Schlüsselwörter
Pandemie - Infektionsschutz - Katastrophenschutz - Corona - Triage - Vorsorge
Key words
Pandemic - Disease control - Disaster response - Corona - Triage - Preparedness
Die aktuelle Corona-Pandemie löst auch in der Bundesrepublik Deutschland eine
Gefahrenlage aus, deren Auswirkungen trotz erheblicher Abwehrmaßnahmen noch
nicht absehbar sind. Aus katastrophenrechtlicher und katastrophenmedizinischer Sicht
ist ein medizinischer Notstand – wie etwa in Italien – von
besonderer Relevanz. Im Folgenden soll daher erörtert werden, wie die
Überlastung der medizinischen Versorgung rechtlich und medizinisch zu
bewerten sind. Zudem soll beleuchtet werden, wie das deutsche Katastrophenrecht und
die Katastrophenmedizin auf den Eintritt einer Pandemiekatastrophe reagieren.
Rechtliche Einordnung von Pandemien und Katastrophen
Rechtliche Einordnung von Pandemien und Katastrophen
Die hier betrachtete Bewältigung einer katastrophalen Pandemie setzt
zunächst voraus, dass die Begriffe der „Pandemie“ und der
„Katastrophe“ rechtlich eingeordnet werden. Aus der Perspektive des
deutschen Rechts ist diese Einordnung nicht auf den ersten Blick möglich.
Denn der Begriff der „Pandemie“ hat bisher keinen Eingang in die
einschlägigen Gesetze gefunden. Das Infektionsschutzgesetz des Bundes
verwendet die Begriffe der „übertragbaren Krankheit“ und der
„bedrohlichen übertragbaren Krankheit[1]“. Diese abweichende Terminologie
ist sicherlich nicht per se problematisch. Denn eine Pandemie i.S.d.
Völkerrechts als kontinentübergreifende Verbreitung einer Krankheit
bei Menschen kann sich mit dem deutschen Terminus der übertragbaren oder
bedrohlichen übertragbaren Krankheit durchaus decken. Jedoch führen
unterschiedliche Begrifflichkeiten immer wieder zu Irritationen in der
Rechtsanwendung. Zudem drängt sich das Problem auf, dass die sogenannte
Pandemie-Vorsorge (=Vorbereitung auf die Pandemiebekämpfung) sehr
selten eine ausdrückliche gesetzliche Aufgabe von Behörden
darstellt[2]. Den sogenannten
Pandemie-Plänen, die sowohl international als auch national und regional
aufgestellt werden sollten, fehlt es in Deutschland gegenwärtig an einer
klaren und verbindlichen Rechtsgrundlage. Dies hat zur Folge, dass Notfallplanungen,
Notfallübungen und Notfallbevorratungen in diesem Sektor nicht immer
ausreichend praktiziert werden.
Die Begriffe der „Pandemie“ i.S.d. Völkerrechts sowie der
„(bedrohlichen) übertragbaren Krankheit“ i.S.d. deutschen
Infektionsschutzgesetzes stehen losgelöst von dem Begriff der
„Katastrophe“. Der Katastrophenbegriff findet sich zwar vereinzelt
im Grundgesetz wieder[3], wird jedoch dort
nicht näher bestimmt. Demgegenüber regeln die für den
Katastrophenschutz zuständigen Bundesländer mehr oder weniger
einheitlich, wann eine Katastrophe im Sinne der Katastrophenschutzgesetze vorliegt:
Die Katastrohe wird definiert als „ein Ereignis, durch das das Leben, die
Gesundheit oder die lebensnotwendige Versorgung zahlreicher Menschen […] in
so außergewöhnlichem Maße gefährdet oder
geschädigt werden, dass Hilfe und Schutz wirksam nur gewährleistet
werden können, wenn die zuständigen Behörden, Stellen,
Organisationen und die eingesetzten Kräfte unter einer einheitlichen
Gesamtleitung der Katastrophenschutzbehörde zusammenwirken[4]“. Die Definitionen einer
„Katastrophe“ in den sechszehn Landesgesetzen haben gemein, dass sie
ursachenunabhängig ausgerichtet sind. Für das Vorliegen einer
Katastrophe kommt es nicht auf einen bestimmten Grund an: sowohl naturgegebene,
biologische als auch technische oder menschliche Ursachen werden somit erfasst.
