Dtsch Med Wochenschr 2020; 145(10): 687-692
DOI: 10.1055/a-1146-1160
Standpunkt

Rechtsfragen der Ressourcenzuteilung in der COVID-19-Pandemie – Zwischen Utilitarismus und Lebenswertindifferenz

Legal Issues of Resource Allocation in the COVID-19 Pandemic – Between Utilitarianism and Life Value Indifference
Joachim Hübner
,
Denis M. Schewe
,
Alexander Katalinic
,
Fabian-S. Frielitz
 

Abstract

The COVID-19 pandemic poses unprecedented challenges for the German health care system. What is already the case in some other countries, may occur in Germany in the near future also: Faced with limited ICU resources, doctors will be forced to decide which patients to treat and which to let die. This paper examines the legal implications of such decisions. It takes up arguments from the general discussion on prioritization in medicine. A constitutional hurdle for the application of utilitarian criteria (in particular patients’ age or social role) comes from the principle that every human life is of equal value and must not be traded off against others (“life value indifference”). However, the limits that the Grundgesetz (German Basic Law) sets for state actions do not apply directly to doctors. According to the Musterberufsordnung (professional code of conduct), doctors act based on their conscience and the requirements of medical ethics and humanity. The implications of this normative standard for the prioritizing in an exceptional situation as the COVID 19 pandemic have not been sufficiently clarified. This uncertainty leads to emotional and moral burdens for doctors. The authors conclude that the German law grants a limited freedom of choice that allows physicians to apply utilitarian criteria in addition to purely medical decision algorithms.


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Die COVID-19-Pandemie stellt unser Gesundheitssystem vor Herausforderungen, die in der bundesdeutschen Geschichte beispiellos sind. Womöglich ist eine angemessene Versorgung jedes Einzelnen, wie sie in normalen Zeiten selbstverständlich ist, für unbestimmte Zeit nicht mehr gewährleistet. Insbesondere droht, was in anderen Ländern bereits eingetreten ist: die Notwendigkeit der Triagierung und Kontingentierung von Beatmungs- und Intensivbetten.


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Ausnahmezustand: Pflichten, Recht und Ethik

Die aktuelle Pandemie stellt einen Ausnahmezustand dar und wirft nicht nur versorgungspraktische, sondern auch rechtliche Fragen auf, die jenseits der juristischen Routine liegen. Der Beitrag geht der Frage nach, welche rechtlichen Rahmenbedingungen für die Zuweisung von Intensivkapazitäten bei Versorgungsengpässen gelten. Zudem versteht er sich auch als Ergänzung und Kommentierung der aktuell (am 25.03.2020) vorgelegten klinisch-ethischen Empfehlungen über die „Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ [1].

Behandlungspflicht

Behandlungspflichten betreffen Krankenhäuser und einzelne Ärzte.

  • Im Rahmen der im Krankenhausplan vorgesehenen Versorgungsaufgaben haben Krankenhäuser die Pflicht, alle zu versorgen, die nach Art und Schwere der Erkrankung ihre Leistungen benötigen (z. B. § 2 Abs. 1 Krankenhausgestaltungsgesetz NRW).

  • Im Verhältnis zum Patienten sind Krankenhäuser zum Abschluss eines Behandlungsvertrags verpflichtet, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls eine monopolartige Stellung haben (sog. Kontrahierungszwang). Dies ist der Fall, wenn der Patient im Fall der Ablehnung ärztlicher Behandlung ohne die rechtzeitige notwendige Hilfe bliebe [2].

  • Für einzelne Ärzte ergibt sich eine berufsrechtliche Verpflichtung zur Behandlung in Notfällen aus § 7 Abs. Satz 1 MBO-Ä.

Merke

Die genannten Bestimmungen gehen weit über die allgemeine strafrechtlich sanktionierte Pflicht zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not gemäß § 323c StGB hinaus.

