Gesundheitswesen 2020; 82(06): 507-513
DOI: 10.1055/a-1174-0086
Zur Diskussion

Covid-19: Eine Ad hoc Public-Health-Ethikberatung

Covid-19: An ad hoc public health ethics consultation
1   Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München
,
Alena Buyx
2   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München
,
Samia Hurst
3   Institute For Ethics, History, and The Humanities, University of Geneva, Switzerland
,
Christian Munthe
4   Department of philosophy, linguistics and theory of science and the Centre for antibiotic resistance research (CARe), University of Gothenburg, Gothenburg, Sweden
,
Annette Rid
5   Department of Bioethics, The Clinical Center, National Institutes of Health, USA, Bethesda, United States
,
Peter Schröder-Bäck
6   Department of International Health, School for Public Health and Primary Care (caphri), Maastricht University, Maastricht, Netherlands
7   Faculty of Human and Health Sciences, University of Bremen
,
Daniel Strech
8   QUEST Center – Quality, Ethics, Open Science, Translation, Berlin Institute of Health (BIH)
9   Charité – Universitätsmedizin Berlin
,
Alison Thompson
10   Leslie Dan Faculty of Pharmacy, University of Toronto, Toronto, Canada
› Author Affiliations
Funding Teile dieser Arbeit wurden gefördert durch Bundesministerium für Bildung und Forschung, Nr. 01GP1791
 

Zusammenfassung

In diesem Dokument beschreiben wir den Prozess und den Inhalt einer ad hoc Public-Health-Ethikberatung vom 22. März 2020 für eine regionale Gesundheitsbehörde (Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit) zu Entscheidungen im Zusammenhang mit Covid-19.


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Abstract

In this paper we describe the process and content of our ad hoc public health ethics consultation for a Bavarian health authority in relation to Covid-19.


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Einleitung

Die aktuelle Covid-19-Pandemie stellt alle Beteiligten vor enorme Herausforderungen und verschiedene Institutionen vor sehr schwierige Entscheidungen. Als in Bayern erste Kontakteinschränkungen zur Einschränkung der Pandemie ausgesprochen wurden, stellte das in besonderer Verantwortung stehende Landesinstitut für Gesundheit am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit am 19. März 2020 vier dringliche Fragen zu ethischen Aspekten von anstehenden Schutzmaßnahmen der öffentlichen Gesundheit an die Erstautorin. Den Fragestellern war bewusst, dass die Letztverantwortung bei den legitimierten und mit einem Mandat versehenen Entscheidungsträgern und den zuständigen Exekutivorganen für die bevölkerungsbezogenen Infektionsschutzmaßnahmen liegt. In dieser Ausnahmesituation mit zeitlich engen Entscheidungszeiträume und den nicht standardisierten Abläufen einer Pandemiebekämpfung wurden jedoch bewusst auch ethische Kriterien angefragt, um die Handlungsoptionen in Blick auf mögliche Risiken und Ansatzpunkte einer bestmöglichen Ausgestaltung orientierend bewerten und ggf. im Verlauf gezielt und den Umständen und Zielen angemessen weiter ausgestalten zu können. Sowohl die Fragen als auch die Antworten wurden unter größtem Zeitdruck erstellt in einem durch die Erstautorin koordinierten Prozess, an dem eine Gruppe nationaler und internationaler Expert/innen für Public-Health-Ethik beteiligt war. Eine gründlichere Ausarbeitung der gemachten Public-Health-ethischen Empfehlungen steht noch aus. Das vorliegende Papier deckt daher nur einen kleinen Bereich ab und kann bspw. nicht auf die wichtigen Zusammenhänge der Strukturen des Gesundheitssystems und der Gesellschaft insgesamt oder auf die globalen Zusammenhänge eingehen.

Trotz der notwendigen inhaltlichen Beschränkungen möchten wir Einblick in den Prozess und Inhalt unseres ad hoc Ethikkonsils geben. Wir möchten hiermit ermöglichen, in den Austausch mit anderen zu treten, die derzeit in ähnlichen Prozessen komplexe ethische Abwägungen vornehmen. Wir sind daran interessiert, zu hören, wie in anderen Bereichen vorgegangen wird und welche Erfahrungen gemacht werden. Gleichzeitig möchten wir auf die Notwendigkeit Public-Health-ethischer Expertise hinweisen. Alle Autor/innen dieser Stellungnahme haben seit Jahren in Deutschland, in der Schweiz oder im englischsprachigen Raum in diesem Bereich gearbeitet und kennen die bereits sehr ausdifferenzierte Literatur u. a. zu Ethik bei Pandemien [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] sowie die aktuell entstehenden Beiträge [13] [14] [15] [16] [17]. Insgesamt ist der Bereich der Public-Health-Ethik in Deutschland jedoch nach wie vor nicht institutionell etabliert. Wir möchten diese Gelegenheit daher nutzen, um auf dieses Vakuum hinzuweisen. Während die gegenwärtige Beratung ad hoc und unter erschwerten Bedingungen erfolgte, empfehlen wir, dass Public-Health-ethische Beratung weiter institutionalisiert und auch durch ausreichend Ressourcen etabliert werden kann.

