mich lustig!“
            Glücklicherweise nimmt Langeweile mit zunehmendem Alter eher ab. Was Langeweile überhaupt
               ist, glaubt man zu wissen, solange man nicht gefragt wird. Historisch ist der Begriff
               schillernd, ohne klaren Kern, und eine systematische Definition gibt es (noch) nicht.
               Nur darauf, dass sie wie Schmerzen negativ erlebt wird, konnte man sich einigen, weswegen
               dieser Aspekt sicherlich zu ihrer Definition gehört: Keiner mag Langeweile gern. Ansonsten
               erscheint uns Erwachsenen Langeweile bei erster Näherung vor allem – langweilig. Warum
               sollte man sich mit einer solchen nebensächlichen Dummheit beschäftigen?
            In den vergangenen 5 bis 10 Jahren wurden Forschungsergebnisse zur Langeweile – meist
               korrelative Studien und einige Experimente sowie neurowissenschaftliche Studien –
               publiziert, in denen es um interessante Korrelate von Langeweile geht. Mittlerweile
               zeichnet sich sogar – wer hätte das gedacht? – eine Funktion von Langeweile ab. Schließlich
               impliziert das Vorhandensein einer Funktion, dass auch Fehlfunktionen – in der Medizin
               spricht man von Pathologie – möglich sind. „Boredom gets Interesting“ (Langeweile
               wird interessant) titelte das Fachblatt Nature in einem Feature vom 14. Januar 2016
               [59] nicht von ungefähr.
          
         
         Langeweile, Mortalität und Medizin
         Langeweile, Mortalität und Medizin
            Wenn der Volksmund von „tödlicher Langeweile“ spricht, so sollte man dies nicht leichtfertig
               abtun: Britische Epidemiologen gingen schon vor mehr als 10 Jahren „während eines
               Anfalls von Langeweile“ (wie sie selber schreiben[
                  1
                  ]) dem Zusammenhang von Langeweile und Mortalität dadurch nach, dass sie Daten aus
               der bekannten Whitehall-II-Kohortenstudie speziell auf diese Frage hin untersuchten.
               Deren Teilnehmer waren Angestellte des öffentlichen Dienstes im Alter von 35–55 Jahren
               mit Sitz in London [66], [84]. Der dort verwendete Basisfragebogen enthielt die Frage nach Langeweile während
               der letzten 4 Wochen mit den Antwortmöglichkeiten „überhaupt nicht“, „ein wenig“,
               „ziemlich viel“ und „die ganze Zeit“. 3 Jahre später wurde die gleiche Frage nochmals
               gestellt. Die Mortalität der Teilnehmer wurde über das Zentralregister des britischen
               nationalen Gesundheitssystems (NHS) für einen Zeitraum bis Ende April 2009 erfasst.
               Von der weiteren Analyse ausgeschlossen wurden diejenigen Teilnehmer, bei denen schon
               zu Beginn der Studie Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorlagen, was in einer Stichprobengröße
               von 7524 Männern und Frauen resultierte. Erhöhte Langeweile ging mit weiblichem Geschlecht,
               jüngerem Alter, schlechterem Gesundheitszustand, geringerem Grad des Beschäftigungsverhältnisses
               und geringerer körperlicher Aktivität einher. Wer sich stark langweilte wies eine
               höhere Sterblichkeit, insbesondere an Herz-Kreislauf-Erkrankungen (RR: 2,53; KI: 1,23–5,21[
                  2
                  ]), auf als diejenigen, die sich überhaupt nicht langweilten. Bei denjenigen, die
               sich zu beiden Erhebungszeitpunkten langweilten, war der Effekt größer. Bei Berücksichtigung
               von Kovariablen wie Beschäftigungsgrad, körperliche Aktivität und schlechte Selbsteinschätzung
               der Gesundheit, war das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch immer erhöht,
               jedoch knapp nicht mehr signifikant (RR: 1,96; KI: 0,94–4,05).
            Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse dahingehend, dass man wahrscheinlich nicht
               direkt an Langeweile stirbt, die Langeweile jedoch als Indikator für andere Risikofaktoren
               gewertet werden kann. „Während einige davon nicht so leicht verändert werden können
               (z. B. Krankheitsstatus oder Stellung in der Gesellschaft), könnte die Neigung zu
               Langeweile, insbesondere bei der jüngeren Bevölkerung, auf schädliche Verhaltensweisen
               wie exzessives Trinken, Rauchen, Drogenkonsum und auf ein ungünstiges psychologisches
               Profil hinweisen. Hier könnte ein wieder gewonnenes Interesse an sozialen und körperlichen
               Aktivitäten die Langeweile lindern und die Gesundheit verbessern und so das Risiko
               verringern, sich ‚zu Tode zu langweilen‘“, stellen die Autoren in ihrer Diskussion
               fest [13].[
                  3
                  ]
               
         Langeweile in Psychiatrie und Neurologie
         Langeweile in Psychiatrie und Neurologie
            Trotz des überdeutlichen Titels ihrer Arbeit („Bored to death?“, auf Deutsch „Zu Tode
               gelangweilt?“) unterschätzten sie damit im Lichte neuerer Erkenntnisse die medizinische
               Bedeutung der Langeweile. Denn diese ist nicht nur ein Indikator von, sondern auch
               mindestens ein auslösendes Moment für Essstörungen [32], [36], [60], [62], [82], [106] und stoffgebundene sowie nicht stoffgebundene Sucht. Bereits vor über 40 Jahren
               wurde gezeigt, dass experimentell induzierte Langeweile sowohl bei krankhaft übergewichtigen
               als auch bei normalgewichtigen Personen zu vermehrter Nahrungsaufnahme führt [1]. Durch äußere Einflüsse bedingte (aufgezwungene) Langeweile kann damit zu Übergewicht
               führen, das sich bekanntermaßen auch dann, wenn der Grund für die Langeweile entfallen
               ist, aufgrund seiner Eigendynamik weiterentwickeln und gar verselbständigen kann.
               Im Hinblick auf die stoffgebundenen Süchte ist ebenfalls seit Jahrzehnten durch eine
               Reihe von Studien bekannt, dass die Bekämpfung von Langeweile sowohl bei Alkohol-
               als auch bei Drogenkonsum ein wichtiges Motiv sein kann [2], [6]–[8], [58], [61], [75], [108].
            Die Auswirkungen von Langeweile auf nicht stoffgebundene Formen der Sucht stehen noch
               nicht so lange im Fokus des wissenschaftlichen Interesses, was vor allem daran liegt,
               dass es diese Süchte erstens früher in dem heutigen Ausmaß nicht gab und man daher
               zweitens auch noch nicht zusammenfassend von ihnen sprach. Nachgewiesen ist mittlerweile,
               dass Langeweile zu vermehrtem, suchtartigen Smartphone-Gebrauch [81], [50], zu Internetsucht [16], [65], [91], [101], Spielsucht und Computerspielsucht [33], [45] führen kann. Zudem erhöht sie das Risiko für den pathologischen Gebrauch von sozialen
               Online-Netzwerken [13], [86] und von Pornografie [11], [25]. Einige Autoren heben hervor, dass gerade die Nutzung aus Langeweile mit langfristig
               nachteiligen Folgen verbunden ist. So bemerken beispielsweise Stockdale und Coyne
               [86] in ihrer Diskussion: „Die aktuelle Studie unterstützt die wachsende Anzahl an Studien,
               die darauf hinweisen, dass die Nutzung von sozialen Online-Netzwerken zur Bekämpfung
               von Langeweile … mit einem erhöhten Risiko verbunden sein kann, pathologische Tendenzen
               und Verhaltensmuster gegenüber sozialen Online-Netzwerken zu entwickeln.[
                  4
                  ]
               