Für einen Katastrophenfall kommt es vielmehr auf die Folgen eines
Ereignisses an. Erst die ausgelöste außerordentliche Gefahr vor
allem für Menschenleben und die Notwendigkeit einer einheitlichen Leitung
der Gefahrenabwehr machen ein Ereignis zu einer Katastrophe. Daraus lässt
sich für den Fall einer bio-infektiologischen Gefahr wie der
Virus-Ausbreitung folgendes ableiten: eine Pandemie bzw. eine (bedrohliche)
übertragbare Krankheit erfüllen nicht per se den Tatbestand einer
Katastrophe. Denn der Grad und das Ausmaß der Gefahr können
unterschiedlich ausfallen bzw. die Gefahrenabwehr kann oft geordnet in den
regulären Strukturen durchgeführt werden. Allerdings kann eine
Pandemie bzw. eine bedrohliche übertragbare Krankheit aufgrund ihrer
Auswirkungen die Katastrophenschwelle überschreiten, wenn das
Gesundheitswesen mit den Infektionsschutzmaßnahmen überfordert ist
oder aufgrund eines Massenanfalls von Erkrankten die medizinische Versorgung
überlastet ist. Zudem können kritische Infrastrukturen durch
pandemiebedingte Personalausfälle gefährdet werden[5]. Eine „Pandemiekatastrophe“
ist somit durchaus denkbar und kann sich vor allem in drei Ausprägungen
zeigen: 1. als Infektionsschutzkatastrophe (=Überforderung der
Infektionsschutzbehörden mit Infektionsschutzmaßnahmen), 2. als
medizinische Katstrophe (=medizinischer Notstand durch Überforderung
der medizinischen Versorgung beim Massenanfall von Erkrankten) und 3. als
Infrastrukturkatastrophe (=Gefährdung der Grundversorgung der
Bevölkerung durch Personalausfälle kritischer Infrastrukturen).
Szenarien der überlasteten individualmedizinischen Versorgung im
Pandemiefall
Szenarien der überlasteten individualmedizinischen Versorgung im
Pandemiefall
Abhängig vom Erreger sind unterschiedliche Versorgungsengpässe zu
erwarten. In der aktuellen Situation COVID19 sind alle Altersgruppen betroffen.
Durch den Übertragungsweg als Tröpfchen besteht zum einen die
Notwenigkeit von Schutzbekleidung und Desinfektion. Zum anderen kommt es
insbesondere bei älteren Erkrankten zu schweren Verläufen mit hohem
Ressourcenbedarf. Von besonderer Relevanz sind invasive und nicht-invasive
Beatmungskapazitäten, da bis zu 5% der Erkrankten intensivpflichtig
warden [1]. Entsprechende Technik,
Isolationsbetten und Personal sind dazu notwendig, wobei auch das Vorhalten
ausreichender Mengen medizinischer Gase wie Sauerstoff (14% der Erkrankten
hatten Sauerstoffbedarf) für eine große Zahl beatmeter Patienten zu
beachten ist.
Dieser Bedarf an Technik und Personal entsteht direkt aus dem spezifischen
Krankheitsverlauf und würde bei einem anderen Erreger und einem anderen
Übertragungsweg auch andere Ressourcen erfordern, was eine generelle
Vorsorge erschwert.
Käme es zur heutigen Zeit zu einem Ausbruch der Pest (Yersinia pestis),
würde wie aktuell ein großer Bedarf an Schutzbekleidung entstehen.