Die Erstautorin übersetzte die Fragen des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit am 20. März 2020 ins Englische und versandte diese in einem Google-Dokument an eine Gruppe ausgewiesener Public-Health-Ethik-Expert/innen (auch im Bereich Forschungsethik) mit der Bitte um schnelle Beantwortung. Die Funktion des Google-Dokumentes erlaubte es den Autor/innen, das Dokument simultan zu bearbeiten und auch innerhalb des Dokumentes Fragen an die anderen zu stellen und Diskussionen zu führen. So konnten in einem gemeinsamen Prozess binnen zweier Tage Antworten auf die Fragen des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit formuliert werden, auch wenn allen Beteiligten äußerst wenig Zeit zur Verfügung stand. Der Text wurde einerseits auf Deutsch ausformuliert an das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit übermittelt. Andererseits wurde er als Blogbeitrag des Journal of Medical Ethics auf Englisch zur Diskussion gestellt [18].

In den Antworten aus der Gruppe wurde dezidiert eine Public-Health-ethische Perspektive eingenommen, die andere Schwerpunkte setzt als Medizinische oder Klinische Ethik. Letztere diskutieren eher Fragen zu Triage und Entscheidungen im Krankenhaus oder in der medizinischen und pflegerischen Praxis [19]. Die Public-Health-ethische Perspektive bedeutet, dass prinzipiell alle Themenfelder der multidisziplinären Gesundheitswissenschaften als relevant erachtet werden (von Mortalität über psychische Gesundheit bis hin zu gesundheitssystemrelevanten und gesundheitsökonomischen Gesichtspunkten). Im Fokus stehen darüber hinaus aber auch gesamtgesellschaftlich relevante normative Aspekte, die die Bedingungen eines guten und erfüllten Leben betreffen. Dazu gehören auch Standpunkte der sozialen Gerechtigkeit sowie Anerkennung und Reflexion von sozialen Vulnerabilitäten.

Abschließend möchten wir betonen, dass es nicht unser Anliegen ist, Public-Health-Ethik künstlich von Klinischer bzw. Medizinischer Ethik abzugrenzen. Individuelles Krankheitserleben und krankheits- oder gesundheitsbezogenes Handeln findet immer in einem gesamtgesellschaftlichen (und globalen) Rahmen statt. Gerade die Auseinandersetzung zwischen individueller und systemisch orientierter Sichtweise ist nötig und fruchtbar. Allerdings bedarf es für die fundierte Public-Health-ethische Beratung ein besonderes Verständnis für ethische Fragen auf der Bevölkerungsebene, wie sie z. B. in der politischen Philosophie verhandelt werden, und Vertrautheit mit der Komplexität von Gesundheitssystemen. Dies sollte durch die Ausbildung und Förderung Public-Health-ethischer Expertise anerkannt werden.


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Frage 1

Das Imperial College COVID-19 Response Team beschreibt in seinem Beitrag zwei wichtige Strategien zur Infektionskontrolle: Die „Suppressions-Strategie“, bei der die Ausbreitung des Virus verhindert werden soll und die „Mitigations-Strategie“, bei der die Verlangsamung der Ausbreitung angestrebt wird [20]. Sollte die Zahl der Toten (bzw. verlorene Lebensjahre oder dergleichen) bei den beiden Strategien das ethisch dominierende Kriterium sein? (Wie) kann man andere ethische Aspekte, z. B. den höheren Grad der Freiheitseinschränkungen bei der Suppressions-Strategie oder ungleiche Aufopferungsansprüche bei der Mitigations-Strategie, ethisch a) operationalisieren und b) mit der Anzahl der Toten in Beziehung setzen, oder ist außer der Anzahl der Toten alles andere nur in individuellen deliberativen Prozessen zu diskutieren?