            Man spricht mittlerweile von „Internet-Communication Disorder“ (ICD), die immer nach
               dem gleichen Schema zu entstehen scheint: Langeweile erhöht die Nutzung von sozialen
               Online-Medien (Facebook, WhatsApp, Instagram etc.) durch sehr viele Menschen täglich.
               Nicht wenige von diesen möchten Angst, Alleinsein und eben auch Langeweile, also negative
               Erfahrungen, vermeiden und nutzen aus genau diesem Grund noch mehr soziale Online-Medien.
               Hierdurch entsteht ein Teufelskreis, der Suchtverhalten, einschließlich Craving, Kontrollverlust
               über die eigene Smartphone-Nutzung und noch mehr negativen Affekt bedingt [103]. Die Autoren einer weiteren diesbezüglichen Studie fassen dies wie folgt zusammen:
               „Sowohl Mädchen als auch Jungen mit hoher Neigung zu Langeweile nutzten digitale Medien
               häufiger, gingen weniger Hobbys und Aktivitäten wie Sport nach, nahmen häufiger hochprozentige
               Alkoholika zu sich, waren oft bei Trinkgelagen, und waren stärker von Internetabhängigkeit
               bedroht als nicht gelangweilte Heranwachsende“[
                  5
                  ] [7]. Mit einem dritten Zitat sei dies noch einmal bekräftigt: „Traurigkeit und Depression,
               Langeweile und Stress waren häufige Auslöser einer intensiven Internetnutzung. Der
               Gebrauch sozialer Online-Medien war nahezu universell und im Leben der Teilnehmer
               allgegenwärtig. Schlafmangel, geringe schulische Leistungen, mangelnde körperliche
               Betätigung und die Unfähigkeit zu realen sozialen Kontakten von Angesicht zu Angesicht,
               negativer Affekt und verminderte Konzentrationsfähigkeit waren häufig die Folgen der
               intensiven bzw. übermäßigen Internet-Nutzung“[
                  6
                  ] [64].
            Langeweile kann gerade bei Jugendlichen nicht nur zu Alkohol- und Drogenkonsum sowie
               suchtartigem Medienkonsum führen, sondern steht auch mit vermehrter Risikobereitschaft
               ganz allgemein in Verbindung: Wer als Jugendlicher viel Langeweile erlebt, durchlebt
               auch mehr Versuche, sie durch Risikoverhalten zu bekämpfen, was wiederum weitere gesundheitsrelevante
               Konsequenzen haben kann: Unfälle bei Extremsportarten („sensation seeking“) sowie
               durch Neugierde und „Party-Hopping“ und damit häufigerer Teilnahme am Straßenverkehr
               (mit entsprechend höherem Unfallrisiko), sexuelle Promiskuität (und damit erhöhtes
               Risiko für Geschlechtskrankheiten), vom Abgleiten in kriminelle Milieus – aus Langeweile
               in der freien Zeit – einmal gar nicht zu reden. Darüber hinaus ist Langeweile ein
               ernst zu nehmendes Symptom von Depression [37], Psychosen [38], [85] und Zuständen nach Schädel-Hirn-Trauma in der Rehabilitation [55], [57]. Das Phänomen der Langeweile ist damit für Psychiater und Neurologen alles andere
               als langweilig.
         Geschichte und Definition
         Geschichte und Definition
            Langeweile wurde früher vor allem im moralisch-praktischen Kontext diskutiert, wenn
               es um Maximen der Lebensführung oder der Erziehung und Bildung ging, kaum hingegen
               im naturwissenschaftlichen oder medizinischen Zusammenhang. Nach einem deutschen Sprichwort
               ist die Langeweile „die Not derer, die keine Not kennen“.[
                  7
                  ] Der englische Schriftsteller Horace Walpole (1717–1797) spricht vom „Unglück der
               Glücklichen“. Der Pädagoge und Philosoph Johann Friedrich Herbart (1776–1841) nennt
               sie „die grüßte Sünde“, „eine Sünde, für die es keine Absolution gibt“, ergänzt der
               irische Dramatiker Oscar Wilde (1854–1900). Für die österreichische Erzählerin Marie
               von Ebner-Eschenbach (1830–1916) ist Langeweile „eine Halbschwester der Verzweiflung“;
               „aller Laster Anfang“ ist sie für den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (181
               –1855) und für den alemannischen Dichter Johann Peter Hebel (1760–1826) „wartet die
               Langeweile auf den Tod“, wobei „Tod“ hier nicht das Ableben eines Menschen meint,
               sondern metaphorisch für so etwas wie „völliges Stillehalten“ steht. Und auch wenn
               der französische Dichter Alfred de Vigny (1797–1863) von Langeweile als „des Lebens
               größte Krankheit“ spricht, meint er dies jedoch nicht medizinisch, sondern metaphorisch.
               Der Philosoph Manfred Hinrich (1926–2015) spricht von „Zeitvertreib“ als „Selbstvertreib“,
               „Gummizeit“ und „Predigtprodukt“. Der Aphoristiker Erich Limpach (1899–1965) reimt
               tiefgründig: „Wer über Langeweile klagt, hat zu sich selber nein gesagt.“
            Dass Langeweile den Zielen der Aufklärung – Vernunftfähigkeit und selbstbestimmtes
               Streben nach dem Wahren, Schönen und Guten – widerspricht, wurde klar gesehen: Voltaire
               (1694–1778) bezeichnete Langeweile als „größten Feind des Menschen“, Arthur Schopenhauer
               (1788–1869) nannte sie „Feind des Glücks“ und der Heilpraktiker, Schriftsteller und
               Maler Erhard Blanck (*1942) sprach vom „Zeitvertreib der Dummen“. Wenn Goethe (1749–1832)
               sagt: „Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langweile zu haben, so könnten sie
               Menschen werden“, so dürfte er weniger die Langeweile als vielmehr die Muße oder zumindest
               den Müßiggang im Sinn gehabt haben. Denn gelangweilte Affen wären das Gegenteil von
               aufgeklärten Affen. Entsprechend beklagte der französische Philosoph der Aufklärung
               Montesquieu (1689–1755): „Es gibt Millionen von Menschen, die sich nach Unsterblichkeit
               sehnen – die aber nicht wissen, was sie an einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen
               sollen.“ Aus dieser Sicht ist das begriffliche Gegenteil von, und das moralische Antidot
               für Langeweile nicht die Kurzweil, sondern Erziehung und Bildung: „Make people unboreable!
               – Hilf ihnen so zu werden, dass sie sich nie wieder langweilen“, formuliert der Anglist,
               Autor, Übersetzer und Maler Elmar Schenkel (*1953) die Aufgabe von Pädagogik.
            Eine Systematik lässt sich aus den geäußerten Meinungen zur Langeweile nicht destillieren,
               und schon vor knapp 200 Jahren stellte der Theologe Richard Rothe (1799–1867) fest:
               „Über nichts gehen wohl die Ansichten der Menschen so weit auseinander als über das
               Langweilige.“ Einem Review aus dem Jahr 1981 zufolge beginnt die medizinisch-wissenschaftliche
               Erforschung der Langeweile mit einer im British Medical Journal publizierten Arbeit
               aus dem Jahr 1926 mit dem Titel „Die körperlichen und geistigen Auswirkungen von Monotonie
               in der modernen Industrie“.[
                  8
                  ] Für die Zeit bis 1980 wird die Anzahl der publizierten Arbeiten zum Thema mit „weniger
               als einer pro Jahr“ angegeben ([
                  Abb. 1
                  ]).
             Abb. 1 Aus PubMed abgerufene Statistik zur Anzahl der Arbeiten mit „Langeweile“ („Boredom“)
                  im Titel. Nach dem ersten Eintrag (eine Arbeit im Jahr 1937) gab es in den nächsten
                  8 Jahren keine Arbeit (zweiter und dritter Eintrag in den Jahren 1946 und 1948); 1975
                  gab es erstmals 6 Arbeiten, 2012 war deren Anzahl mit 11 pro Jahr erstmals 2-stellig.
                  In den vergangenen 5 Jahren betrug die Anzahl der jährlich publizierten Arbeiten etwa
                  20 [76].
                  Abb. 1 Aus PubMed abgerufene Statistik zur Anzahl der Arbeiten mit „Langeweile“ („Boredom“)
                  im Titel. Nach dem ersten Eintrag (eine Arbeit im Jahr 1937) gab es in den nächsten
                  8 Jahren keine Arbeit (zweiter und dritter Eintrag in den Jahren 1946 und 1948); 1975
                  gab es erstmals 6 Arbeiten, 2012 war deren Anzahl mit 11 pro Jahr erstmals 2-stellig.
                  In den vergangenen 5 Jahren betrug die Anzahl der jährlich publizierten Arbeiten etwa
                  20 [76].
            