Der Inhalt der Behandlungspflicht ergibt sich – soweit nichts anderes vereinbart ist – aus dem zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard (§ 630a Abs. 2 BGB). Dazu zählt alles, was nach dem jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung zum Erreichen des Behandlungsziels geeignet und erforderlich ist [3]. Dabei kann das Behandlungsziel bei fehlender Heilungsmöglichkeit auch die Lebensverlängerung oder die reine Symptomkontrolle sein. Damit ist im Grundsatz von der Verpflichtung auszugehen, dass jeder Patient, der nach allgemeinen Regeln einer ärztlichen Diagnostik und/oder Therapie bedarf, gemäß den Standards zu versorgen ist – es sei denn, die rechtzeitige Behandlung durch einen anderen, ebenso leistungsfähigen Versorger ist gewährleistet.


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Rechtfertigender Notstand und rechtfertigende Pflichtenkollision

Doch was bedeutet dieser Grundsatz, wenn der Versorgungsbedarf vieler Patienten die verfügbaren Ressourcen übersteigt? Die rasche Ausbreitung des Coronavirus wird wahrscheinlich dazu führen, dass die Zahl der intensivpflichtigen Patienten die Kapazitäten nicht nur auf Ebene einzelner Krankenhäuser, sondern im gesamten Bereich der stationären Versorgung übersteigt. In einer solchen Situation werden Entscheidungen notwendig, die sehr konkret das Leben eines Menschen zugunsten des Lebens eines anderen opfern.

Welche Konsequenzen hat das für den Behandler?

  • Bei gegebener Pflicht, beide zu behandeln, verwirklicht die Nichtbehandlung (konkret etwa das Vorenthalten einer Beatmung, wenn sie den Tod des Patienten zur Folge hat) den objektiven Tatbestand einer Tötung durch Unterlassen (§ 212 i. V. mit § 13 StGB).

  • Sieht derjenige, der diese Entscheidung triff, den tödlichen Ausgang als sicher voraus (sog. direkter Vorsatz) oder rechnet er zumindest damit und nimmt ihn billigend in Kauf (sog. bedingter Vorsatz), ist auch der subjektive Tatbestand erfüllt.

Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) kommt nur in Betracht, wenn die Abwägung der beteiligten Rechtsgüter zu einer klaren Handlungspriorität führt. Konkret müsste das Interesse an der Rettung des einen das Interesse an der Rettung des anderen „eindeutig überwiegen“. Eine solche (am Maßstab der Rechtsordnung auszurichtende) Wertung lässt § 34 StGB nach allgemeiner Meinung aber nicht zu. Das menschliche Leben genießt rechtlich höchsten Schutz und darf im Rahmen des rechtfertigenden Notstands niemals zur Rettung anderer, auch gleichwertiger Interessen geopfert werden.

Zusatzinfo

Nach der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist es daher sogar dem Gesetzgeber verboten, den Abschuss eines Flugzeugs, das von Terroristen zum Angriff auf Menschen eingesetzt wird, zu erlauben, wenn in diesem Flugzeug auch tatunbeteiligte Menschen sitzen (Urteil vom 15.02.2006, Az. 1 BvR 357/05. Im Internet: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/02/rs20060215_1bvr035705.html). Das BVerfG leitet dies aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ab.

Es ist wichtig zu erkennen, dass die vom BVerfG bewertete Notsituation eine andere ist als diejenige, die sich aus dem Mangel von Intensivbetten ergibt. Wer auf den Abschuss eines als Waffe eingesetzten Flugzeugs verzichtet, verletzt keine Handlungspflicht. Der Arzt, der zur Behandlung zweier Patienten verpflichtet ist, aber nur einen behandeln kann, befindet sich demgegenüber juristisch in einem Dilemma: Es ist offensichtlich nicht möglich, dass er beide Rechtspflichten erfüllt. Da das Recht aber nichts Unmögliches verlangen kann („Ultra posse nemo obligatur“), wurde für solche Fälle die rechtfertigende Pflichtenkollision als übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund entwickelt.

Merke

Rechtfertigende Pflichtenkollision bedeutet: Kollidieren 2 gleichwertige Handlungspflichten miteinander, so ist die Vernachlässigung der einen rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die andere erfüllt wird.

Entsprechendes gilt, wenn mehr als 2 gleichwertige Handlungspflichten konkurrieren. Das Recht verlangt, dass möglichst viele von ihnen erfüllt werden; wenn dies geschieht, ist die Vernachlässigung der übrigen nicht rechtswidrig [4].