Im Gegensatz zu COVID19 würde allerdings auch ein hoher Antibiotikabedarf
vorliegen, der im Fall einer Bedarfsdeckung zu einer Reduktion der
Beatmungsnotwendigkeit führen würde. Versorgungspriorität
hätte damit die Sicherstellung der Antibiotikaversorgung. Hingegen
führte die Spanische Grippe (Influenza Subtyp A/H1N1) wie COVID19
über pulmonale Komplikationen zu einer hohen Letalität von
1,5–3% [2]. Bei einem erneuten
Influenza-Ausbruch in den damaligen Dimensionen würde ein Antibiotikabedarf
erst im späteren Verlauf der bakteriellen Sekundärinfektion
entstehen.
Zur Vermeidung von Sekundärkomplikationen durch bakterielle
Sekundärinfektionen sollten Risikopatienten gegen häufige Erreger
einer Lungenentzündung geimpft werden. Diese Empfehlung der
ständigen Impfkommission bestand bereits vor dem COVID19-Ausbruch. Die
allgemeine Sensibilisierung führt derzeit aber zu einer stark
erhöhten Nachfrage und Lieferschwierigkeiten, sodass die
Kassenärztliche Bundesvereinigung die impfenden Ärzte bereits jetzt
zu einem streng indikationsorientierten Handeln auffordert [3].
Rechtlicher Rahmen der Katastrophenbewältigung
Rechtlicher Rahmen der Katastrophenbewältigung
Je nach Virulenz können pandemische Ereignisse – wie aufgezeigt wurde
– die medizinische Versorgung überlasten. Sowohl bei der
Infektionsverhütung durch Schutzimpfungen als auch bei der medizinischen
Behandlung kann das Gesundheitssystem aufgrund von Ressourcenknappheit
überfordert werden: Bspw. können Impfstoffe nicht allen
Risikogruppen zur Verfügung gestellt werden, mangelnde Arzneimittel
können nicht dem Bedarf an medikamentöser Behandlung nachkommen,
begrenzte Beatmungskapazitäten machen eine Behandlung aller
beatmungspflichtigen Patienten unmöglich. Die medizinische Katastrophe als
Resultat einer Pandemie betrifft auf den ersten Blick das Gesundheitswesen. Sie
greift aber auch in den staatlichen Katastrophenschutz über. Die rechtlichen
Mechanismen zur Bewältigung derartiger Lagen stellen sich wie folgt dar:
Krankenhäuser als Teil der Gesundheitsversorgung und des
Katastrophenschutzes
Zu den zentralen Akteuren des Gesundheitswesens bei der Bewältigung eines
Massenanfalls von Erkrankten zählen in erster Linie die
Krankenhäuser. Durch Aufnahme eines Patienten entsteht im Regelfall ein
Behandlungsvertrag zwischen dem Krankenhausträger und dem Patienten. Auf
dieses privatrechtliche Rechtsverhältnis soll vorliegend nicht weiter
eingegangen werden. Bei Eintritt eines medizinischen Notstands aufgrund eines
Massenanfalls von Erkrankten, dem die regional betroffenen Krankenhäuser
mangels Kapazitäten nicht nachkommen können, erweitert sich der
rechtliche Rahmen erheblich. Der Anwendungsbereich des
Landeskatastrophenschutzgesetzes wird eröffnet. Denn die medizinische
Versorgung durch Leistungen von Krankenhäusern basieren nicht nur auf
Grundlage des privatrechtlichen Gesundheitsrechts. Die Rettung von Menschenleben
ist zugleich eine Aufgabe der medizinischen Gefahrenabwehr. Die Aufgabe der
Gefahrenabwehr fällt in der Bundesrepublik Deutschland in den
grundlegenden Verantwortungsbereich des Staates. Die medizinische Gefahrenabwehr
bei medizinischen Notfällen ist in diesem Sinne etwa durch die
Landesrettungsdienstgesetze besonders organisiert. Im Krankenhaussektor werden
die Aufgaben der medizinischen Behandlung einschließlich der
Lebensrettung zwar auf die Krankenhausträger auf Grundlage der
Landeskrankenhausgesetze zur eigenen Erfüllung übertragen[6]. Im Falle eines medizinischen Notstands
greifen jedoch gefahrenabwehrende Regelungen. So regeln bspw. viele
Landeskrankenhausgesetze, dass Krankenhäuser am Katastrophenschutz
