Schlüsselwörter
Kulturelle Diversität - Gender Bias - geschlechtersensible Medizin - Gesundheitsversorgung
- Kommunikation
Key words
Cultural diversity - gender bias - gender medicine - health care - health communication
- sex
Einführung
Unsere Gesellschaft zeichnet sich durch Vielfalt im Hinblick auf Merkmale wie Geschlecht,
Alter, Religionszugehörigkeit, sozioökonomischer Status und Migrationshintergrund
aus und ist geprägt von ständiger Veränderung [4], [10]. Beispielsweise kommt es aufgrund des demografischen Wandels zu einer alternden
Gesellschaft und einer steigenden Zahl an Ein-Personen-Haushalten vor allem bei Frauen
[7]. Aber auch die Bevölkerung mit Migrationshintergrund wird immer heterogener, da
verstärkt Menschen aus Ländern nach Deutschland zuwandern, die dort bisher nur einen
kleinen Teil ausgemacht haben [2]. Diversität bedeutet für den Gesundheitsbereich, dass unterschiedliche Versorgungsbedürfnisse
von Patienten geäußert werden (z. B. hinsichtlich Aufklärung und Kommunikation) und
aus medizinischer Sicht häufig ein unterschiedlicher Versorgungsbedarf bestehen kann
(z. B. hinsichtlich medikamentöser oder psychosozialer Versorgung) [4]. Agierende im Gesundheitsbereich (Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen, aber auch
die Patienten selbst) werden dabei stetig vor neue Herausforderungen gestellt. Wird
die Diversität der Gesellschaft nicht hinreichend in den Versorgungsprozess miteingebunden,
bleiben Versorgungsbedürfnisse bzw. medizinischer Bedarf unerfüllt und nicht nur kommunikative
Missverständnisse und Unzufriedenheit können die Folge sein, sondern auch gravierende
negative Versorgungsergebnisse. Im Folgenden soll das Merkmal Geschlecht als wichtiger
Aspekt einer diversitätssensiblen Versorgung in den Blick genommen werden. Besonders
ist hier, dass nicht nur sozialgesellschaftliche, sondern auch biologische Unterschiede
berücksichtig werden müssen, um eine adäquate Versorgung gewährleisten zu können.
Zusätzlich muss erkannt werden, dass Geschlecht nicht als isolierter Faktor zu sehen
ist, sondern immer auch zusammenhängt mit Merkmalen wie Kultur oder Alter. Beispielsweise
ist das Östrogendefizit nach der Menopause bei Frauen im Gegensatz zu Männern einer
der häufigsten Gründe für Gesundheitseinschränkungen im Alter (wie der Verlust an
Knochendichte, kardiovaskuläre Erkrankungen, kognitive Störungen, Depression oder
Inkontinenz) [18].
Geschlechteraspekte in der Versorgung
Geschlechteraspekte in der Versorgung
Epidemiologisch betrachtet machen zunächst die Unterschiede im Krankenstand und in
der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen zwischen Frauen und Männern den Geschlechterunterschied
in der medizinischen Versorgung transparent. So waren im Jahr 2015 Frauen beispielsweise
um 14 % häufiger krankgeschrieben als Männer, was unter anderem damit zusammenhängt,
dass Frauen deutlich öfter Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen [25], [26], [33], [35] und häufiger aufgrund von psychischen Erkrankungen krankgeschrieben sind. Des Weiteren
machen Schwangerschaftskomplikationen 73 % des Geschlechterunterschieds im Krankenstand
aus und sind damit sicherlich als eine der Hauptursachen zu sehen. Mütter melden sich
zudem eher als Väter krank, um ihr Kind bei Krankheit zu Hause zu versorgen [25].
Jedoch sind diese Unterschiede im Krankenstand nur ein (oberflächlicher) Aspekt unter
vielen, in dem sich Frauen und Männer im Kontext von medizinischer Versorgung unterscheiden.