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Antwort

Abwägungsprozess

  • Staatliche Entscheidungsfindung, die den Bereich öffentliche Gesundheit bzw. Public Health betrifft, sollte aus ethischer Sicht nicht ausschließlich Mortalität und Morbidität hinsichtlich einer bestimmten Erkrankung berücksichtigen. Grundsätzlich müssen auch andere individuelle, gesundheitliche und soziale Güter berücksichtigt werden (bspw. wird nicht jeder verpflichtet, Blut, Stammzellen oder eine Niere zu spenden, auch wenn damit Leben gerettet werden könnte). Staaten haben also auch im Falle der Covid-19 Pandemie nicht nur die Pflicht, unser Leben akut zu schützen und zu retten, sondern sie haben auch weiterhin die Pflicht, die grundsätzlichen Lebensbedingungen für ein gelingendes und erfüllendes Leben zu ermöglichen und zu erhalten. Beide Pflichten müssen berücksichtigt werden.

    • Anmerkung: Es ist aus ethischer Sicht durchaus ein relevanter Unterschied, ob Sterberaten oder verlorene Lebensjahre gezählt werden. Konsequentialistisch orientierte Aufsummierungsstrategien wie die Berechnung der Krankheitslast auf Bevölkerungsebene sind nicht aus jeder ethischen Perspektive eine überzeugende Strategie. Z. B. können solche Aufsummierungsstrategien dazu führen, dass junge und alte Menschenleben als verschieden „wertvoll“ erachtet werden, was mit einer Menschenwürde-Perspektive nur schwer vereinbar ist.

  • Die ethischen Abwägungen, die vorgenommen werden müssen, können sich je nach Gesundheitszustand der Bevölkerung und nach Grad der gesundheitlichen Bedrohung für die Bevölkerung verändern. Die Ermöglichung sowohl von Freiheit als auch Gerechtigkeit in einer Gesellschaft hängt fundamental von einem bestimmten Maß an Gesundheit und sozialer Stabilität für alle ab.

  • Eine Begründung für restriktive Public-Health-Maßnahmen (z. B. physische Kontakteinschränkungen) ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die daraus folgende staatliche Pflicht, Leben zu retten. Durch restriktive und konsequent umgesetzte Maßnahmen der physischen Kontakteinschränkung soll eine exponentielle Wachstumskurve an Covid-19 Erkrankten verhindert und zumindest in ein möglichst langsames, also lineares Ansteigen der Inzidenz gebracht werden (Stichwort „flatten the curve“). Dadurch sollen Ressourcen geschont und eine Überforderung der Kapazitäten in der Krankenversorgung vermieden werden, um das Gesundheitssystem aufrecht zu erhalten (inklusive z. B. Personal, Krankenhäuser, Material, Beatmungsplätze) und die bestmögliche Versorgung sowohl von Covid-19-Patienten als auch Patienten mit anderen Krankheiten und Unfällen zu ermöglichen sowie den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung zu sichern.

  • Das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss abgewogen werden gegen mögliche schädliche Konsequenzen. Zu diesen ethisch relevanten schädlichen Handlungskonsequenzen können Arbeitsplatzunsicherheit und -verlust, Einschränkungen im Bildungsbereich, Zunahme häuslicher Gewalt, Zunahme psychischer Belastungen, Zunahme sozialer und dadurch auch längerfristig gesundheitlicher Ungleichheiten, Folgen sozialer Isolation, etc. zählen. Die Abwägung von inkommensurablen – also an sich schwer oder sogar nicht vergleichbaren – sozialen Gütern ist schwierig. Wie solche Abwägungen im Einzelfall getroffen werden, ist abhängig sowohl vom aktuellen Entscheidungskontext als auch von der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz.

  • Restriktive Public Health-Maßnahmen dürfen nur so kurz wie möglich eingesetzt werden, und sie müssen so gut es geht kompensiert werden (s.u., gesondert aufgeführt). Es muss außerdem explizit garantiert sein und durch festgelegte rechtsstaatliche Prozesse gesichert sein, dass restriktive Maßnahmen zurückgenommen werden, sobald die Notlage vorüber ist.

  • Jegliche Freiheitsbeschränkung muss rechtskonform sein, einschließlich des Rechts, Widerspruch einlegen zu können. Diese Sicherheit hilft auch in der gelingenden Umsetzung der Freiheitsbeschränkung.

  • Restriktive Maßnahmen können besser gerechtfertigt werden, wenn alle alternativen Maßnahmen, die diese hätten verhindern können, bereits ausgeschöpft sind (Prinzip der Subsidiarität). Zu alternativen Maßnahmen gehört bspw. die diagnostischen Test-, Krankenhaus- und Beatmungskapazitäten zu erhöhen, das Virus anderweitig zu bekämpfen, Gesundheitspersonal zu verstärken, Produktion von Atemschutzmasken und Desinfektionsmitteln zu erhöhen, sowie Orte außerhalb des häuslichen Umfeldes zu schaffen, an die infizierte Personen zur Isolierung verlegt werden können. Diese Maßnahmen können auch vereinfachte Produktions- und Zertifizierungsprozesse für Atemschutzmasken, Tests, Beatmungsgeräte oder datenschutzrechtskonforme digitale Technologien beinhalten.