            
            Rein sprachlich lässt sich feststellen, dass wir von Langeweile in 2 Weisen sprechen:
               Einerseits fühlt man sich gelangweilt bzw. es ist einem langweilig zumute. Andererseits
               langweilt einen irgendetwas. Die Langeweile kommt also entweder von innen oder ist
               verursacht durch irgendetwas von außen. Langeweile ist nicht dasselbe wie Apathie.
               Im Gegenteil: Wer apathisch ist, der möchte nichts. A-pathie ist das Fehlen von Leidenschaft;
               heute würde man von fehlender Motivation sprechen. Wer gelangweilt ist, ist durch
               die Abwesenheit von Motivation hingegen genervt und möchte diesen Zustand beenden.
               Auch mit Anhedonie, der Unfähigkeit sich zu freuen, ist Langeweile nicht identisch.
               Zwar erlebt der Mensch im Zustand der Langeweile ebenso wie der Mensch im Zustand
               der Anhedonie keine Freude, aber der Zustand Langeweile ist aversiv und es besteht
               der Wunsch nach Veränderung. Mit der Depression hat Langeweile das quälende Gefühl
               der unendlich langsam dahinziehenden Zeit, der inneren Unruhe und des negativen Affekts
               gemeinsam, sie ist jedoch nicht mit ihr identisch: Statt depressiver bleierner Schwere
               liegt innere Unruhe vor, statt Grübeln um immer wieder das Gleiche werden ständig
               neue Ideen erwogen und verworfen und gegenüber der Dauer einer Depression über Wochen
               und Monate währt Langeweile meist deutlich kürzer.
            Ob Langeweile im Experiment eher zu Frustration führt oder depressiv macht, hängt
               davon ab, wie die Langeweile bei den Versuchspersonen provoziert wird: Wird die Aufgabe,
               deren Bearbeitung zur Langeweile führt, als fremdgesteuert (geringe Autonomie) erlebt,
               kommt es eher zu Frustration. Wird die Bearbeitung der Aufgabe hingegen selbstgesteuert
               erlebt, geht die Langeweile eher mit Depression einher [93].Weil Frustration bei den gesunden Probanden zu mehr Erregung (arousal), Depressivität
               hingegen zu weniger Erregung führt, erklärt dieser Unterschied im Aufforderungscharakter
               von Umständen, die Langeweile auslösen, möglicherweise den Befund, dass die Datenlage
               zum Verhältnis von Langeweile und Erregung (arousal) uneinheitlich ist: mal wurde
               mehr und mal weniger Erregung durch Langeweile gefunden.
            Die genaue Beschreibung der Unterschiede von Langeweile und anderen Zuständen kann
               durch genaue Befragung und statistische Aufarbeitung der Antworten eingeholt werden,
               denn auch mit der psychometrischen Methodik lässt sich Langeweile von den genannten
               Phänomenen abgrenzen [44], und auch von anderen negativ konnotierten Erfahrungen: Traurigkeit (sadness), Wut
               (anger), Enttäuschung (frustration), Angst (fear), Ekel (disgust), Schuld (guilt),
               Scham (shame), Reue (regret) und Enttäuschung (disappointment) [94].
            Was aber genau ist Langeweile? – Die wissenschaftliche Literatur konvergiert in den
               letzten 10 Jahren etwa auf die folgende Definition: Langeweile ist das unangenehme
               Erleben, etwas Sinnvolles, Befriedigendes tun zu wollen, aber nicht zu wissen was
               und zugleich unfähig zu sein, eine solche Aktivität aufzunehmen [24], [27], [29]. Oft wird das Erleben auch als Gefühl (oder gar als Affekt oder Emotion) bezeichnet,
               womit man jedoch schon bestimmte Vorannahmen macht, die man bei erster Näherung vielleicht
               nicht machen sollte. Denn Langeweile könnte man aus psychopathologischer Sicht ebenso
               gut als formale Denkstörung bezeichnen[
                  9
                  ]. Es geht bei ihr nicht um einen bestimmten Inhalt, sondern um eine unangenehme Qualität
               des Denkens. Ihr Gegenteil wäre dann die Ideenflucht, d. h. der vom Betroffenen als
               angenehm (positiv) erlebte rasche Fluss immer neuer, in nur lockerem („assoziativem“)
               Zusammenhang stehenden Gedanken. Betrachtet man nur die affektive Komponente, dann
               ist Muße das Gegenteil von Langeweile, denn bei ihr geht es um das ruhige, oft eher
               assoziative Nachdenken der eigenen Gedanken. Klopft man die vielen Aussagen zu Langeweile
               auf ihren inhaltlichen Kern ab, so zeichnet sich zunächst ab, dass Langeweile immer
               negativ konnotiert ist: Niemand freut sich darüber, dass ihm langweilig ist. Meint
               man Langeweile positiv, spricht man mindestens von Müßiggang oder besser gleich von
               Muße. Diese ist von der Langeweile jedoch klar verschieden, denn ihr fehlt der Drang
               zu ihrer Beendigung und zur Beschäftigung mit etwas anderem.
         State und Trait
            Die genannte Definition lässt das Verständnis von Langeweile sowohl als (von außen
               herbeigeführter) Zustand (state) als auch als Persönlichkeitsvariable (im Hinblick
               auf individuelle Unterschiede) bzw. Persönlichkeitszug (trait) zu. Dies ist wichtig,
               denn je nachdem, ob es bei Langeweile um einen Zustand oder ein Persönlichkeitsmerkmal
               geht, liegen die Dinge anders und es ist auch anders damit umzugehen. Betrachten wir
               kurz die Angst als Analogie: Auch sie gibt es als Zustand (vor einem wilden Tier Angst
               haben) und als Persönlichkeitsvariante (ängstliche, d. h. zur Angst neigende Person,
               grundlos oder mit schwer nachvollziehbarem Grund). In klinischer Hinsicht – wenn es
               um Ursachen (Diagnose) und Therapie geht – ist die Unterscheidung von Zustand und
               Persönlichkeitszug immer wichtig. Gegen Langeweile beispielsweise aufgrund einer aufgezwungenen,
               monotonen Tätigkeit oder aufgrund von Müdigkeit kann man etwas tun, ein Persönlichkeitsmerkmal
               – und damit auch die Neigung zur Langeweile – hingegen ist definitionsgemäß stabil
               und nur schwer zu ändern.
            Der Zustand der Langeweile ist nicht nur durch negativen Affekt, sondern auch durch
               Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, gekennzeichnet. Wir sind nicht bei irgendetwas,
               nichts fesselt uns, wir driften weg, unsere Gedanken wandern ungeordnet und unproduktiv.
               Hinzu kommt die Veränderung des Zeiterlebens, die zumindest im Deutschen dem Zustand
               seinen Namen gegeben hat: Die Zeit wird als langsam vergehend erlebt, zieht sich endlos
               langsam dahin. Wenn wir gerade etwas tun, dann wird diese Tätigkeit als sinnlos erlebt.
               Schließlich sind wir zugleich oder in raschem Wechsel antriebsarm und unruhig.[
                  10
                  ]
               