So scheinen sie als Patient oder Patientin Gesundheit und Krankheit sowie Beschwerden
und Symptome verschieden wahrzunehmen, sind oft nicht auf die gleiche Weise bereit
und fähig sich diesbezüglich mitzuteilen und beschäftigen sich in unterschiedlichem
Maße mit Gesundheit und Krankheit [9], [13]. Aber auch als Arzt nehmen sie Symptome manchmal anders wahr und treffen zuweilen
unterschiedliche diagnostische und behandlungsrelevante Entscheidungen [17], [19]. Im Folgenden soll der Einfluss des Geschlechts in der medizinischen Versorgung
genauer betrachtet und biologische, aber auch soziale Geschlechteraspekte aller Beteiligten
(Patienten und medizinisches Fachpersonal) berücksichtigt werden, um sich der Komplexität
dieses Themas nähern zu können ([
Abb. 1
]).
Abb. 1 Mögliche geschlechterbezogene Einflussfaktoren auf die medizinische Versorgung (eigene
Darstellung).
Bedeutung des „Gender Bias“
Bedeutung des „Gender Bias“
Medizinische Versorgung ist nicht geschlechterneutral. Dabei nimmt nicht nur das Geschlecht
des Patienten Einfluss auf den Versorgungsprozess, sondern es kann auch entscheidend
sein, ob das jeweilige Fachpersonal weiblich oder männlich ist. In diesem Zusammenhang
bestätigen Studien einen oft unbewussten „Gender Bias“, der sich auf das Geschlecht
der Patienten und Ärzte sowie auf das Geschlechterverhältnis in der Behandlungssituation
bezieht und durch eine systematische Verzerrung zu Fehlern in der Behandlung führen
kann. Beispielsweise ergab eine Studie zu Geschlecht und Diabetes, dass Patienten
im Vergleich zu Patientinnen mit Typ-2-Diabetes signifikant seltener eine optimale
Behandlung zur Vermeidung von möglichen Folgekomplikationen erhalten. Zudem wenden
Ärztinnen bei Patientinnen und Patienten intensiver prognostisch wichtiges Präventionsmanagement
als Ärzte an, und es gelingt ihnen besser als ihren männlichen Kollegen, Blutzuckerspiegel
und Blutlipidspiegel zu senken [12].
Ursache des „Gender Bias“ kann zum einen eine Annahme von Gleichheit oder Ähnlichkeit
zwischen den Geschlechtern sein, obwohl relevante Unterschiede bestehen. Folge ist,
dass Geschlechterunterschiede nicht berücksichtigt oder nicht als mögliche Erklärungsvariablen
diskutiert werden. Zum anderen werden Geschlechterunterschiede angenommen, wo möglicherweise
keine (bzw. weniger ausgeprägte) Unterschiede bestehen. Oder es findet eine Überbetonung
der Variable Geschlecht im Vergleich zu anderen Faktoren (z. B. Alter oder Gewicht)
statt, die nicht gerechtfertigt ist [16].
Annahme von Gleichheit oder Ähnlichkeit – Medikamentöse Behandlung
Annahme von Gleichheit oder Ähnlichkeit – Medikamentöse Behandlung
Ein Bereich, in dem Geschlechterunterschiede lange Zeit in der Forschung vernachlässigt
worden sind und in der Praxis meist noch unberücksichtigt bleiben, ist die medikamentöse
Behandlung. So wurden bis zum letzten Jahrhundert Frauen und weibliche Versuchstiere
systematisch aus medikamentösen Forschungsbedingungen ausgeschlossen [27]. Grund war die Annahme, Studienergebnisse würden durch den weiblichen Hormonzyklus
oder die Einnahme von Kontrazeptiva beeinflusst werden. Zudem befürchtete man einen
frühzeitigen Drop-out aufgrund von Schwangerschaft während des Untersuchungszeitraums.
Inzwischen besteht die Erkenntnis, dass genau diese hormonellen Einflüsse auf Medikamenteneinnahmen
notwendig zu untersuchen sind. Genauso sollte das Risiko einer Medikamenteneinnahme
während der Schwangerschaft konkreter erforscht werden, wobei zu bestimmten Medikamenten
wie Antidepressiva bereits Studienergebnisse vorliegen [24].
