Psychiatr Prax 2020; 47(06): 296-297
DOI: 10.1055/a-1170-5416
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychiatrie ohne Ordnungsfunktion? – Pro

Psychiatry without Authoritarian Function? – Pro
Sebastian von Peter
Medizinische Hochschule Brandenburg
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Prof. Dr. Sebastian von Peter
Medizinische Hochschule Brandenburg
Fehrbelliner Straße 38
16816 Neuruppin

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. August 2020 (online)

 

Im letzten Jahr habe ich mich entschlossen, Co-Autor für 2 Artikel zu werden, die maßgeblich von Martin Zinkler verfasst wurden. Diese Artikel zeigen Möglichkeiten und Freiräume auf, die sich durch die Auskoppelung der Ordnungsfunktion aus der Psychiatrie für die Behandlung dort ergäben. Sie beschäftigen sich damit, wie sich diese Ordnungsaufgaben an die eigentlich dafür zuständigen Instanzen, Polizei und Justiz, zurückgeben ließen, sodass sich die psychiatrische Arbeit ausschließlich am Willen und an den Präferenzen der betroffenen Personen orientieren kann. Beide Artikeln skizzieren Szenarien im Umgang mit Eigen- und Fremdgefährdung, in der Psychiatrie, im Polizeigewahrsam und in Haft, die zeigen, wie sich diese Veränderungen organisieren ließen und welche Vorteile daraus für die psychiatrische Behandlung erwüchsen.

Die Ausarbeitung solcher Szenarien wäre nicht notwendig, wenn Zwangsmaßnahmen in Deutschland nur im Sinne der Ultima Ratio, also als absolut letztes Mittel, eingesetzt würden. Das ist bei Weitem nicht der Fall. Zwei neuere Studien zeigen, dass Zwangsmaßnahmen in diversen bundesdeutschen Kliniken in 6,7 resp. 8 % der Fälle eingesetzt werden [1] [2]. Es gibt aber auch andere Beispiele, die zeigen, dass die Einhaltung der Ultima Ratio durchaus funktionieren kann: In Heidenheim, Klinik der Pflichtversorgung, wurden in den letzten beiden Jahren jeweils nur eine Zwangsbehandlung mit Neuroleptika durchgeführt. Der Anteil an durchgeführten Fixierungen betrug dort im Jahr 2018 2,2 % und im Jahr 2019 2,1 %. In Herne, auch eine Klinik mit Versorgungsauftrag, wurden seit dem Jahr 1993 im Schnitt 6 Menschen jährlich fixiert (anstatt 6 wöchentlich, wie ich das in vielen Einrichtungen erlebt habe), trotz steigender Aufnahmen von 1300 im Jahr 1993 auf 3800 Fälle im Jahr 2017. Eine Zwangsinjektion erhielten in diesem Zeitraum 10 Menschen pro Jahr. In den letzten beiden Jahren fiel dort der Anteil an Fixierungen und Zwangsmedikationen im Jahr 2018 sogar auf 0,2 % und 2019 auf 0,1 % der Fälle.

Zahlenvergleiche, nicht nur zu diesem Thema, können zynisch sein: Auf das Leben einer betroffenen Person bezogen, sind Zwangsmaßnahmen immer eine Katastrophe. Trotzdem zeigen Zahlen, wie stark sich eine Klinik an das Ultima-Ratio-Prinzip hält. Ein „letztes Mittel“ findet eben nicht häufig Anwendung. Warum es so große Unterschiede gibt mit Zwangsmaßnahmen umzugehen, ist unklar. Ich war persönlich dabei, als Mitarbeitende die Modelle in Herne und Heidenheim vorgestellt haben. Beide Kliniken liegen in keinen besonders gewaltfreien Regionen. Und auch im Alltag passiert dort nichts Besonderes: Offene Türen, Ergotherapie, Gespräche … Wie machen die das? Keine spezifischen Interventionen? Kein ausgeklügeltes Monitoring? Vor Jahren hat sich das Team einer geschlossenen Station in Hamburg dazu entschieden für 12 Monate die Fixierbetten in den Keller zu fahren; für diesen Zeitraum wurde dort niemand fixiert. Wurde in Heidenheim und Herne, ähnlich wie in Hamburg, einfach die Entscheidung getroffen, Zwangsmaßnahmen nicht oder nur als allerletztes Mittel anzuwenden? Geht es hier um Wissenschaft? Oder um eine unterschiedlich ausgeprägte Entschiedenheit, um Haltungen und Kulturen?

Wenn ich die Geschichte aus Hamburg erzähle oder mich auf die Zahlen aus Herne oder Heidenheim beziehe, wird mir oft vorgeworfen, ich argumentiere ideologisch. Ist eine solche Position nicht eher pragmatisch, geht sie doch von konkreten Praktiken aus? An einigen Orten in Deutschland werden Zwangsmaßnahmen selten umgesetzt (und zwar teilweise schon seit 25 Jahren), an anderen häufig. Was daran ist ideologisch? Ähnliche Warnungen habe ich auch als Reaktion auf die beiden Artikel erhalten, die Hintergrund für diese Pro-/Kontra-Debatte sind. Beide Artikel vertreten sicherlich eine starke These, an Stellen vielleicht auch radikal formuliert, sie gehen dabei im Grunde aber beschreibend vor.