            Im Rückgriff auf den Psychoanalytiker Otto Fenichel haben Danckert und Eastwood [24] den Zustand der Langeweile mit einem ganz anderen Zustand verglichen: Dabei geht
               es um das Erleben, dass einem das Wort auf der Zunge liegt, es einem jedoch nicht
               einfällt, obwohl man genau weiß, dass man es weiß. Dieser Zustand (im Englischen spricht
               man vom „tip-of-the-tongue“ oder „ToT“ state) ist unangenehm: Man sucht nach etwas,
               weiß oft den Anfangsbuchstaben oder die Anzahl der Silben des Wortes bzw. kann sich
               das Gemeinte oft visuell vorstellen und wünscht es sich herbei. – Vergeblich. Je heftiger
               man darüber nachdenkt und das Wort herbeiwünscht, desto geringer ist die Chance auf
               Erfolg. Der stellt sich dann meist völlig aus dem Nichts ein, also wenn man gerade
               nicht daran denkt. Linguisten und Psychologen haben diesen Zustand schon vor Jahrzehnten
               sehr gut untersucht [63], sodass man über diesen Zustand deutlich mehr weiß als über den der Langeweile.
               Auch der ToT-State ist eine formale Denkstörung (wenn er häufig auftritt, spricht
               man von einer Wortfindungsstörung), hat eine aversive emotionale Qualität und ist
               mit dem Streben nach der Beendigung des Zustands verknüpft. Im Gegensatz zum ToT-State
               geht es bei der Langeweile jedoch nicht um ein Wort, das man sucht, sondern um eine
               sinnvolle Tätigkeit. Hat man sie gefunden, ist die Langeweile weg. In seinem Werk
               Anna Karenina bezeichnet Leo Tolstoi die Langeweile als „Wunsch nach Wünschen.“ Sobald
               man einen gefunden hat, ist er weg. Halten wir fest, dass der Zustand der Langeweile
               die folgenden Charakteristika aufweist:
            
               
               - 
                  
                  negativer Affekt, 
- 
                  
                  Konzentrationsschwierigkeiten, 
- 
                  
                  Langwerden der erlebten Zeit, 
- 
                  
                  Sinnlosigkeit des gerade Erlebten bzw. Getanen, 
- 
                  
                  Kombination aus bzw. rascher Wechsel von Lethargie und Unruhe, 
- 
                  
                  Streben nach der Beendigung des Zustands. 
Wer schon einmal einen Berg Wäsche aufhängen, auf einen verspäteten Zug warten oder
               irgendeiner „Sitzung“ beiwohnen musste, der weiß, wie sich der Zustand der Langeweile
               anfühlt. Die Liste von solchen möglichen externen Auslösern von Langeweile ist lang.
               Versucht man eine Systematik, so lassen sich die Eintönigkeit (Monotonie) einer Tätigkeit,
               das ständige Widerholen der gleichen Tätigkeit, d. h. die Abwesenheit von Veränderung,
               die Sinnlosigkeit einer Tätigkeit, eine schlechte Passung zwischen dem, was einer
               tun soll und dem, was er tun kann, sowie der äußere Zwang zu einer Tätigkeit als Merkmale
               von Situationen identifizieren, die Langeweile auslösen.
            Mit monotonen Situationen wird auch im Experiment versucht, Langeweile zu erzeugen:
               man führt irgendeine langweile Tätigkeit am PC aus, schaut ein langweiliges Video
               (z. B. von Männern, die Wäsche aufhängen[
                  11
                  ]), oder tut einfach nur etwas völlig Sinnloses. Interessanterweise wird auch die
               vermeintlich langweiligste Tätigkeit dann gerne ausgeführt, wenn man einen Sinn darin
               sieht: „Das ist gesund“ reicht heutzutage dafür aus, dass Menschen für das Ausführen
               von extrem langweiligen Tätigkeiten sogar bezahlen. Etwas tun zu müssen, was man nicht
               kann, erzeugt sehr rasch Langeweile. Eine gute Passung zwischen Anforderung und Können
               ist dagegen ein Merkmal des Erlebens von Flow, einem weiteren Gegenteil von Langeweile:
               Man ist nicht (wie bei der Langeweile) bei sich, sondern ganz bei der Sache und die
               Zeit verfliegt im Nu. Und nicht zuletzt wird das Ganze äußerst angenehm empfunden.
            Struk und Mitarbeiter [89] gingen der Frage nach, ob Langeweile eher auftritt, wenn die die Möglichkeit zu
               interessanten Tätigkeiten klar vor Augen liegt. Hierzu wurden die Teilnehmer entweder
               in einem Raum mit vielen möglichen Möglichkeiten der Betätigung untergebracht (Laptop,
               Puzzle usw.; n = 121), oder sie wurden in einen leeren Raum geführt (Kontrollbedingung;
               n = 107). In beiden Fällen wurden die Teilnehmer angewiesen, nichts weiter zu tun
               als nachzudenken, d. h. die Teilnehmer in der Experimentalbedingung sollten sich nicht
               mit den verfügbaren Optionen beschäftigen. Unter dieser Bedingung berichteten die
               Teilnehmer über ein höheres Maß an Langeweile im Vergleich zu den Teilnehmern in der
               Kontrollbedingung. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass unter bestimmten Bedingungen
               Umgebungen, in denen alternative Aktivitäten möglich und die damit „weniger langweilig“
               sind, zu mehr Langeweile führen können als solche, in denen keine Aktivitäten möglich
               sind.[
                  12
                  ]
               