Frauen und Männer unterscheiden sich auf vielfache Weise hinsichtlich des Gebrauchs
und der Wirkung medikamentöser Behandlungen. Frauen befinden sich nicht nur häufiger
in medikamentöser Behandlung, sondern leiden auch öfter als Männer unter deren Nebenwirkungen
[26]. So besteht für Frauen im Vergleich zu Männern ein um 50 % bis 70 % höheres Risiko,
dass Arzneimittelnebenwirkungen auftreten. Zudem kommt es bei Frauen vermehrt zu medikamentös
induzierter Lebertoxizität, unerwünschten gastrointestinalen Ereignissen aufgrund
von steroidaler entzündungshemmender Medikamente sowie zu medikamentös bedingten allergischen
Hautausschlägen [31].
Obwohl die Pharmakokinetik (Effekte, denen ein Arzneimittel im Organismus unterliegt)
neuer Substanzen in der Regel für Männer und Frauen separat beschrieben wird, werden
die Behandlungseffekte (pharmakodynamische Effekte) fast nie geschlechtersensibel
untersucht [41]. Der spezifische Effekt einer hohen Anzahl existierender Medikamente auf Frauen
ist schlichtweg nicht bekannt. Die Regel ist, dass bei der medikamentösen Einnahme
zwar zwischen Kindern und Erwachsenen unterschieden wird, aber nicht zwischen Männern
und Frauen. Dabei gilt auch im Kontext der Arzneimittelwirkung, Geschlecht im Zusammenhang
mit anderen Einflussfaktoren, z. B. Alter, zu sehen. Beispielsweise zeigt sich im
Bereich der Psychopharmaka, dass prämenopausale Frauen besser als Männer auf selektive
Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) ansprechen, wohingegen trizyklische Antidepressiva
bei Männern und postmenopausalen Frauen ähnlich gut wirken [31].
Anders als auf gesellschaftlicher Ebene, setzen sich Forscher im Bereich der geschlechtersensiblen
Medizin deshalb gegen eine generelle Gleichbehandlung von Frauen und Männern ein.
Die Forderung nach einer Behandlung, die die unterschiedlichen biologischen Voraussetzungen
zwischen den Geschlechtern anerkennt und berücksichtigt, beschränkt sich dabei nicht
nur auf die Einnahme von Medikamenten, sondern bezieht sich auch auf Erkrankungen
mit unterschiedlichen Prävalenzen, z. B. tritt Osteoporose deutlich häufiger bei Frauen
auf. Eine zu starke Betonung dieser Geschlechterunterschiede birgt aber auch die Gefahr,
dass Erkrankungen beim jeweils anderen Geschlecht nicht oder zu spät erkannt werden.
Überbetonung der Variable Geschlecht – Beispiel psychosoziale Behandlung
Überbetonung der Variable Geschlecht – Beispiel psychosoziale Behandlung
Eine solche Überbetonung der Variable Geschlecht findet häufig auf psychosozialer
und psychiatrischer Ebene statt. Da deutlich mehr Frauen als Männer an psychischen
Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen leiden [5], [28], werden diese Erkrankungen bei Männern häufig übersehen oder zu spät erkannt. Deutlich
wird das beispielsweise daran, dass Männer sich 3-mal so häufig wie Frauen suizidieren
und bei 70 % der Suizide eine depressive Erkrankung ursächlich ist [11]. Damit scheinen aktuell klare Defizite in Diagnostik und Versorgung depressiver
Episoden (und psychischer Erkrankungen im Allgemeinen) vor allem bei Männern zu bestehen
[40]. Ursächlich dafür könnte sein, dass zwar depressive Kernsymptome wie Traurigkeit,
Niedergeschlagenheit und Anhedonie von beiden Geschlechtern etwa gleich häufig genannt
werden, sich andere Symptome zwischen den Geschlechtern aber durchaus unterscheiden
können. Zum Beispiel reagieren Männer bei einer Depression eher aggressiv und risikofreudig
und greifen öfter zu Alkohol und Drogen. Diese externalen Symptome können besonders
zu Beginn häufig die „klassisch“ internalen Symptome wie Selbstwertverlust, Antriebslosigkeit
oder Verlust an Freude überdecken [40]. Vom Fachpersonal werden solche Verhaltensweisen dann häufig nicht als mögliche
Depressionssymptome erkannt, sondern als „typisch männliche“ Abwehrstrategien“ eingeordnet
[29].