  • Insgesamt ist die gleichzeitige Verfolgung von Eindämmungsstrategien („containment“) und Folgenminderungsstrategien („mitigation“) zu befürworten. Die leitende Norm in der Bekämpfung von Pandemien besteht immer aus zwei Komponenten: Es gilt, Mortalität und Morbidität zu reduzieren, während Unterbrechungen und Belastungen des gesellschaftlichen Lebens so gering und kurz wie möglich gehalten werden.

  • Deliberative Prozesse für diese Abwägungen sind nicht der einzige Weg, um hier Entscheidungen zu treffen. In Not- und Katastrophenlagen kann die Zeit zu begrenzt sein für deliberative Prozesse. Es gibt allgemeinere Public-Health-ethische Rahmenwerke, die bei der Entscheidungsfindung zugrunde gelegt werden können [21] [22] [23] [24] [25] [26]. Aus ethischer Sicht – die immer eine Rechtfertigungspflicht von Handlungen und Unterlassungen annimmt – ist es stets notwendig, transparent und begründet zu entscheiden und zu kommunizieren ([Tab. 1]). Dennoch ist die Deliberation wichtig und kann und sollte insbesondere in der Pandemieplanung als Methode berücksichtigt werden.

  • Eine Operationalisierung der komplexen ethischen Abwägungen (einschließlich der u.g. Vulnerabilitäten) ist schwierig, aber nicht immer unmöglich. Die empirische Messung der erwünschten und unerwünschten Effekte mittels quantitativer und qualitativer Methoden fördert die Transparenz und Konsistenz der Güterabwägungen. Zu den angestrebten messbaren Ergebnissen gehört, den Ausbruch zu verlangsamen (Stichwort „flatten the curve“). Diese Verlangsamung kann durch nicht-pharmakologische Interventionen (NPI), insbesondere Maßnahmen der physischen Kontakteinschränkung, erreicht werden. Zu den anvisierten positiven Resultaten von Maßnahmen gehört aber auch, die Kapazität der Intensivstationen zu erhöhen oder Impfstoffe zu entwickeln. Weitere Indikatoren, mit denen man Handlungsfolgen messen kann, sind nicht nur Mortalität und Morbidität, die durch Covid-19 verursacht werden, sondern auch andere berechenbare Gesundheitsfolgen aus dem Bereich psychischer Gesundheit (z. B. Stress, Angst, Depression) und ihre Folgen (z. B. Herzinfarkte oder Suizide). Auch sind Aspekte wie Pflegequalität in Alten- und Pflegeheimen relevante Folgen von Maßnahmen, die es zu berücksichtigen gilt. Viele weitere Auswirkungen der restriktiven Interventionen in ökonomischer und sozialer Hinsicht sind ethisch relevant und müssen gemessen bzw. erforscht werden.

Tab. 1 Prozedurale Ethik. Aus [9] und [27]

Ethischer Wert

Beschreibung

Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht

Es muss Mechanismen geben, die sicherstellen, dass und wie während der Krise Entscheidungen nach ethischen Standards getroffen werden. Verantwortlichkeiten müssen geklärt werden.

Möglichkeit der Beteiligung

Es muss sichergestellt sein, dass und wie die Sichtweisen aller Stakeholder und Betroffenen in Entscheidungsprozesse einbezogen werden; sie sollten an Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Wenn es bspw. um den Schutz von Arbeitnehmer/innen am Arbeitsplatz geht, sollten betroffene Arbeitnehmer/innen am Entscheidungsprozess beteiligt werden.

Transparenz und Offenheit

Entscheidungen sollten öffentlich gut gerechtfertigt werden können. Der Entscheidungsprozess muss daher transparent und überprüfbar sein, und die Entscheidungsbasis muss nachvollziehbar für alle Betroffenen sein.

Angemessenheit der Entscheidungen

Entscheidungen sollten von verantwortlichen Personen auf der Basis von guten, angemessenen und anerkannten Gründen getroffen werden (z. B. Evidenz, Prinzipien, Werten). Bspw. müssen gute Gründe hervorgebracht werden, wenn Priorisierungsentscheidungen getroffen werden müssen.