            Allgemein ist festzuhalten, dass den sachlichen Gegebenheiten einer Situation keineswegs
               anzusehen ist, wie sie erlebt wird: Der eine findet das Sortieren und Einkleben von
               bunten Papierschnipseln langweilig, der andere sammelt für sein Leben gerne Briefmarken.
               Den einen langweilt eine grüne Wiese, der andere ist fasziniert von der Artenvielfalt;
               des einen Lärm ist des anderen Musik. Ob etwas langweilig ist oder nicht, hängt damit
               nicht von den objektiven Gegebenheiten ab, sondern vom subjektiven Erleben. Und dieses
               wiederum hängt von der Bildung eines Menschen ab: Dem Philatelisten geht es um Postwertzeichen
               aus verschiedenen Ländern und Zeiten, dem Biologen um Details von Tieren und Pflanzen,
               dem Musikfreund um die Holzbläser im zweiten Satz. Des einen Langeweile ist des anderen
               Beschäftigung, in die er tief versunken ist. Es deutet sich also an, dass das Antidot
               gegen Langeweile nicht der Zeitvertreib ist, sondern Bildung. Ob einen Papierschnipsel,
               Wiesen, Musik, die Sterne oder Wolken langweilen oder nicht, hängt vor allem von der
               eigenen Bildung ab. (Um den Reigen zu ergänzen: Des einen langweiliger „Himmel“ ist
               dem Meteorologen tags und dem Astronomen nachts Schauplatz spannendster Phänomene.)
               Dies erklärt auch zwanglos, warum Kinder und Jugendliche sich öfter langweilen als
               Erwachsene: Wer aufgrund seines geringen Alters noch wenig Erfahrungen gemacht hat,
               erlebt die Welt undifferenzierter, weswegen sie ihm langweiliger vorkommt. Umgekehrt:
               Je mehr einer kann und weiß, desto weniger wird es ihm langweilig werden.
            Damit sind wir auch schon bei den Unterschieden zwischen Menschen im Hinblick darauf,
               wie groß ihre Anfälligkeit für bzw. Neigung zur Langeweile ist (im Englischen spricht
               man von „boredom proneness“). Man hat schon vor Jahrzehnten einen Fragebogen entwickelt,
               um diese Neigung zur Langeweile zu erfassen, die Boredom Proneness Scale (BPS; [31]) mit 28 Fragen. Mittels Faktorenanalysen wurde gefunden, dass diese Skala mindestens
               2 Faktoren ausweist, einen internen (trait; “Mangel an interner Stimulation”) und
               einen externen (state; “Mangel an externer Stimulation”; [96]–[100]). Später wurde daraus eine Kurzform entwickelt, die in [
                  Tab. 1
                  ] wiedergegebene Short Boredom Proneness Scale (SBPS; [87]). Mithilfe von Fragebögen dieser Art (es gibt eine ganze Reihe davon[
                  13
                  ]) wurde gefunden, dass jüngere Menschen eher Langeweile erleben als ältere [55], [99] gebildetere weniger als ungebildete, und das Menschen mit viel Selbstkontrolle weniger
               Langeweile aufweisen [23], [109].
            
               
                  
                     Tab. 1
                     
                     
                     8 Items der Short Boredom Proneness Scale (SBPS; [87], Übersetzung durch den Autor). Die Autoren empfehlen nur 5-stufige Antworten (Likert-Skala
                        von „nie“, „selten“ über „manchmal“ bis „öfter“ und „oft oder immer“), weil es vielen
                        Menschen schwerfällt, ihre inneren Zustände genauer (z. B. 7-stufig) einzuschätzen.
                     
                  
                     
                     
                        
                        | Nr. | Item | 
                     
                  
                     
                     
                        
                        | 1 | Ich verliere öfter den Faden und weiß nicht, was ich tun soll. | 
                     
                     
                        
                        | 2 | Es fällt mir schwer, mich selbst zu unterhalten. | 
                     
                     
                        
                        | 3 | Viele Dinge, die ich tun muss, wiederholen sich und sind monoton. | 
                     
                     
                        
                        | 4 | Im Vergleich zu den meisten Menschen brauche ich mehr Anregung, um in Schwung zu kommen. | 
                     
                     
                        
                        | 5 | Bei vielem was ich tue, fühle ich mich nicht motiviert. | 
                     
                     
                        
                        | 6 | In den meisten Situationen fällt es mir schwer, etwas zu finden oder zu tun, was mein
                              Interesse weckt. | 
                     
                     
                        
                        | 7 | Die meiste Zeit sitze ich einfach nur herum und tue nichts. | 
                     
                     
                        
                        | 8 | Wenn ich nicht gerade etwas Aufregendes oder gar Gefährliches tue, fühle ich mich
                              halbtot und stumpf. | 
                     
               
             