Ein ähnliches Beispiel findet sich im Bereich der Essstörungen. Nur sehr wenige Erkrankungen
weisen einen so enormen Geschlechterunterschied auf wie er bei Anorexia und Bulimia
nervosa zu beobachten ist. Im Erwachsenenalter sind bis zu 90 % der an Anorexie oder
Bulimie Erkrankten weiblichen Geschlechts [15]. Das hat zur Folge, dass wenig Wissen zu diesen Erkrankungen bei Jungen und Männern
besteht. So wurde Anorexie bei Männern lange Zeit nicht (an)erkannt und oft fälschlicherweise
als Schizophrenie eingeordnet. Die symptomatische Körperschemastörung wurde dabei
im Kontext eines wahnhaften Verhaltens verstanden. Das DSM-Kriterium einer mindestens
seit 3 Monaten bestehenden Amenorrhö (Ausbleiben der Menstruation) konnte selbsterklärend
nicht greifen. Im ICD-10 wurde dieses Kriterium deshalb durch das Vorhandensein einer
endokrinen Störung (die sich bei Frauen als Amenorrhö und Libidoverlust und bei Männern
als Libido- und Potenzverlust manifestiert) ersetzt [14].
Nicht nur auf psychosozialer Ebene, sondern auch in vielen anderen Bereichen werden
bestimmte Diagnosen aufgrund stereotyper Zuordnung zu einem Geschlecht nicht oder
verspätet gestellt. Beispielsweise wird ein Herzinfarkt [30] oder eine HIV-Erkrankung [6] bei Frauen viel später als bei Männern diagnostiziert. Grund dafür ist unter anderem,
dass diese Erkrankungen als „untypisch“ für das weibliche Geschlecht eingeordnet werden
und Frauen deshalb nicht als wahrscheinliche Kandidatinnen gelten. Während die Variable
Geschlecht einerseits also stereotyp zu stark betont wird, sind paradoxerweise andererseits
Geschlechterunterschiede in der Symptomatik dieser weitverbreiteten Erkrankungen oft
nicht hinreichend bekannt. Zum Beispiel existiert eine deutliche Chancenungleichheit
von Männern und Frauen hinsichtlich kardiologischer Behandlungen. Da sowohl Patientinnen
also auch behandelnde Ärzte häufig nicht mit einem Infarkt rechnen, erhalten Frauen
oft nicht rechtzeitig eine adäquate Behandlung und kommen europaweit meist später
ins Krankenhaus als Männer [32]. Grund hierfür kann ähnlich wie bei psychischen Erkrankungen sein, dass sich ein
Herzinfarkt bei Frauen häufig symptomatisch anders äußert als bei Männern, z. B. durch
Schmerzen der Kiefergelenke und des Rückens sowie vasovagale Beschwerden [34].
Kommunikation und Interaktion
Kommunikation und Interaktion
Durch fortschreitende Technisierung der Medizin und zunehmenden Zeitdruck von medizinischem
Fachpersonal tritt die Arzt-Patienten-Kommunikation als eigentlich zentraler Bestandteil
des Behandlungsprozesses oft in den Hintergrund [21]. Dabei spielt bei Diagnostik und Behandlung, neben (fehlendem) geschlechterbezogenen
Wissen, auch der Kommunikationsprozess zwischen Patienten und medizinischem Fachpersonal
eine tragende Rolle. Vor allem der Hausarzt begleiten die Patienten häufig über viele
Jahre und sind meist erste Anlauf- und Koordinationsstelle für die weitere medizinische
Versorgung. Die Freiheit, das Geschlecht des Hausarztes selbst zu wählen scheint dabei
besonders für Frauen entscheidend, wobei die Mehrheit (z. B. bei sexuellen Problemen)
eine Hausärztin bevorzugen würde. Diese geschlechtsspezifische Präferenz wird unter
anderem mit einem patientenorientierten Kommunikationsstil erklärt, der häufiger von
Ärztinnen praktiziert wird [17]. Während der Konsultation explorieren Ärztinnen die psychosozialen Umstände der
Patienten durchschnittlich genauer, spenden dem emotionalen Zustand mehr Beachtung,
treffen einen positiveren Ton, ermöglichen den Betroffenen eine Zusammenarbeit auf
Augenhöhe und ermutigen zu mehr Teilhabe an medizinischen Entscheidungen. Ärzten wird
dagegen häufig ein eher aufgabenorientierter Kommunikationsstil zugesprochen, der
das Herausarbeiten der Krankheitsgeschichte sowie das Erklären von Diagnosen und präzisen
Behandlungsstrategien beinhaltet [1].