Das beschriebene Szenario ist meiner Meinung nach noch nicht einmal unrealistisch: Wenn wir es nicht schaffen, mit unserer Ordnungsfunktion anders umzugehen, flächendeckend und nachweisbar, könnte es sein, dass wir diese irgendwann abgeben müssen. Einige Zeichen verdichten sich bereits für diese Entwicklung, national und international [3] [4]. Auch die Neuroleptikadebatte wurde vor Jahren als ideologisch bezeichnet. Inzwischen bilden sich neue Praktiken heraus, häufig durch diejenigen vereinnahmt, die damals Kritiker waren.

In beiden Artikeln werden genügend Gründe für die Auskoppelung der Ordnungsfunktion aus der Psychiatrie angeführt: Wenn Zwang nicht mehr angewendet werden kann, können mehr Vertrauen und Offenheit entstehen. Eine Begrenzung auf den Behandlungsauftrag kann zu mehr Solidarität, Selbstbestimmung und Wahlfreiheit führen. Für viele Psychiatrieerfahrene prägt die prinzipielle Möglichkeit des Zwangs das Bild von Psychiatrie und überschattet jedwede unterstützende Funktion. Angesichts der damit verbundenen, oft lebenslang anhaltenden Traumata ist das nicht verwunderlich.

Auch ich weiß um die vielen Probleme, die mit der Auskoppelung der Ordnungsfunktion aus der Psychiatrie verbunden sind: Was machen wir mit Menschen in der Psychiatrie, oder eben anderenorts, die bspw. drogenintoxikiert oder organisch bedingt außer sich geraten? Ist das polizeiliche Gewahrsam eine gute Alternative? Welcher Kontext eignet sich zu Deeskalation? In welchem wird es nur noch schlimmer? Ich habe auf viele dieser Fragen keine Antworten. Ich weiß nur, dass der Umgang mit Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie so nicht weiter gehen kann und wir offen über Alternativen sprechen müssen.

Warum ist eine offene Diskussion darüber so schwer? Warum polarisieren sich hier Positionen und warum kommt es so schnell zum Vorwurf der Ideologie? Zum einen erzeugt Gewalt fast immer einen Ultima-Ratio-Eindruck, weil sie starke Gefühle und Übertragungen mit sich bringt, die wir alle unterschiedlich gut aushalten. Klare Linien lassen sich hier schwer ziehen. Zweitens geht es nicht nur um eine Ordnungs-Funktion, sondern auch um Ordnungs-Macht der Psychiatrie und, damit verbunden, Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Wenn Macht im Spiel ist, trennen sich Diskurse schnell in ein Innen und Außen, in ein Oben und Unten. Verbunden damit sind Fragen von Schuld und Täterschaft. Und, oft auch zur Abwehr davon, in sich geschlossene Logiken, die selbstkritische Reflexivität vernebeln und Dialog verunmöglichen können.

Auch ich habe nicht in Herne oder Heidenheim gearbeitet. Auch ich habe Menschen fixiert und gegen ihren Willen Medikamente verabreicht und keine Alternativen dazu gesehen. Infolge meiner Auseinandersetzungen damit habe ich mich für eine Co-Autorschaft dieser beiden Artikel entschieden. Wir müssen uns mit diesen Fragen offen und mit allen Menschen, die dazu etwas zu sagen haben, auseinandersetzen. Zu groß ist die Gefahr, dass wir uns sonst in einer in sich abgeschlossenen Logik genügen und dadurch die Chance verpassen, dringend notwendige Veränderungen in der Psychiatrie vorzunehmen.


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Autorinnen/Autoren

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Sebastian von Peter

  • Literatur

  • 1 Flammer E, Steinert T. Das Fallregister für Zwangsmaßnahmen nach dem badenwürttembergischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz: Konzeption und erste Auswertungen. Psychiat Prax 2018; 46: 82-89
  • 2 Adorjan K, Steinert T, Pollmächer T. Zwangsmaßnahmen in deutschen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie. Eine Pilotstudie der DGPPN zur Erprobung eines einheitlichen Erfassungsinstrumentes. Nervenarzt 2017; 88: 802-810
  • 3 Europarat Resolution 2291. Ending coercion in mental health: the need for a human rights based approach. 2019. http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-DocDetails-en.asp?FileID=28038&lang=en9 (letzter Zugriff 4.8.2019)
  • 4 United Nations. Human Rights Council, Thirty-fifth session. Report of the Special Rapporteur on the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health. A/HRC/35/21 2017

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Sebastian von Peter
Medizinische Hochschule Brandenburg
Fehrbelliner Straße 38
16816 Neuruppin

  • Literatur

  • 1 Flammer E, Steinert T. Das Fallregister für Zwangsmaßnahmen nach dem badenwürttembergischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz: Konzeption und erste Auswertungen. Psychiat Prax 2018; 46: 82-89
  • 2 Adorjan K, Steinert T, Pollmächer T. Zwangsmaßnahmen in deutschen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie. Eine Pilotstudie der DGPPN zur Erprobung eines einheitlichen Erfassungsinstrumentes. Nervenarzt 2017; 88: 802-810
  • 3 Europarat Resolution 2291. Ending coercion in mental health: the need for a human rights based approach. 2019. http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-DocDetails-en.asp?FileID=28038&lang=en9 (letzter Zugriff 4.8.2019)
  • 4 United Nations. Human Rights Council, Thirty-fifth session. Report of the Special Rapporteur on the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health. A/HRC/35/21 2017

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