            
            Mehrere Arbeitsgruppen gingen der Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Neigung
               zu Langeweile und der Persönlichkeit (erfasst mit standardisierten Fragebögen nach).
               Im bekannten 5-Faktor-Modell[
                  14
                  ] korrelierte die Neigung zur Langeweile positiv mit Neurotizismus, wie schon frühere
               Studien zu Langeweile bei der Arbeit ergaben. Im 6-Faktor Modell[
                  15
                  ] [53] ergab eine Studie an 288 College-Studenten ebenfalls eine positive Korrelation mit
               Emotionalität (r = 0,18, p = 0,004). Negative Korrelationen zwischen der Neigung zur
               Langeweile und den anderen 5 Faktoren waren ebenfalls signifikant: Ehrlichkeit, Bescheidenheit
               (r = −0,29, p < 0,001), Extraversion (r = −0,57, p < 0,001), Verträglichkeit (r =
               −0,23, p < 0,001), Gewissenhaftigkeit (r = −0,44, p < 0,001) und Offenheit für neue
               Erfahrungen (r = −0,29, p < 0,001). Ganz ähnliche Korrelationen ergab eine Studie
               an 316 College-Studenten. Weiterhin wurde über Korrelationen von Langeweile mit Wut[
                  16
                  ] [19] und mit Narzissmus [96] aber auch mit Neugierde berichtet (wenn man die Persönlichkeitsfaktoren zuvor herausrechnet,
               also nur den State betrachtet [52]).
         Zur Funktion der Langeweile
         Zur Funktion der Langeweile
            Nach herkömmlicher Auffassung hat Langeweile keine Funktion. Es gibt sie einfach,
               sie verfliegt meist auch wieder rasch (und wenn nicht, geht es um mehr als „nur“ Langeweile,
               also z. B. um eine Depression, Sucht oder ein Frontalhirnsyndrom) und hat ansonsten
               keine weiteren Folgen. Diese Sicht von Langeweile als ephemer und folgenlos ist im
               vergangenen Jahrzehnt der Erkenntnis gewichen, dass Langeweile durchaus eine bedeutende
               Funktion hat: Der Zustand bewirkt, dass wir uns etwas Neuem zuwenden [3], [4], [21], [27], [28], [95]. Dieses Neue muss gar nicht angenehm sein (wie von „einfachen“ ökonomischen Theorien
               angenommen wird: wir suchen positive Erfahrungen und vermeiden negative), sondern
               einfach nur neu, denn die Langeweile wird negativ erlebt, und ein neues Erlebnis ist
               besser als keines.
            In einer viel beachteten, hochrangig im Fachblatt Science publizierten experimentellen
               Untersuchung wurde gezeigt, dass Menschen, die sich langweilen, weil sie nichts tun
               sollen außer über sich nachzudenken, aus diesem Grund beginnen, sich nach wenigen
               Minuten Schmerzen zuzufügen [107]. In einer weiteren Studie wurde gezeigt, dass ein langweiliges Video nicht nur zu
               einem erhöhten Konsum von Schokolade, sondern auch zu sich selbst zugefügten schmerzhaften
               Elektroschocks führt [49]. Eine dritte Studie zeigte, dass dieses Verhalten spezifisch für die Langeweile
               ist und nicht bei einem anderen negativen Affekt (Trauer) auftritt [74]: Insgesamt 69 Teilnehmer sahen sich einen monotonen oder traurigen oder neutralen
               Film-Clip an, währenddessen sie sich selbst Elektroschocks verabreichen konnten. Im
               Vergleich zu Trauer und einem neutralen Affekt verabreichten sich die Teilnehmer im
               Zustand der Langeweile selbst mehr Schocks und mit höherer Intensität. Der Effekt
               der Langeweile war bei Teilnehmern mit einer Vorgeschichte von nicht-suizidalem selbstverletzenden
               Verhalten ausgeprägter, d. h. dass es bei manchen Menschen eher gewohnheitsmäßig auftritt.
            3 weitere Experimente konnten ebenfalls zeigen, dass Langeweile dazu führt, dass den
               Menschen neue negative Erfahrungen lieber sind als keine neuen Erfahrungen und damit
               die Fortsetzung des Zustands der Langeweile [4] „Über 3 Studien hinweg wählten gelangweilte Teilnehmer mit höherer Wahrscheinlichkeit
               neue Erfahrungen und Erlebnisse, die einen anderen Affekt hervorrufen (selbst wenn
               er negativ ist). Darüber hinaus […] führte größere Langeweile zu einem größeren Bedürfnis
               nach Veränderung und dieses wiederum führte zu einer größeren Wahrscheinlichkeit,
               sich für eine neue negative Erfahrung zu entscheiden“ [4]. Die Autoren hatten schon Jahre vorher die Hypothese vertreten, dass Langeweile
               ein Indikator dafür ist, dass eine gegenwärtige Situation ihren potenziellen Wert
               verloren hat. Sie bewirkt damit das Verfolgen neuer, alternativer Ziele und Erfahrungen
               [3]. „Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung stützen diese Hypothese und zeigen,
               dass Langeweile das Streben nach alternativen (noch negativeren) Erfahrungen motivieren
               kann. […] Außerhalb des Labors könnte dieses, die Langeweile begleitende Streben nach
               negativen Erfahrungen in einer Reihe von Hoch-Risiko-Verhaltensweisen mit potenziell
               schwerwiegenden Konsequenzen resultieren“, schreiben die Autoren in ihrer Diskussion
               [4].
            Genau dies wurde oben bereits beschrieben: Langeweile kann zu Suchtverhalten, Unfällen,
               Geschlechtskrankheiten und Selbstverletzungen führen. Dies muss jedoch nicht der Fall
               sein. Denn ganz grundsätzlich ist die Funktion des Zustands der Langeweile, dass wir
               unser Verhalten ändern, d. h. eine Tätigkeit aufgeben, weil sie zu nichts führt, und
               uns einer sinnvolleren, befriedigenderen, einträglicheren oder anderweitig höher zu
               bewertenden Tätigkeiten zuzuwenden. Der Zustand Langeweile ist ein Indikator für eine
               Art „Mini-Existenzkrise“, in der wir mit der Frage „was soll ich eigentlich tun?“
               konfrontiert sind [105], und die uns zu Neuem streben lässt. Man kann die Langeweile mit Schmerzen vergleichen.
               Diese habe nicht die Funktion, uns weh zu tun, sondern die, uns anzuzeigen, dass mit
               unserem Körper genau da, wo es weh tut, irgendetwas nicht stimmt. Sie bewirken weiterhin
               Verhaltensänderungen wie Schonhaltung bei einem überdehnten Gelenk oder Ruhe bei einer
               Entzündung.
         The Big Picture: Langeweile, Energie und Information
         The Big Picture: Langeweile, Energie und Information
            Alles Leben beruht auf dem Verbrauch von Energie. Diese kommt von der Sonne und führt
               in Pflanzen zur Synthese energiereicher Verbindungen und damit zu Wachstum und Weiterverbreitung.
               Wer selbst keine Sonnenenergie verwenden kann (Pilze, Pflanzen- und Fleischfresser
               sowie Bakterien auf oder im Meeresboden) ist auf bereits vorhandene, chemisch gespeicherte
               Energie angewiesen, die es zu finden gilt. Daher bewegen sich alle Tiere, denn sie
               verbrauchen besonders viel Energie (wenn sie sich wie Panda-Bären oder Faultiere von
               sehr energiearmer Nahrung ernähren, bewegen sie sich nur langsam). Einzeller im Meeresboden,
               unbeweglich und völlig ohne Licht, verbrauchen unfassbar wenig Energie [12].
            Wer sich bewegt, muss wissen wohin. Daher sind Tiere mit einem Nervensystem ausgestattet,
               das ihnen erlaubt, auf ihre Umgebung zu reagieren. Dies geht besser, wenn nicht nur
               auf Reize mit einer Reaktion reagiert wird, sondern wenn das Nervensystem ein Modell
               der Außenwelt anhand seiner Erfahrungen in ihr gebildet hat. Wenn ich nur dann zubeiße,
               wenn ich zufällig mit den Lippen an einen Apfel stoße, habe ich schlechtere Überlebenschancen