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Dringlichkeit und Erfolgsaussichten der Behandlung

Was einleuchtend klingt, wirft in der praktischen Umsetzung erhebliche Schwierigkeiten auf. Welche Gesichtspunkte müssen oder dürfen berücksichtigt werden, wenn die konkurrierenden Handlungspflichten sich auf die Rettung verschiedener Menschenleben beziehen? Rechtsprechung gibt es zu dieser Frage kaum, weil entsprechende Konstellationen die Gerichte bislang nicht beschäftigt haben.

Prototypisch für eine Situation, in der knappe Behandlungsressourcen zu harter Rationierung zwingen, ist der Massenanfall von Verletzten (MANV). Im „Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall“ heißt es dazu: „Der Rang der Pflichten richtet sich nach der Dringlichkeit der Behandlung, gemessen am Grad der Gefahr und an den Erfolgsaussichten für den Patienten“ [5].

Von der Dringlichkeit der Behandlung kann im hier interessierenden Kontext der Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen ausgegangen werden. Insoweit konsequent stellen auch die jetzt veröffentlichen Empfehlungen das Kriterium der „Erfolgsaussichten“ in den Vordergrund. Die Relevanz ergibt sich unmittelbar aus dem Gebot, mit den verfügbaren Ressourcen möglichst viele Menschenleben zu retten – oder mit den Worten der Empfehlungen: „möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen“ [1].

Zusatzinfo

Medizinische Kriterien

Entscheidend für die Erfolgsaussichten der Behandlung von COVID-19-Patienten sind laut den Empfehlungen die allgemeinen Kriterien

  • Schweregrad der Erkrankung,

  • Komorbiditäten und

  • allgemeiner Gesundheitsstatus (Gebrechlichkeit, z. B. anhand Clinical Frailty Scale).

Eine aktuelle Arbeit von Zhou et al. über prognostisch relevante Faktoren speziell bei COVID-19 nennt insbesondere

  • höheres Alter (Odds Ratio 1,10 pro Lebensjahr),

  • höherer SOFA-Score und

  • erhöhte D-Dimer-Konzentration bei Aufnahme [6].


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Utilitaristische Kriterien

Eine ethisch überaus herausfordernde Frage ist, ob neben rein medizinischen auch andere Kriterien die Zuweisung von begrenzten Versorgungsressourcen beeinflussen dürfen. Im Zusammenhang mit der Triage wird dies regelmäßig verneint [7] oder gar nicht erst thematisiert [5]. So knapp und apodiktisch diese Verbote im katastrophenmedizinischen Kontext geäußert werden, so wenig selbstverständlich sind sie.

„Sozialer Beitrag“

In einer qualitativen Untersuchung zum Thema „Ärztliches Handeln bei Mittelknappheit“ wurden von den interviewten Ärzten

  • die medizinischen Kriterien,

  • die Kosteneffektivität,

  • das Alter und

  • der soziale Beitrag

als praxisrelevante Priorisierungskriterien genannt [8]. Ein Befragter äußerte: „Ein Patient, der im sozialen Umfeld auch eine Aufgabe hat, sollte sicherlich eine gewisse Bevorzugung genießen.“ In diesem Sinne wäre es sicher gerechtfertigt, die verwitwete Mutter von 3 kleinen Kindern vorrangig gegenüber einer anderen Person mit sonst gleichen Merkmalen zu behandeln. Besondere berufliche Verantwortung könnte insbesondere dann beachtlich sein, wenn sie gerade im Hinblick auf die Bewältigung der Notlage besteht.

Merke

Wenn etwa ein Arzt/Krankenpfleger und ein Angehöriger nichtmedizinischer Berufsgruppen um ein Intensivbett „konkurrieren“, ist es unter utilitaristischem Gesichtspunkt sehr plausibel, das medizinische Personal als systemrelevant zu bevorzugen [9].

Dergleichen wird allgemein gebilligt, wenn knapper Impfstoff zuzuteilen ist. Wenn zukünftig ein Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus zur Verfügung steht, wird das nicht anders sein.