beteiligt sind[7]. Sie haben mit den
Gefahrenabwehrbehörden zusammenzuarbeiten. Ihre Mitwirkung erstreckt
sich u. a. auf gemeinsame Bettennachweise sowie die gegenseitige
Unterstützung und Abstimmung im Katastrophenfall. Entsprechend regeln
auch die meisten Landeskatastrophenschutzgesetze, dass
Katastrophenschutzbehörden mit Krankenhäusern zusammenzuarbeiten
haben und diese Teil der Katastrophenschutzplanung sind[8]. Daraus folgt, dass
Krankenhäuser zwar regelmäßig selbständig
handelnde Akteure der Gesundheitsversorgung sind, sie jedoch auch einen
wichtigen Bestandteil des Katastrophenschutzes als einer öffentlichen
Aufgabe ausmachen.
Feststellung des medizinischen Katastrophenfalls
Sofern aufgrund eines Massenanfalls von beatmungspflichtigen Erkrankten die
Beatmungskapazitäten eines Krankenhauses überlastet sind und
auch benachbarte Krankenhäuser nicht ausreichend unterstützen
können, kann ein medizinischer Notstand vorliegen. Wenn auch im
Regelfall Krankenhäuser mithilfe ihrer eigenen Netzwerke und mithilfe
der Rettungsleitstellen Überlastungssituationen selbständig
koordinieren, [4] ist bei einem
außerordentlichen Massenanfall von (z. B. beatmungspflichtigen)
Erkrankten eine Überlastung auch dieses Systems möglich. Nach
den Katastrophenschutzgesetzen der Länder obliegen die Beurteilung der
Lage und die Klassifizierung dieses Ereignisses als Katastrophe den
Katastrophenschutzbehörden[9]. Dies sind in der Regel die Landkreise und kreisfreien Städte;
bei einer landesweiten Katstrophe das Landesinnenministerium[10]. Einen entsprechenden Mechanismus
für den Fall einer Katastrophe von nationaler Bedeutung sieht das
Grundgesetz gegenwärtig nicht vor [5].
Behördliche Maßnahmen im medizinischen
Katastrophenfall
Die Feststellung des Katastrophenfalls bzw. der sogenannte Katastrophenalarm
aktiviert zahlreiche Mechanismen der Gefahrenabwehr. Hierbei handelt es sich zum
einen um organisatorische Veränderungen: Die Verantwortung für
die einheitliche Leitung der Gefahrenabwehr in derartigen Lagen geht auf die
Katastrophenschutzbehörde über. Vor allem, wenn sich die Notlage
auf das Gebiet eines Bundeslandes erstreckt, kann das Landesinnenministerium als
Katastrophenschutzbehörde agieren. Die primäre Aufgabe der
Katastrophenschutzbehörde liegt in der einheitlichen Leitung aller
Maßnahmen für die Katastrophenabwehr, d. h. der
Bekämpfung der Katastrophe. An der Katastrophenabwehr haben sich
– soweit erforderlich – alle Behörden sowie der
Katastrophenschutzdienst unter der Leitung der Katastrophenschutzbehörde
zu beteiligen [6]. Zudem kommt
Katastrophenhilfe anderer Länder und des Bundes (einschließlich
der Bundeswehr) in Betracht[11]. Im Falle
eines medizinischen Notstands ermöglicht die gemeinsame Gefahrenabwehr
unter Leitung der Katastrophenschutzbehörde nicht nur, dass die
Zuweisung behandlungsbedürftiger Patienten landesweit zentral
koordiniert wird. Von besonderer Bedeutung sind darüber hinaus die
Eingriffsbefugnisse der Katastrophenschutzbehörden. Zur Abwehr einer
Katastrophe können Institutionen und Personen sowie Sachmittel
herangezogen werden [7]. Dies kann im
Falle eines medizinischen Katastrophenfalls besonders relevant werden, wenn es
darum geht, notfalls weitere Behandlungskapazitäten zu schaffen, indem
andere Gesundheitseinrichtungen zwangsweise umgewidmet werden oder
(medizinisches) Personal zur medizinischen Versorgungsleistung verpflichtet
wird. Hieran zeigt sich ganz deutlich, dass die rechtlichen
Möglichkeiten des Katastrophenrechts weit über die
herkömmlichen Möglichkeiten des regulären
Gesundheitsrechts hinausgehen.