               als wenn ich weiß, dass der dritte Baum hinter der Flussbiegung schon letztes Jahr
               sehr viele Früchte getragen hat. Je mehr ich gelernt habe und je besser ich damit
               anhand meines Modells der Welt Vorhersagen machen kann, desto besser komme ich durch.
               Dies gilt übrigens auch für Roboter, die in der wirklichen Welt irgendeine Aufgabe
               erfüllen sollen.
            Gehirne lernen und ermöglichen dadurch ein immer zuverlässiges Model der Welt. Wir
               sehen keine Pixel, sondern Brot, Butter, Käse, Tische und Stühle, was uns eine effiziente
               Mahlzeit erlaubt. Das Gehirn verarbeitet daher auch nicht Pixel, sondern Symbole der
               Dinge in der Welt. „Ein paar der Pixel, die mir gestern beim Abendessen noch weiß
               erschienen, sind jetzt grau.“ So reden wir nicht. Stattdessen sagen wir: „Der Käse
               ist schimmlig.“ Wir bemerken also den Unterschied im Weltmodell und nicht in den Pixeln.
               Der Code, den das Gehirn verwendet, ist nach Meinung vieler Neurowissenschaftler sowie
               Spezialisten für Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen (welche sich immer
               mehr annähern; die besten sind beides in Personalunion) daher darauf ausgerichtet,
               die Unterschiede zwischen der Welt und dem Weltmodell zu minimieren: Gelernt wird
               immer, d. h., das Weltmodell wird immer dann modifiziert, wenn unsere Vorhersage falsch
               ist. Nur diese Abweichungen vom Modell bringen uns weiter. Der Rest ist redundant.
               Daher werden auch nur Abweichungen verarbeitet – von einem System (dem Gehirn), dessen
               Ziel (durch Lernen) es ist, die Abweichung von der Vorhersage des internen Modells
               zu minimieren. Man spricht von Predictive coding. „Predictive coding aims at reducing
               redundancy for signal transmission efficiency and it is proposed as a unifying mathematical
               framework for understanding information processing in the nervous system,“ formulieren
               2 Wissenschaftler in einer Übersicht [46]. Und weiter: „In the predictive coding framework the brain tries to infer the causes
               of the body sensations based on a generative model of the world. This inverse problem
               is famously formalized by the Bayes rule. The idea behind this model is that somewhere
               in the brain there is a decision signal that encodes hypotheses about the sensorial
               information that is being processed. When incoming sensorial data fully agree with
               beliefs, prediction error signal becomes stationary. Thus, the system reaches an equilibrium
               characterized by sampling data from the environment in such a way that the system
               is never surprised“ [46].
            Ein Gedankenexperiment [34] brachte diese mühsam erarbeitete Sicht des Gehirns als Bayes’sche Vorhersagemaschine
               [35] zu Fall: Ein Organismus, der sich gemäß der Predictive Coding Theorie verhält, sollte
               irgendwann in einem stockdunklen Raum, in dem nichts ist, verschwinden. Dort stimmt
               seine Vorhersage („dunkel“) immer und er ist im Gleichgewicht. Ganz offenbar verhalten
               sich Organismen aber nicht so, denn sonst würden sie verhungern. Jegliches Leben ist
               immer ein Fließgleichgewicht, und damit etwas fließt, braucht es Energie. Um seine
               Homöostase aufrecht zu erhalten, muss der Organismus sich aufmachen und Energie suchen.
               Und das Suchen nach Energie gelingt umso besser, je besser das interne Modell der
               Welt ist, d. h. je mehr hilfreiche Informationen vorliegen. Deswegen ist es nicht
               zweckmäßig, den Vorhersagefehler auf ein Minimum zu reduzieren. In diesem System könnte
               das Erleben von Langeweile das interne Signal sein, die Suche nach Informationen zu
               beginnen, die noch nicht im Modell enthalten sind, um das Modell zu verbessern. So
               wie Organismen das Erleben von Hunger als (aversives) Signal dient, nach Energie zu
               suchen, dient die Langeweile der Suche nach Informationen.
            Damit steht der Organismus vor einem neuen Problem: In jedem Moment muss er entscheiden,
               was er tun soll: soll er die aktuelle Situation weiter ausnutzen und Energie aufnehmen
               oder nach Informationen suchen? Zur Lösung dieses mittlerweile zu einer der Grundfragen
               der Biologie gehörenden Problems – to explore or to exploit? – kann Langeweile beitragen:
               Wie uns der Hunger zum Essen bringt, bringt uns die Langeweile zum Lernen. Wenn wir
               sie erleben, werden wir kreativ, so die Grundthese der Arbeit von Gomez-Ramirez und
               Costa. Daher essen wir nicht nur immer an demselben Ort, selbst wenn es da genug zum
               Essen gibt. Es wird uns langweilig und wir machen uns auf, um einen anderen Ort zu
               suchen. Nur so besteht überhaupt die Wahrscheinlichkeit, einen besseren Ort zu finden.
               Bleiben und konsumieren oder gehen und studieren – diese Frage stellt sich jedem Tier
               dauernd und uns Menschen erst recht.
            Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird auch klar, warum Kinder mehr Langeweile
               haben als Erwachsene. Wie die Entwicklungspsychologin Alison Gopnik [47] ausführt, kann man die Kindheit als Auflösung des explore-exploit-Problems angesehen
               werden: Die Evolution hat uns Menschen mit einer vergleichsweise sehr langen Kindheit
               ausgestattet. In dieser Zeit der beschützten Existenz ohne Zwang zum Suchen oder zur
               Produktion von Nahrung können die Kinder spielen, d. h. kreativ Neues ausprobieren,
               unterschiedlichste Hypothesen testen und damit nahezu unendlich viel lernen. Hierzu
               müssen sich Kinder dauernd aufmachen, und das Signal dazu ist die Langeweile. Kinder
               erleben diesen Zustand oft und reagieren darauf entsprechend – mit Neugier und Lernen.
               Bei einer Spezies, die darauf spezialisiert ist, nicht spezialisiert auf die Welt
               zu kommen, aber überall lernen zu können, um zurecht zu kommen, ist dies keineswegs
               trivial. Auch im Tierreich gibt es Spiel und Neugier, aber nur beim heutigen Menschen
               spielt diese Zeit eine ganz entscheidende Rolle zur Transmission und ständigen Weiterentwicklung
               von Kultur. Kinder fangen schon mit 11 Monaten an, Hypothesen zu testen, als 2-Jährige
               verhalten sie sich wie kleine Wissenschaftler [48], explorieren mehr und lernen schneller als Erwachsene; ihre Strategie ist „explore
               first and exploit later“.
         Was tun gegen Langeweile?
         Was tun gegen Langeweile?
            Langeweile wird zum Problem, wenn wir falsch auf sie reagieren, die begleitende Unruhe
               und Mini-Existenzkrise (Angst!) mit Alkohol, Drogen oder einem sinnlosen „Zeitvertreib“
               bekämpfen anstatt mit der Zuwendung zu Neuem, Kreativität und Lernen. Gegen Langeweile,
               die einem „von außen aufgedrückt“ wird, beispielsweise eine monotone Tätigkeit am
               Arbeitsplatz, kann man sich (hoffentlich!) wehren, den Zeitvertreib hingegen gilt
               es erstens zu erkennen und zweitens zu vermeiden, denn er kann chronisch werden.
            Betrachten wir noch einmal den Zustand des „auf der Zunge Liegens“ eines Wortes. Eines
               der vielen, oft ziemlich genialen Experimente zu diesem Zustand konnte zeigen, dass