Zudem treffen Ärzte zuweilen unterschiedliche Entscheidungen bezüglich Diagnose und
Behandlung. Zum Beispiel führen Ärzte bei den gleichen Symptomen häufiger eine Rektaluntersuchung
bei männlichen Patienten durch als ihre Kolleginnen. Dagegen nehmen Hausärztinnen
im Vergleich zu Hausärzten bei Frauen eher eine Vaginaluntersuchung vor [20], [37]. Es scheinen psychologische Barrieren zu existieren, wenn es darum geht, Patienten
des anderen Geschlechts sehr persönliche Fragen zu stellen oder intime Behandlungen
vorzunehmen. Das führt zuweilen dazu, dass notwendige Behandlungen nicht stattfinden,
Ärzte bezüglich dieser Untersuchungen weniger erfahren sind und seltener relevante
Befunde gemacht werden können. Auch ergeben Studien, dass Hausärzte und Internisten
häufiger und in höheren Dosen Psychopharmaka, Sedativa und Analgetika als ihre Kolleginnen
verschreiben (und Patientinnen diese häufiger verschrieben bekommen als Patienten)
[19], [38]. Ärzte interpretieren Gesundheitsbeschwerden bei Frauen öfter als psychosomatisch
als bei männlichen Patienten. Sie verschreiben zudem Frauen in der Menopause häufiger
hormonelle Ersatztherapien und HIV-positiven Patienten häufiger Proteaseinhibitoren
als dies bei Ärztinnen zu beobachten ist. Aber nicht nur das Geschlecht, sondern auch
die aktuelle Lebensphase kann Einfluss auf medizinische Entscheidungen ausüben. Zum
Beispiel verschreiben Hausärztinnen mit menopausalen Beschwerden Patientinnen im Klimakterium
deutlich häufiger hormonelle Ersatztherapien als ihre männlichen Kollegen oder jüngeren
Kolleginnen [1].
In der medizinischen Versorgung und Forschung gilt es die Balance zu halten zwischen
einer notwendigen Berücksichtigung des Einflussfaktors Geschlecht und dem Problem,
Geschlechterunterschiede zu sehen, wo möglicherweise keine, oder deutlich kleinere
als angenommen, bestehen (Überbetonung von Geschlecht). Beide Herangehensweisen können
eine schlechtere Behandlung und damit negative gesundheitliche Konsequenzen für Patienten
bedeuten. So führt zum Beispiel die Annahme von Gleichheit in der medikamentösen Behandlung
bei Frauen zu einem deutlich erhöhten Risiko für Nebenwirkungen [8], [26]. Die Überbetonung von Geschlecht kann diagnostische Fehlentscheidungen zur Folge
haben, da bestimmte Erkrankungen stereotyp einem Geschlecht zugeordnet werden. Nicht
nur auf psychosozialer Ebene, z. B. werden Depressionen bei Männern häufiger übersehen,
sondern auch in vielen anderen Bereichen, z. B. bei kardiovaskulären Erkrankungen,
werden bestimmte Diagnosen deshalb nicht oder verspätet gestellt. Lösung auf dem Weg
zu einer geschlechtersensiblen Versorgung und der Vermeidung von diesbezüglichen Fehlentscheidungen
ist sicherlich eine deutliche Sensibilisierung des medizinischen Fachpersonals, aber
auch der Patienten ([
Abb. 2
]). Diese Sensibilisierung erfolgt bereits in ersten Ansätzen durch geschlechterbezogene
Forschung (z. B. muss Geschlecht bei Förderungen durch die EU in Studien berücksichtigt
werden) und Lehre (z. B. bietet die Universität Halle-Wittenberg Handreichungen für
die Integration geschlechtssensibler Medizin in die Lehre an, auch haben einige Universitäten
bereits ein entsprechendes Wahlfach eingeführt [22], [23]) sowie entsprechende Fortbildungsmöglichkeiten (z. B. über die Deutsche Gesellschaft
für Geschlechtsspezifische Medizin e. V.). Um medizinische Versorgung ausreichend
verbessern zu können, sind jedoch weitere Bemühungen dringend notwendig, z. B. bedarf
es einer systematischen Integration von geschlechterbezogenen Themen in das medizinische
Curriculum [22], [36], was nach internationalen Bewertungsmaßstäben [39] bisher nur eine medizinische Fakultät in Deutschland erreicht hat.