„Triage“ im Falle der Pandemiekatastrophe
„Triage“ im Falle der Pandemiekatastrophe
Katastrophenmedizinische Betrachtung
Angesichts der Überlastung der individualmedizinischen Versorgung im
Falle einer Pandemiekatastrophe können in derartigen Lagen Sichtungs-
bzw. Triageverfahren notwendig werden. Die ärztliche Sichtung geht
zurück auf den russische Chirurgen Pirogow (1810–1881) aus den
Erfahrungen des Kaukasischen Kriegs und des Krimkriegs und ist damit keine
„neue“ Idee [8]. Im
Rettungsdienst erfolgt die Sichtung bei einer Großschadenslage auf
Grundlage der DIN 13050. Zumeist besteht aber eine zeitlich oder örtlich
begrenzte Lage, was einen Übergang in die Individualmedizin innerhalb
eines absehbaren Zeitfensters möglich macht. Bei einer Pandemie ist
hingegen eine langanhaltende und überregionale Gefahrenlage denkbar. Das
ethische Dilemma der beteiligten Ärzte und Pflegenden bleibt auch durch
Vorhalten zusätzlicher Behandlungskapazitäten bestehen. Das Ziel
„mit den vorhandenen Ressourcen möglichst viele Betroffene
effizient zu therapieren, bis eine individualmedizinische Betreuung wieder
möglich ist“ [9] bleibt
auch im Pandemiefall; der Zeitpunkt bis zur individualmedizinischen Betreuung
ist aber, anders als bei einem zeitlich begrenzten Geschehen wie einer
Erdbebenkatastrophe, nicht absehbar. In der aktuellen Situation in Deutschland
liegt die Hauptlast der ethischen Entscheidungsverantwortung primär in
den Händen der Intensivmediziner. Bei einem weiteren Anstieg der
Erkrankungszahlen bei gleichzeitiger Erschöpfung der
Beatmungskapazitäten droht jedoch die Triage zunehmend in die
Verantwortung der ambulant tätigen Ärzte abgegeben zu werden.
Diese müssten dann allein über eine Einweisung oder
Nicht-Einweisung in ein überfülltes Krankenhaus entscheiden.
Damit diese Situation nicht entsteht, ist ein konsequenter Ausbau der
erforderlichen Behandlungskapazitäten erforderlich.
Rechtliche Anforderungen an die Priorisierung im Falle einer
Pandemiekatastrophe
Katastrophen im Allgemeinen und eine Pandemiekatastrophe im Besonderen zeichnen
sich – wie bereits erörtert wurde – vor allem durch eine
außerordentliche Gefahrenlage aus. Charakteristisch für das
besondere Ausmaß des Ereignisses ist oftmals die Ressourcenknappheit.