Revisionsmöglichkeit und Anpassungsfähigkeit

Es muss Möglichkeiten geben, Entscheidungen zu überdenken und zu revidieren, u. a. um neue Informationen mit einzubeziehen oder weil Entscheidungsprozesse verbessert wurden, aber auch um Beschwerden und Gegenargumente von Betroffenen besser zu begegnen.


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Soziale Vulnerabilitäten/Soziale Gerechtigkeit

  • Die weitreichenden Konsequenzen von Covid-19-bezogenen Maßnahmen müssen professionell und sektorübergreifend herausgearbeitet werden. Vulnerabilitäten lediglich medizinisch zu definieren (z. B. Alter, Komorbiditäten) reicht für eine umfassende Public-Health-Strategie nicht aus. Weitere Bereiche wie Einkommen, Arbeitsplätze, sozio-ökonomischer Status, Wohnen, Bildung, (Arbeitsplatz-)Sicherheit, Behinderungen, Staatsangehörigkeit/Aufenthaltsstatus/Migrationsstatus, Geschlechterrollen, Möglichkeiten der aktiven sozialen Kommunikation, psychische Gesundheit usw. sind in der Identifikation von Vulnerabilitäten mit zu berücksichtigen.

  • Es ist davon auszugehen, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen stärker sowohl durch das Virus als auch durch restriktive Maßnahmen belastet werden. Soziale Vulnerabilitäten können in Pandemien reproduziert und verstärkt werden. Pandemieplanung muss besondere Vorkehrungen hinsichtlich der Erhaltung und Stabilisierung sozialer Gerechtigkeit treffen.

Kompensation

  • Gegenwärtig werden in Deutschland Gesamtbevölkerungsstrategien den Hochrisikostrategien vorgezogen: Das heißt, die gesamte Bevölkerung – auch bspw. Kinder mit niedrigen Gesundheitsrisiken durch Covid-19 und nicht nur Hochrisikogruppen wie ältere und vorerkrankte Menschen – ist in restriktive Public-Health-Maßnahmen eingeschlossen, und vielerorts werden Verstöße gegen diese Maßnahmen z. B. finanziell sanktioniert. Gleichwohl arbeiten einige Teile der Bevölkerung weiterhin in „systemerhaltenden Berufen“ (im Gesundheitswesen, in der Pflege, im Supermarkt, bei der Polizei, bei den Stadtwerken und anderswo). Teilweise geht dieser Teil der Bevölkerung ein großes Risiko für sich und ihre Angehörigen ein. Sie müssen bestmöglich geschützt und im Krankheitsfall versorgt werden. Eine langfristige Anerkennung ihrer Wichtigkeit und ihrer Leistung ist geboten.

  • Es besteht eine Pflicht, die potentiell schädlichen Auswirkungen von restriktiven Public-Health-Maßnahmen so stark wie möglich zu begrenzen. So geht mit Freiheitseinschränkungen bspw. eine Pflicht einher, die entstandenen und zukünftig entstehenden Verluste zu kompensieren. Diese können, gerade in wohlhabenden Staaten, weitreichend sein. Dazu gehören z. B. Verbesserung der Arbeitslosenrechte, Erleichterungen bei Schulden (wie Aussetzen von Fristen), Schutz vor Kündigungen von Mietverhältnissen, Erlass von Gebühren bei Kreditkartenzahlung z. B. beim Kauf von Nahrungsmitteln, staatliche Unterstützungszahlungen oder günstige Kredite für Selbständige usw.

  • Diese Kompensationspflicht besteht nicht nur, um Schaden für Einzelne abzuwenden, sondern sie ermöglicht auch die erfolgreiche Umsetzung von Public-Health-Maßnahmen. Regeln der Isolation und Quarantäne sind nicht für alle gleich gut umsetzbar und häufig für Privilegierte leichter zu befolgen. Die Nicht-Umsetzung solcher Regeln bedroht aber alle gemeinsam. Daher ist der soziale Ausgleich für alle von großer Bedeutung.

Vertrauen und Kommunikation

  • Gerade bei der Durchsetzung restriktiver Public-Health-Maßnahmen sind Vertrauen der Bevölkerung in die politischen und öffentlichen Akteure sowie gelungene Kommunikation durch diese Akteure zentral. Es ist wichtig, Maßnahmen transparent zu kommunizieren und als ethisch, gerechtfertigt und am Gemeinwohl orientiert zu begründen ([Tab. 1]). Hier ist insbesondere die Anerkennung von Vulnerabilitäten (s. o.) zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass auch zeitnah kreative Vorschläge und Lösungen für die Minimierung der Vulnerabilitäten erarbeitet und vorgestellt werden sollten.