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Alter

Sehr diffizil ist die Frage, ob das Alter der Patienten die Priorisierung beeinflussen darf. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Die Berücksichtigung des Alters ist geboten, insoweit es um die Abschätzung der Erfolgsaussichten geht. Hier geht es demgegenüber um die Frage, ob die Rettung eines jüngeren Menschen gegenüber der Rettung eines Älteren – bei gleichen Erfolgsaussichten – prinzipiell Priorität verdient. Aus utilitaristischer Perspektive liegt es nahe, den jüngeren Patienten zu bevorzugen, da bei erfolgreicher Behandlung mehr Lebenszeit gewonnen wird [9]. In der allgemeinen Debatte um Priorisierung in der Medizin wird darin allerdings zum Teil eine kritische Altersdiskriminierung gesehen [10] [11].

Merke

Explizit geht die Zentrale Ethikkommission (ZEK) davon aus, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), welches die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie umsetzt, eine Differenzierung nach dem Alter ausschließt [12].

Dabei werden jedoch 2 Aspekte nicht hinreichend beachtet:

  • Erstens verweist das AGG gerade im Hinblick auf Leistungen der Sozialversicherungen auf das speziellere Benachteiligungsverbot des § 33c SGB I: Diese Regelung verbietet Ungleichbehandlungen aus Gründen der Rasse, wegen der ethnischen Herkunft oder einer Behinderung, nicht jedoch wegen Alters. § 33a SGB I geht umgekehrt sogar davon aus, dass es „altersabhängige Rechte und Pflichten“ gibt.

  • Zweitens verbietet auch das AGG Ungleichbehandlungen wegen Alters nicht absolut, sondern erlaubt sie, wenn sie durch berufliche Anforderungen (§ 8 AGG) oder ein sonstiges legitimes Ziel (§ 10 AGG) gerechtfertigt sind. Dies entspricht der allgemeinen Gleichbehandlungsdogmatik.

Damit stellt sich zunächst die Frage, ob Nutzenmaximierung in einem utilitaristischen Sinne überhaupt ein legitimes Ziel sein darf im Rahmen der Priorisierung von Versorgungsaufgaben. Dies ist trotz aller Zweifel, wie der Nutzen denn konkret zu bestimmen ist, im Grundsatz anerkannt. Die Zentrale Ethikkommission stellt in Übereinstimmung mit den Prioritätenkommissionen anderer Länder fest, dass unter der Bedingung insgesamt begrenzter Mittel die Kosteneffektivität der verfügbaren Maßnahmen zu berücksichtigen ist [12]. Dabei soll die Größe des gesundheitlichen Effekts am Zugewinn an Lebenszeit und Lebensqualität zu messen sein.

Merke

Laut ZEK ermöglicht das Vorenthalten von Leistungen mit besonders ungünstigem Kosten-Nutzen-Profil, freiwerdende Ressourcen anderen Patienten mit einem größeren erwartbaren Nutzen zugutekommen zu lassen.

Auch in der wissenschaftlichen Literatur wird festgestellt, dass eine Differenzierung nach Alter nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist [13].


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Lebenswertindifferenz

Aber gilt letzter Satz auch dann, wenn Entscheidungen über Leben und Tod anstehen? Scharf formuliert impliziert die Bevorzugung Jüngerer bei der Vergabe von Intensivbetten, dass man das Leben der Älteren als „weniger erhaltenswert“ beurteilt [10]. Dies gerät in Konflikt zum Prinzip der Lebenswertindifferenz.

Zusatzinfo

Prinzip der Lebenswertindifferenz

Es besagt mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Jedes menschliche Leben ist gleich wertvoll und kann deswegen keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“ (Urteil vom 25.02.1975, Az. 1 BvF 1/74, 1 BvF 2/74, 1 BvF 3/74, u. a.).

Demnach ist jeder hoheitliche Akt (in Form eines Gesetzes, einer Einzelverfügung oder als Anwendung unmittelbaren Zwangs), der bestimmte Personen oder Personengruppen von lebenserhaltenden Leistungen ausschließt und dies mit dem geringeren Nutzen des Lebenserhalts begründet, verfassungswidrig. Dies würde auch die Bevorzugung jüngerer Menschen oder von Menschen mit besonderer sozialer Verantwortung verbieten.

Bindung der ärztlichen Tätigkeit an das Prinzip der Lebenswertindifferenz?