Zum wesentlichen Merkmal des Katastrophenrechts und der Katastrophenmedizin
zählt deshalb der Konflikt einer Mangelsituation: dem hohen
Ressourcenbedarf steht ein Ressourcenmangel gegenüber [10]. Dieses katastrophentypische Dilemma
stellt nicht nur eine medizinische und ethische Herausforderung dar, sondern
fordert auch das Recht heraus. Wie soll etwa bei einem Massenanfall von
Verletzten oder einem Massenanfall von Erkrankten rechtssicher entschieden
werden, wer behandelt wird und wer keine (lebensrettende) Behandlung
erfährt? Wie soll bei einer gefährlichen Virusausbreitung
rechtssicher entschieden werden, wer vorrangig mit knappem Impfstoff versorgt
wird? Die Gesetzgeber haben diese Fragen weder im Infektionsschutzgesetz noch in
den Landeskatastrophenschutzgesetzen bisher durch Regelungen beantwortet. Dies
erstaunt, da im demokratischen Rechtsstaat der Gesetzgeber entweder selbst
über lebensrelevante Auswahlkriterien entscheiden muss oder aber die
Festlegung dieses Verfahrens durch Gesetz auf ein Gremium übertragen
muss [11].
Gleichwohl setzt selbstverständlich das Verfassungsrecht einen Rahmen
für die bereits praktizierten Prioritätenbildungen im
Gesundheitssektor im Allgemeinen sowie in der Katastrophenmedizin im Besonderen.
Sowohl die Prioritätenbildung bei der Verteilung knapper Impfstoffe, die
Sichtung bzw. Triage beim Massenanfall von Erkrankten als auch die Auswahl bei
der Zuweisung knapper Beatmungsplätze unterliegen unmittelbar oder
mittelbar den Rahmenbedingungen des Grundgesetzes.
Priorisierung bei der Verteilung mangelnder Impfstoffe
Zu den wesentlichen Aufgaben des Infektionsschutzes zählt die Impfung
der Bevölkerung [12].
Schutzimpfungen können vor allem bei gefährlichen
Virusausbreitungen überlebenswichtig sein. Durch ihre Gesundheits-
bzw. Lebensrelevanz berühren Entscheidungen über ihre
Verteilung auch die Grundrechte der Bürger. Hierbei handelt es sich
um sehr komplexe Fragestellungen des Verfassungsrechts, die an dieser Stelle
nicht detailliert dargestellt werden können. Hervorgehoben werden
soll jedoch zum einen, dass Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes die
Benachteiligung von Personen einzig auf Grundlage eines bestimmten
Kriteriums verbietet: z. B. dem Geschlecht, der Herkunft, dem Alter.
In der soziologischen und juristischen Katastrophenwissenschaft haben sich
jedoch Kriterien herausentwickelt, die als zulässige Kriterien einer
Bevorzugung gelten. Höchste Priorität bei der Verteilung
knapper Impfstoffe hat demnach auf der ersten Stufe das Personal kritischer
Infrastrukturen [13]. Hierzu
zählen alle Menschen, die Aufgaben der Grundversorgung der
Bevölkerung, der Funktionsfähigkeit des Staates und der
öffentlichen Sicherheit erfüllen. Unter anderem wird ihre
Bevorzugung damit begründet, dass der Staat in erster Linie die
Bevölkerung zu schützen habe, indem er ihre Sicherheit und
ihre überlebenswichtige Versorgung sichert. Andernfalls wäre
zu befürchten, dass sich durch den Ausfall kritischer
Infrastrukturen der Schaden für die Bevölkerung über
die aktuelle Notlage kaskadenartig erweitert. Auf der zweiten Stufe erfolgt
die Auswahl der Menschen nach der medizinischen Dringlichkeit der
Maßnahme [14]. Dies trifft
allen voran auf Risikogruppen je nach Art des Virus zu.