  • In der Planung von Public-Health-Maßnahmen sowie in der Kommunikation sollten Entscheidungen auf der Grundlage der bestmöglichen Evidenz getroffen werden, wobei die derzeit bestehenden erheblichen empirischen und epistemischen Unsicherheiten anerkannt werden sollten. In diesem Zusammenhang ist es geboten, in der öffentlichen Kommunikation mitzuteilen, was bekannt und evidenzbasiert ist, aber auch was nicht bekannt ist, andernfalls kann das öffentliche Vertrauen unterminiert werden. Auch der ethische Abwägungsprozess muss transparent und klar kommuniziert werden ([Tab. 1]).

Umsetzung

  • Bei der Umsetzung restriktiver Public-Health-Maßnahmen in einem freiheitlich orientierten Rechts- und Sozialstaat muss berücksichtigt werden, dass einzelne Personen ihre Werte anders abwägen können als das von politischer Seite erwünscht ist. Dies kann die Zustimmung zu und Einhaltung von Maßnahmen beeinflussen und die Durchsetzung und Effektivität dieser Maßnahmen erschweren.

  • Die Umsetzung restriktiver Public-Health-Maßnahmen muss von Anfang an durch Begleitforschung evaluiert werden. Die Datenerhebung ist sowohl in epidemiologischer Hinsicht als auch in breiterer gesellschaftlicher Hinsicht notwendig, da die Krisenbewältigung – bspw. durch die Schließung von Schulen, wirtschaftliche Effekte, usw. – weitreichende soziale Folgen haben kann. Die Frage ist hier nicht nur, welche Wirksamkeit die Maßnahmen haben/hatten, sondern auch, welche positiven und negativen Auswirkungen darüber hinaus zu bemerken sind, und welchen Effekt sie langfristig haben. Hier sind neben wirtschaftlichen Faktoren auch die Folgen für psychische Gesundheit, soziale Vulnerabilitäten und soziale Gerechtigkeit mit zu berücksichtigen.

  • Verhältnismäßigkeit bei der Umsetzung von restriktiven Maßnahmen ist ein leitendes Prinzip. Die Bedrohungslage – gegen die eine rechtfertigbare Strategie und Intervention gefunden werden muss – erschöpft sich dabei nicht allein in den unmittelbaren gesundheitlichen Auswirkungen von Covid-19. Auch andere mögliche negative soziale Auswirkungen, wie oben beschrieben, sollten bei der Wahl der Mittel berücksichtigt werden. Bedrohung und Maßnahme sollten in einem rechtfertigbaren Verhältnis stehen. Wissenschaftliche Evidenz muss – wo sie noch nicht besteht – generiert werden, um dieses Verhältnis auszuloten und informierte Entscheidungen treffen zu können.

Planung in Hinblick auf Zukunft

  • Eine langfristig angelegte Planung für die Covid-19 Pandemie ist notwendig, die nachhaltig Gesundheit und weitere gesellschaftliche Bereiche sichert. Idealerweise sollten diese langfristigen Aspekte jetzt bereits antizipiert und bestmöglich beachtet werden.

  • Es ist wichtig, frühzeitig einen Diskurs darüber zu führen, wie verfügbare – und anfangs noch knappe – Impfstoffe in unserer Gesellschaft verteilt werden.

  • Die Pandemie-Planung ist darüber hinaus in Gesundheitspolitik und öffentlicher Verwaltung auf globaler, europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu priorisieren. Perspektiven von „One health“, die u. a. die Verbindungen von Tier- und Menschengesundheit in den Blick nehmen, sind dabei relevant. Der internationale Austausch zu Beispielen guter Praxis und wissenschaftlicher Evidenz sowie zu globaler Gesundheit ist wichtig. Die nachhaltige und stabile Ausgestaltung des nationalen und globalen Gesundheits- und Versorgungssystems, einschließlich der Arbeitsfähigkeit der Weltgesundheitsorganisation, muss vor dem Hintergrund der Dringlichkeit einer verbesserten Pandemieplanung ebenfalls berücksichtigt werden. Hierzu gehören u. a. Fragen nach ausreichenden Ressourcen, Ausstattungen und Personalkapazitäten, aber auch Fragen nach Gesundheitsgerechtigkeit.


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Frage 2

Es bestehen noch keine zuverlässigen Daten zur wirklichen Effektivität der Maßnahmen, die momentan ergriffen werden. Ein Zeithorizont für die Erkenntnis der Effektivität betreffend beträgt 2–3 Wochen. Die Effektivität der Maßnahmen als Entscheidungskriterium erscheint damit eher begrenzt zu sein. Welche weiteren, ethischen Kriterien sollten wir beachten, besonders wenn es um weitere physische Distanzierungsmaßnahmen geht (bspw. einer Ausgangssperre)?