Nun üben Ärzte, die über die Zuweisung von Intensivbetten entscheiden, allerdings keine hoheitlichen Funktionen aus. Sie sind zunächst Rechtsunterworfene, deren Handeln den allgemeinen straf- und zivilrechtlichen Grenzen unterliegt. Nach den allgemeinen Regeln der rechtfertigenden Pflichtenkollision dürften sie sich sogar von höchst unethischen Motiven leiten lassen, wenn sie sich für die eine oder andere der kollidierenden Handlungspflichten entscheiden.

Horribile dictu: Der Rassist, der an eine Unfallstelle kommt, auf 2 Schwerverletzte unterschiedlicher Ethnizität trifft, von denen er nur einen retten kann, darf sich aus Gesinnungsgründen für den hellhäutigen entscheiden und den Tod des anderen gutheißen [14]. Der Grund dafür ist, dass die Motivation ein Internum ist, dessen Kausalität nach außen hin nicht erkennbar wird. Seine rechtliche Ächtung würde dem Grundsatz widersprechen, dass unser Strafrecht kein Gesinnungsunrecht kennt.

Auf professionell handelnde Ärzte ist diese Argumentation nicht ohne Weiteres übertragbar. Ihre besondere Vertrauensstellung gegenüber Patienten und der Gesellschaft gebietet, dass sie ihre Handlungsmaximen offenlegen. Übergeordneter Maßstab ihrer Berufsausübung sind ihr Gewissen, die Gebote der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit (§ 2 Abs. 1 MBO-Ä 1997).

Ein medizinisch-ethischer Konsens, der das Verhältnis des Prinzips der Lebenswertindifferenz zu utilitaristischen Prinzipien in einer Notsituation wie der Corona-Pandemie klärt, ist in der facettenreichen Literatur nicht erkennbar. Dieser Konsens müsste Antworten für 2 Konstellationen geben:

  1. Dürfen bei der Zuweisung lebensrettender Ressourcen die soziale Funktion und/oder das Lebensalter der Patienten den Ausschlag geben, wenn sich aus medizinischen Gründen (Dringlichkeit/Erfolgsaussichten) keine Priorisierung ergibt?

    • Mit anderen Worten: Sind utilitaristische Kriterien als (im Verhältnis zu medizinischen) nachrangige Kriterien bei Priorisierungsentscheidungen zulässig?

Wenn dies bejaht wird:

  1. Dürfen bei der Zuweisung lebensrettender Ressourcen die soziale Funktion und/oder das Lebensalter der Patienten in der Weise berücksichtigt werden, dass sie eine ausschließlich an medizinischen Kriterien (Dringlichkeit/Erfolgsaussichten) orientierte Allokation umlenken können?

    • Mit anderen Worten: Dürfen utilitaristische Kriterien gleichberechtigt neben rein medizinischen Kriterien beachtet werden?

Merke

Die jüngst vorgelegten Empfehlungen zur Ressourcenzuteilung äußern sich zu diesen Fragen zurückhaltend.

Sie erklären – unter Verzicht auf die hier vorgeschlagene Differenzierung (Fragen 1 und 2) – eine Priorisierung „allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien“ (Hervorhebung im Original) für unzulässig [1]. Da die Erfolgsaussichten der Therapie aber jedenfalls zentrales Priorisierungskriterium sind, drückt der Wortlaut der Formulierung im engeren Sinne nur eine Selbstverständlichkeit aus. Eine für die Praxis hilfreiche Bedeutung hätte nur der positive Umkehrschluss, nämlich dass die genannten Kriterien berücksichtigt werden können. Der Verzicht auf eine entsprechende Aussage ist angesichts ihrer sozialen Sprengkraft nachvollziehbar. Es ist jedoch unübersehbar, dass diese Zurückhaltung der Forderung nach „transparente(n), medizinisch und ethisch gut begründete(n) Kriterien für die […] notwendige Priorisierung“ [1] nicht gerecht wird. Die Tragik des Dilemmas bleibt.


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Therapieabbruch oder -einschränkung aus Gründen der Priorisierung?