Priorisierung bei der Verteilung mangelnder
Behandlungskapazitäten
Im Falle einer medizinischen Katastrophe sind Entscheidungen über die
Auswahl von Patienten und die Verteilung mangelnder Ressourcen
(z. B. Arzneimittel, Beatmungsgeräte) denkbar. Auch hier
gelten zunächst die Einschränkungen des Art. 3 Abs. 3 GG,
wonach bspw. einzig aufgrund des Geschlechts eine Benachteiligung
unzulässig ist. Auswahlverfahren nach den Prinzipien „Frauen
und Kinder zuerst“, „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“
oder nach einem Losverfahren sind unzulässig, wenn sie
pauschalisierend erfolgen. Vielmehr ist auch hier ein Vorgehen in 2 Stufen
angezeigt. Sofern die Kapazitäten noch nicht vollends
ausgeschöpft sind, jedoch eine Priorisierung über die
zeitliche Reihenfolge einer Behandlung zu treffen ist, kommt vor allem das
Kriterium der medizinischen Dringlichkeit für die
Konfliktlösung in Betracht [15]. In diesem Sinne erfolgt etwa auch die Sortierung von
Patienten im Rahmen des Triage-/Sichtungsverfahrens in den
Kategorien I bis III nach diesem Kriterium. Sofern die Kapazitäten
vollends ausgeschöpft sind, hilft das Kriterium der Dringlichkeit
allerdings nicht weiter. Da die Dringlichkeit der Behandlung oftmals gleich
hoch ist, können die begrenzt vorhanden Ressourcen jedoch
gemäß der relativen Erfolgsaussicht ihres Einsatzes
eingesetzt werden. Die Auswahl der behandelten Patienten erfolgt demnach
nach der medizinischen Erfolgsprognose des Arztes. Diese Bewertung ist ein
dynamischer Prozess, der stets an einzelfallabhängige Faktoren
gekoppelt ist, wie z. B. vorhandene Krankheitsbilder,
Personalressourcen und Sachressourcen. Die Erfolgsaussicht der Behandlung
als Auswahlkriterium ist ein sachlicher Erwägungsgrund, nach dem in
Katastrophenfällen eine sachliche und rechtlich vertretbare
Entscheidung ansatzweise ermöglicht wird. Sofern in einer
Extremsituation die Erfolgsaussichten der betroffenen Patienten gleich hoch
sind und eine weitere Auswahlentscheidung zu treffen ist, die mit
tödlichen Konsequenzen für den nicht ausgewählten
Patienten verbunden ist, schützt das deutsche Strafrecht den
entscheidenden Arzt: Aufgrund der rechtfertigenden Pflichtenkollision
scheidet eine Strafbarkeit aus.
Eine Pandemie bzw. eine bedrohliche übertragbare Krankheit i.S.d.
Infektionsschutzgesetzes kann sich unter Umständen aufgrund
ihrer Auswirkungen auf das Gesundheitssystem oder auf kritische
Infrastrukturen zu einem Katastrophenfall entwickeln. Insbesondere im
Falle eines medizinischen Notstands können zur Lebensrettung
Gefahrenabwehrmaßnahmen der Katastrophenschutzbehörden
erforderlich werden. Sowohl Behörden als auch Ärzte
werden dennoch ethisch und rechtlich schwierige Entscheidungen treffen
müssen. Vor diesem Hintergrund kommt der Pandemie- und
Katastrophenvorsorge eine zentrale Rolle zu: Die Vorbereitung auf die
Pandemiebekämpfung muss eine klare und rechtsverbindliche
Aufgabe aller staatlichen und privaten Verantwortungsträger
darstellen. Hierbei spielen u. a. Planungen, Fortbildungen,
Übungen und Vorratshaltungen eine zentrale Rolle. In Deutschland
müssen der Bund und die Länder ihre gesetzlichen
Regelungen daraufhin überprüfen, ob die
Prävention, die Vorsorge und die Bekämpfung von
Pandemien und anderen Gefahren von nationaler Bedeutung effektiv
ausgestaltet sind.