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Antwort

  • Oberstes Entscheidungsprinzip sollte die Effektivität der Maßnahmen sein. Wenn über den Effektivitätsgrad zu wenig Daten vorliegen, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, Evidenz zur Effektivität der Maßnahmen zu gewinnen (international koordiniert, Auswertung bereits vorliegender Daten, sofortiges Anlaufen von Studien). Diese Anstrengungen müssen beibehalten werden. In Deutschland besteht der Vorteil, dass bereits erste Daten aus anderen Ländern vorliegen. Die Erfassung und Auswertung dieser Daten sowie eigene Begleitforschung sind unbedingt notwendig. Die Übertragbarkeit („transferability“) von Public-Health-Maßnahmen in den eigenen Kontext ist jedoch vorab zu prüfen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der Primärkontext, in dem eine Maßnahme ergriffen wurde, in epidemiologischer aber auch sozio-kultureller Hinsicht unterschiedlich sein kann von dem Kontext, in den sie übertragen wird.

  • Solidarität, individuelle und soziale Verantwortung sowie Reziprozität sind als weitere ethische Prinzipien von Public-Health-Maßnahmen etabliert und können hier mit aufgeführt werden [21] [22] [23] [24] [25] [26].

  • Auch hier gelten die o.g. Umstände hinsichtlich von Unwägbarkeit, Kommunikation und Vertrauen:

    • Unwägbarkeit: Es besteht eine unsichere und unwägbare empirische Ausgangslage. Maßnahmen werden also vorsorglich getroffen, um Zeit zu gewinnen, mehr Evidenz zu erhalten, aber auch um katastrophale Entwicklungen abzuwenden. Wenn also eine Virusübertragung in der Bevölkerung („community transmission“) anzunehmen ist, müssen die Maßnahmen verschärft werden, um Risikogruppen und das Gesundheitssystem zu schützen (s. o.). Zur Verschärfung der Maßnahmen gehören die Stärkung des Gesundheitssystems, die Vereinheitlichung von Strategien (anstatt ineffiziente oder fehlende Erarbeitung von Einzelstrategien für einzelne Praxen und Krankenhäuser), Effizienzsteigerung hinsichtlich diagnostischer Tests, Steigerung von Laborkapazitäten, sofortige Isolierung von Risikogruppen, aber eben auch alle weiteren gesellschaftlichen Maßnahmen zur Abflachung der Kurve wie physische Kontakteinschränkung und gegebenenfalls Ausgangssperren. Die Abwägung, wie oben beschrieben, zwischen den positiven und negativen Folgen dieser Maßnahmen (psychischer und sonstiger medizinischer, gesellschaftlicher und gerechtigkeitsrelevanter Art) muss kontinuierlich erfolgen.

    • Kommunikation: Angesichts der Restriktionen und zur Aufrechterhaltung der Solidarität ist es notwendig mitzuteilen, warum das Vorsorgeprinzip angewendet wurde, warum individuelle Verantwortung jetzt notwendig ist, wie und warum diese Entscheidung unter Bedingungen der Unwägbarkeit getroffen wurde, wann und wie die jeweiligen restriktiven Public-Health-Maßnahmen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft werden und – wenn möglich – wann mit dem voraussichtlichen Ende dieser Maßnahmen zu rechnen ist.


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Frage 3

Gegenwärtig werden Testkapazitäten massiv erhöht. Routinemäßige Surveillance wird nun, nach Infektionsschutzgesetz (IfSG), vorrangig Testungsaktivitäten statt Infektionsinzidenz messen. Würden Begleitforschung und -studien zur Leistung der Tests (z. B. Sensitivität/Spezifizität, positiver/negativer Vorhersagewert) auch ethisch ratsam sein?


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Antwort

  • Ja, solche Studien sind jetzt und in Zukunft grundsätzlich sehr sinnvoll.

  • Idealerweise sollten solche Studien international koordiniert stattfinden.

  • Ferner können in Studien die Personen, die jetzt negative Testergebnisse haben, erneut getestet werden, um die Effektivität von restriktiven Public-Health-Maßnahmen (physische Kontakteinschränkungen, usw.) beurteilen zu können.

  • Die Studien müssen sich allerdings gut in die Gesamtstrategie für die Pandemiekontrolle einfügen, z. B. müssen die Ressourcen dafür so eingesetzt werden, dass sie kompatibel sind mit Laborkapazität und Fachkompetenz, die derzeit für die akute Infektionskontrolle notwendig sind.