Abb. 2 Voraussetzungen auf dem Weg zu einer geschlechtersensiblen Versorgung (eigene Darstellung).
Erst wenn sich die medizinische Ausbildung diesbezüglich ändert, wird die geschlechtersensible
Medizin ihr Nischendasein in Forschung und Praxis verlassen können. Für zukünftige
Ärzte sollte es als selbstverständlich gelten, dass die Berücksichtigung von sozialem
und biologischem Geschlecht ein Teil der personalisierten, zielgerichteten Diagnostik
und Therapie sein muss, um eine angemessene Behandlung für Frauen und Männer gewährleisten
zu können und die Qualität in der Medizin zu erhöhen. Darüber hinaus sollte zukünftig
auch eine zunehmende Sensibilisierung dahingehend stattfinden, dass Kommunikation
und Behandlung im Versorgungsalltag immer mehr in einem „Cross-Cultural Setting“ stattfinden
und somit nicht nur von biologischen und sozialen Geschlechteraspekten geprägt sind,
sondern z. B. auch vor sprachlichen und kulturellen Herausforderungen aufgrund migrationsspezifischer
Aspekte stehen [3]. Die Wechselwirkung von Geschlecht mit anderen sozialen Determinanten sollte demnach
noch stärker Teil der geschlechtersensiblen Medizin werden.
Darüber hinaus können auch soziale Geschlechtermerkmale der zu behandelnden Person
Einfluss auf den versorgungsrelevanten Kommunikationsprozess nehmen. So unterscheiden
sich Patienten oft in ihrer Einschätzung hinsichtlich Gesundheit und Krankheit und
präsentieren bzw. erklären ihre Symptome in unterschiedlicher Weise oder versäumen
dies. Zum Beispiel sind Männer mehr als Frauen geneigt dazu, gesundheitliche Beschwerden
einschließlich psychischer Probleme zu verleugnen oder eigene Lösungsversuche zu finden.
Frauen berichten dagegen früher und häufiger von gesundheitlichen Problemen [1]. Auch können Geschlechterunterschiede bezüglich der Bewältigung von gesundheitsbezogenen
und anderen Problemen beobachtet werden. Wie beschrieben, nehmen Frauen beispielsweise
deutlich häufiger professionelle Hilfe in Anspruch. Unklar bleibt dabei, ob Frauen
zuweilen „übermäßigen“ Gebrauch von Gesundheitsangeboten machen (Frauen verursachen
höhere Gesundheitskosten) oder ob Männer diese „ungenügend“ nutzen. Klar ist allerdings,
dass die deutlich selteneren präventiven Arztbesuche auf Seiten der Männer negative
Folgen aufweisen. Beispielsweise gehen rund 37 % der Frauen, aber nur 23 % der Männer
in Deutschland zur Krebsfrühdiagnostik [32]. Die Einführung geschlechtersensibler Präventionsprogramme scheint dringend notwendig,
um die Zielgruppe der Männer erreichen zu können. Unter anderen erweisen sich die
in medizinischen Praxen ausgelegten Informationen über Vorsorgeuntersuchungen oft
als problematisch. Aufgrund von sprachlichen Formulierungen und Bildmaterial scheinen
sich Männer häufig nicht angesprochen zu fühlen. Notwendig sind offenbar andere Anreize,
um Männer für ihre Gesundheit stärker zu sensibilisieren. Letztlich gilt es für Praktizierende
im Gesundheitssystem zu berücksichtigen, auf welche Weise Frauen und Männer physische
und psychische Beschwerden wahrnehmen, interpretieren und präsentieren. Dementsprechend
lässt sich das medizinische Verhalten so ausrichten, dass die erforderliche individuelle
Betreuung gewährleistet werden kann [1].