               er gelernt werden kann [102]: Die Autoren verwendeten ein bewährtes Verfahren zur Herbeiführung dieses Zustands
               und baten die Teilnehmer, das Wort zu nennen, das zu einer bestimmten Definition passt.
               Jedes Mal, wenn die Teilnehmer angaben, dass sie ein Wort kennen, es ihnen aber jetzt
               gerade nicht einfällt, wurden sie gebeten, weiter zu versuchen, das Wort zu erinnern
               – zufallsverteilt entweder für 10 oder für 30 Sekunden. Danach wurde ihnen das Wort
               gesagt. Nach 48 Stunden kehrten die Teilnehmer ins Labor zurück und wurden nochmals
               gebeten, die Wörter für die gleichen Definitionen wie am ersten Tag zu nennen. Die
               Ergebnisse zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Wörter, die für 30 Sekunden
               auf der Zunge lagen, fast doppelt so häufig beim zweiten Durchgang auch auf der Zunge
               lagen verglichen mit Wörtern, die nur für 10 Sekunden auf der Zunge lagen. Sie interpretieren
               diesen Befund im Lichte des prozeduralen Lernens (von Sprache), von dem allgemein
               bekannt ist, dass man dabei Fehler (mit-)lernen kann: „Wir argumentieren, dass diese
               längere Verzögerung in einem ToT-Zustand auf ein größeres implizites Lernen des fehlerhaften
               Zustands hinausläuft“ [102].
            Nimmt man an, dass auch im Zustand der Langeweile implizites Lernen stattfindet, so
               werden auch die Handlungen gelernt, mit denen man Langeweile bekämpft. Und genau hier
               liegt heute das Problem. Nach einem deutschen Sprichwort ist der „Zeitvertreib die
               schlechteste Medizin“ gegen Langeweile. Aus medizinischer Sicht kann man ergänzen:
               Zeitvertreib gegen Langeweile ist wie Rotwein gegen Alkoholentzugssymptome: Kurzfristig
               hilft er, aber langfristig macht er das Problem nur noch schlimmer. Denn die Langeweile
               soll je gerade bewirken, dass wir uns einer neuen Sache oder Tätigkeit ernsthaft zuwenden,
               um dadurch Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die wir später zur Lebensbewältigung
               brauchen. Um es mit dem deutschen Dichter und Autor Friedrich Löchner (1915–2013)
               zu sagen: „Langeweile ist ein Trick der Natur, uns zu Taten anzuspornen.“
            Wer also seine Zeit totschlägt, weil er sich langweilt, verhält sich wie jemand, der
               Salzwasser gegen den Durst trinkt. Man wird noch durstiger bzw. noch gelangweilter.
               Aus Langeweile Fernsehschauen, Daddeln, Computerspielen und das ständige Nutzen von
               sozialen Online-Medien wie Facebook ist wie Salzwasser gegen den Durst trinken. Im
               Lichte der in dieser Übersicht gemachten Ausführungen ist klar, dass dies nicht dem
               Ziel entspricht, weswegen die Evolution Langeweile in uns eingebaut hat. Wie erwähnt,
               ist Langeweile zudem ein Hauptmotor nicht nur für stoffgebundene Süchte wie Alkoholismus
               oder Kokainismus, sondern auch für Spielsucht, Smartphone-Sucht, Facebook-Sucht oder
               Internet-Sucht. Denn dank des immer vorhandenen kleinen tragbaren Internetzugangs
               wird Langeweile heute ständig mit digitalem Zeitvertreib bekämpft. Damit werden diese
               Zeitvertreibe gelernt, d. h. noch weiter eingeübt. Fragt man Kinder und Jugendliche,
               warum sie so viel Zeit mit Bildschirmmedien verbringen, ist die Antwort immer die
               gleiche: mir ist sonst langweilig.
         Langeweile in Zeiten von Covid-19
         Langeweile in Zeiten von Covid-19
            Eine große Umfrage in der französischen Bevölkerung (n = 4364, 3436 weiblich; mittleres
               Alter 41,5 Jahre) zu den Erfahrungen während des Covid-19-bedingten Lockdowns im Vergleich
               zur Zeit davor zeigte, dass die Menschen während des Lockdowns eine Verlangsamung
               der Zeit erlebten. Diese Zeitverzögerung wurde nicht durch die (ebenfalls erfassten)
               wahrgenommenen Stress- oder Angstzustände erklärt (obwohl diese beträchtlich waren),
               sondern vielmehr durch die Zunahme von Langeweile und Traurigkeit während der Lockdown-Situation
               [26]. Die zunehmende Wut und die Angst vor dem Tod erklärten nur einen kleinen Teil der
               Varianz im Zeiturteil. Die Autoren halten bewusstes Erleben der Zeit daher eher für
               einen Ausdruck der psychologischen Schwierigkeiten während des Lockdowns. Über Stress
               und Angst wurde in den letzten Monaten der Corona-Berichterstattung viel geschrieben,
               über Langeweile dagegen kaum, obgleich diese nach der vorliegenden Umfrage das Erleben
               der Menschen in nicht geringem Maß bestimmte. Die Befragung von 250 Kindern im Alter
               von 3–12 Jahren ergab ebenfalls neben Angst, Sorgen, Einsamkeit, Traurigkeit und Wut
               auch Langeweile als Reaktion auf den Lockdown [73].
            Dass der Langeweile beim Lockdown größere Beachtung beigemessen werden sollte, zeigte
               eine Studie zum Einfluss der Langeweile auf das Einhalten der Maßnahmen der körperlichen
               Distanzierung zur Eindämmung der Pandemie [109]. Die Autoren untersuchen die Auswirkungen von Langeweile und Selbstkontrolle auf
               das Einhalten der Richtlinien zum körperlichen Abstandhalten bei 895 Personen in den
               USA am 8. und 9. April 2020. Beide Merkmale wirkten sich tatsächlich aus: Personen
               mit hoher Langeweile empfanden das Abstandhalten als schwieriger, was dazu führte,
               dass dies weniger eingehalten wurde. Im Gegensatz dazu hielten sich Personen mit hoher
               Selbstkontrolle mehr an die Richtlinien, unabhängig von deren Schwierigkeit. Die Studie
               zeigte in systematischer Hinsicht nochmals den oben bereits diskutierten negativen
               Zusammenhang zwischen Langeweile und Selbstkontrolle und hat erhebliche Relevanz für
               die Epidemiologie von Pandemien. Eine exploratorische Analyse der Daten zeigte ferner,
               dass größere Langeweile sogar mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, mit SARS-CoV-2
               infiziert und in Quarantäne zu sein, einherging. Wen wundert’s? – Wer öfters Langeweile
               erlebt und sich daher auch öfters aufmacht, der bleibt eben nicht daheim, sondern
               steckt sich an! Das Explorieren kann in Zeiten einer Pandemie nachteilig werden. Ein
               Lockdown entspricht nicht unserer evolutionären Vergangenheit. Da mathematische Modelle
               zeigen, wie wichtig es ist, dass bei allgemeinen Maßnahmen im öffentlichen Raum alle
               (bzw. sehr viele: z. B. 90 %) mitmachen, ist die Langeweile von Einzelnen jedoch nicht
               nur für diese selbst von Bedeutung, sondern für die gesamte Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft
               braucht Regeln und muss für deren Einhaltung sorgen, um zu funktionieren. Erwachsene
               wissen das und können es daher auch besser als Kinder, die wiederum den Lockdown am
               schlechtesten vertragen.
            Es ist unbedingt im Interesse der Gemeinschaft, sich über die Langeweile Gedanken
               zu machen, auch wenn nicht alle gelangweilt sind. Denn die Folgen gehen alle an. Zeitvertreib
               macht Langeweile zum Problem und macht vor allem noch mehr Langeweile. In Zeiten des
               überbordenden, allgegenwärtigen und nahezu permanenten Zeitvertreibs – Jugendliche
               schauen alle paar Minuten auf ihr Smartphone – und zugleich der Pandemie wird dies
               zum Problem für alle.