  • Es können auch Szenarien überlegt werden, in denen durch opt-out oder gar verpflichtende Einwilligung zu Studienzwecken – bei zugesicherter Anonymisierung – Daten über alle durchgeführten diagnostischen Tests in Studien eingeschlossen werden (Sekundärdatenanalyse). Das Risiko für die Studienteilnehmenden ist gering, wobei der Erkenntnisgewinn für die öffentliche Gesundheit möglicherweise sehr groß ist.

  • Wichtig sind rigorose Studiendesigns, Kooperation und Datenaustausch, schnellstmögliche „open access“ Publikation der Daten unter Beibehaltung von Strategien zur Qualitätssicherung der Publikationen.


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Frage 4

Welche ethischen Herausforderungen könnten von einer repräsentativen Kohortenstudie ausgehen, die im Längsschnitt serologische Aktivitäten und Schwere der Erkrankungen, ggf. in Untergruppen, erforscht? Welche Untergruppen sollten speziell untersucht werden?


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Antwort

  • Insgesamt ist diese Art von Studien unbedingt notwendig, um aktuelle Unwägbarkeiten und Unsicherheiten hinsichtlich fehlender Evidenz abzubauen, aber auch um Covid-19 langfristig zu verstehen.

  • Diagnostische Tests können auch für retrospektive Kohortenstudien markiert und vorbereitet werden. Wenn alle Covid-19 Fälle, Dokumentationen, Testergebnisse, usw. für solche retrospektiven Studien markiert und vorbereitet werden, können Subgruppen auch später noch gebildet werden.

  • Studiendesigns müssen trotz aller Eile den ethischen Standards für Forschung entsprechen. Lokale Ethikkommissionen können ermutigt werden, schnelle ethische Entscheidungsfindung bei Forschungsanträgen durch Handreichungen oder Standardprotokolle für Forscherinnen und Forscher zu erarbeiten.

  • Vermeidung der Stigmatisierung von Subgruppen ist ein wichtiger Punkt, kann aber inhaltlich nicht ad hoc beantwortet werden, sondern eher prozessorientiert: Von Beginn an muss die Vermeidung von Stigmatisierung mitbedacht werden. Daten dürfen ggf. nicht subgruppenspezifisch ungefiltert und unüberlegt publiziert werden, sondern es sollte zunächst eine koordinierte Strategie entwickelt werden, wie potentielle Stigmatisierung vermieden werden kann.

  • Weitere Studiendesigns müssen jetzt geplant und koordiniert werden, mit denen man die hoffentlich bald verfügbaren Durchführungen von Impfungen und Therapien evaluieren kann.

  • Studienergebnisse müssen schnellstmöglich international koordiniert bearbeitet werden und „open access“ publiziert werden (s. o.).

Fazit

Während klinische ad hoc Ethikberatungen etabliert und erprobt sind, gibt es wenig Erfahrung und keine Standardvorgehensweise zu ad hoc Public-Health-ethischer Beratung. Die Möglichkeiten der professionellen Public-Health-ethischen Beratung von Institutionen öffentlicher Gesundheit – auf allen Governance-Ebenen – wurde sowohl von der anfragenden Instanz als auch von den Autor/innen der Stellungnahme als wertvoll und wichtig erachtet. Auch in demnächst anstehenden Entscheidungen über Maßnahmen während der Covid-19-Pandemie – oder auch im Zusammenhang mit anderen Ereignissen – können ad hoc Public-Health-Ethik Beratungen erforderlich werden. Sie können fundierte, inhaltliche und prozedurale Vorschläge für Entscheidungen liefern. Weitere Aktivitäten zu Public-Health-Ethik während Covid-19 finden mittlerweile innerhalb des Kompetenznetzes Public Health Covid-19 statt (www.public-health-covid19.de/). Wenn ad hoc Public-Health-Ethik Beratung in Zukunft weiter etabliert werden soll, ist es notwendig, Kapazitäten, Ressourcen, wissenschaftlichen Austausch und standardisierte Abläufe zu schaffen, wie es für die klinische Ethik bereits üblich ist. Insgesamt sollte „Public-Health-Ethik“ in wissenschaftlicher Forschung und Lehre in Deutschland besser etabliert werden.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Wir danken Jan-Christoph Heilinger für wertvolle Kommentare. This work was supported in part by the Clinical Center Department of Bioethics, which is in the Intramural Program of the National Institutes of Health. The views expressed here are those of the authors and do not necessarily reflect the policies of the National Institutes of Health or the U.S. Department of Heath and Human Services.


Korrespondenzadresse

PD Dr. Verina Wild
Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin
Ludwig-Maximilians-Universität München
Lessingstraße 2
80336 München

Publication History

Article published online:
30 June 2020

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