In der zu erwartenden Krise wird sich auch die Frage stel-len, ob eine bereits initiierte Therapie bei bestimmten Patienten abgebrochen werden darf, um andere behan-deln zu können. Diese Situation wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur anders beurteilt als die Situation, in der über die Zuweisung freier Behandlungskapazitäten zu entscheiden ist. Die herrschende (aber nicht unbestrittene) Meinung privilegiert denjenigen, der bereits behandelt wird. Damit wird das Vertrauen der Patienten und ihrer Angehörigen geschützt, dass eine eingeleitete Therapie (der Status quo) fortgesetzt wird. Wann die Privilegierung bereits eingeleiteter Rettungsmaßnahmen endet, wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Zum Teil wird angenommen,

  • dass dies bereits dann der Fall ist, wenn die Kapazität für jemanden benötigt wird, dessen Überlebensaus­sichten besser sind [14],

  • nach anderer Meinung erst dann, wenn die Fortfüh-rung der bereits eingeleiteten Behandlung „absolut aussichtslos“ ist [15].


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Fazit

Trotz der aktuellen klinisch-ethischen Empfehlungen blei-ben Ärzte bei wichtigen Fragen der Priorisierung im Kontext der COVID-19-Pandemie auf sich gestellt. Angemessene Antwort des Rechts auf diese emotional belastende Unsicherheit ist die Zubilligung eines Ermessenspielraums, der nach Maßgabe des Gewissens auch die Anwendung nicht ausschließlich medizinischer Kriterien erlaubt. Eine Vertiefung des ethischen Diskurses mit Fokus auf die hier skizzierten offenen Fragen ist für alle Beteiligten dringend wünschenswert.

Kernaussagen
  • Ein Arzt, der bei Vergabe knapper Intensivbetten ausschließlich die Erfolgsaussichten der Behand-lung berücksichtigt, handelt rechtmäßig.

  • Ein Arzt, der zusätzlich – ob gleichberechtigt oder nachrangig – Lebensalter oder soziale Verantwor-tung eines Patienten berücksichtigt, handelt in der gegebenen Ausnahmesituation ebenfalls rechtmäßig, sofern er in Übereinstimmung mit § 2 Abs. 1 MBO-Ä 1997 hierfür nachvollziehbare Gewissensgründe geltend machen kann.

  • Größte Zurückhaltung ist aus Rechtsgründen geboten, wenn eine bereits initiierte Therapie zugunsten eines anderen beendet werden soll.

  • Im Übrigen gilt, dass ein Arzt, der – in der unübersichtlichen Rechtslage – unvermeidbar annimmt, in Übereinstimmung mit dem Recht zu handeln, wegen fehlenden Verschuldens nicht bestraft wird (Verbotsirrtum i. S. d. § 17 StGB).


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Dr. jur. Dr. med. Joachim Hübner

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Jurastudium an der WWU Münster. Nach juristischer Tätigkeit, zuletzt als Richter am LG Münster, Medizinstudium an der Universität zu Lübeck und 4-jährige Tätigkeit in der Krankenversorgung. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Universität zu Lübeck. SP: Versorgungsforschung und Krebsepidemiologie.

Priv.-Doz. Dr. med. Denis Martin Schewe

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Studium der Humanmedizin in München und an der Harvard Medical School, weitere Ausbildung in New York. Ab 2011 in Kiel mit Abschluss der Weiterbildung im Bereich Kinder-Hämatologie/Onkologie. Seit 2015 Oberarzt und Leiter einer AG zur translationalen Leukämieforschung. Weiterer SP: telemedizinische Versorgung onkologisch erkrankter Kinder und Jugendlicher.

Prof. Dr. med. Alexander Katalinic

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Medizinstudium an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Leiter des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie der Universität zu Lübeck; Sprecher des Zentrums für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung sowie Vorsitzender der Lübecker Ethikkommission. Forschungs-SP: Epidemiologie, Versorgungsforschung und Früherkennung.

Dr. jur. Dr. rer. hum. biol. Fabian-S. Frielitz, LL.M., M.A., MBA, MHEd

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Studium Wirtschafts-, Politik-, Erziehungs- und Rechtswissenschaften. Seit 2015 wissenschaftlicher Koordinator des Zentrums für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung (ZBV) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie (Universität zu Lübeck). SP: Gesundheitsökonomie und Digitalisierung.

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. jur. Dr. rer. hum. biol. Fabian-S. Frielitz
Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie,
Universität zu Lübeck
Ratzeburger Allee 160
23562 Lübeck

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
01. April 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


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