Vorgeschichte
In unserer sportmedizinischen Ambulanz stellte sich im September 2016 ein 14-jähriger
Läufer zur Beratung bezüglich des weiteren Trainings vor. Üblicherweise erfolgt bei
dieser Fragestellung eine sportmedizinische Grunduntersuchung, die eine allgemeine
Anamnese, eine Trainingsanamnese, ein Ruhe-EKG sowie einen Laktatleistungstest beinhaltet.
Fakultativ können eine Lungenfunktionstestung, eine Echokardiografie sowie eine Laboruntersuchung
durchgeführt werden.
Im Anamnesegespräch erwähnte er im Beisein seiner Mutter, er habe keine Vorerkrankungen.
Er befinde sich jedoch seit einigen Monaten in einer psychotherapeutischen Behandlung
wegen seines geringen Gewichts. Zum Laufen kam er zufällig. Nach der erfolgreichen
Teilnahme an einem Volkslauf wurde er im Ziel von einem Trainer als Talent gesichtet
und angesprochen.
Untersuchungsbefund
14-jähriger Sportler, Körpergröße 162 cm, 42 kg, BMI 16 kg/m², Körperfettgehalt (Caliper-Methode)
4,4 %, kindliches Erscheinungsbild. Bei der körperlichen Untersuchung fanden sich
bis auf das Untergewicht keine Auffälligkeiten. Das Ruhe-EKG und die Lungenfunktion
waren ebenso wie die Echokardiografie regelrecht. In der Trainingsanamnese berichtete
er über ein tägliches Lauftraining von bis zu 20 km/Einheit. Zusätzlich ging er schwimmen
und nahm an einem Hockeytraining teil. Teilweise ging er in der großen Pause zum Laufen
und absolvierte manchmal auch zwei Trainingseinheiten pro Tag. Infekte traten nicht
gehäuft auf.
Bei den Laborwerten ergaben sich keine größeren Auffälligkeiten: Es zeigte sich eine
diskrete Eisenmangelanämie; die Erhöhung von Kreatinkinase (CK) war auf das Training
zurückzuführen.
In der Laufbandergometrie ([
Abb. 1
]) ergab sich eine für das Alter gute Leistungsfähigkeit. Was störte?!
Abb. 1 Laktatleistungskurve des jugendlichen Läufers zur Feststellung der körperlichen Leistungsfähigkeit
(DL = Dauerlauf, TL = Tempolauf, LT = Laktatumschlagpunkt, IAS = individuelle anaerobe
Schwelle) (Quelle: C. Kopp; grafische Umsetzung: Thieme Gruppe)
Procedere
Der vorgestellte Sportler war untergewichtig, sein Wachstum war verzögert und es zeigte
sich auch im Hinblick auf sein Training ein auffälliges Verhalten. Daher wurde zunächst
eine Trainingsreduktion empfohlen. Er sollte nicht mehr als dreimal wöchentlich trainieren.
Zugleich wurde die Eisenmangelanämie mit einem Eisenpräparat behandelt. Bis auf Weiteres
sollten monatliche Laborkontrollen beim Kinderarzt durchgeführt werden. Um das Gewicht
zu steigern, erfolgte eine Ernährungsberatung, und der Jugendliche sollte sich einmal
pro Woche in unserer Ambulanz zur Bestimmung der anthropometrischen Daten vorstellen.
Unser Ziel war es, das bestehende Energiedefizit zeitnah auszugleichen. Zudem haben
wir ein Wettkampfverbot ausgesprochen. Die bereits begonnene Psychotherapie sollte
er wieder aufnehmen und Termine regelmäßiger wahrnehmen.
Bei der Therapieplanung haben wir uns an die Empfehlungen des IOC gehalten, die bei
vorliegender Essstörung ein Wettkampfverbot und eine Trainingsreduktion sowie eine
Wiederherstellung des Energiedefizits vorsehen [4].
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Die regelmäßigen Vorstellungen wurden gut eingehalten; der Sportler versuchte immer
wieder, durch verschiedene Tricks seinen Trainingsumfang zu erhöhen. Das regelmäßige
Wiegen und die Entwicklung des Körperfettes entwickelten sich zunächst erfreulich
([
Tab. 1
]).
Tab. 1
Veränderungen von Körpergewicht, Körperfett und Natriumkonzentration des jugendlichen
Läufers im Verlauf der Therapiesitzungen
Datum
|
Gewicht in kg
|
Körperfett in %
|
Elektrolyte Natrium [mmol]
|
27.09.16
|
42,0
|
4,4
|
140
|
18.10.16
|
43,7
|
6,2
|
|
22.11.16
|
43,9
|
5,9
|
|
14.12.16
|
44,8
|
5,3
|
|
30.01.17
|
46,0
|
4,4
|
|
20.02.17
|
46,4
|
5,3
|
|
23.03.17
|
46,2
|
8,1
|
130
|
06.04.17
|
45,7
|
6,8
|
129
|
12.04.17
|
-
|
-
|
139
|
Ab April veränderte sich die Situation. Der Sportler versuchte, alle beteiligten Personen
gegeneinander auszuspielen. Er wollte in ein Trainingslager gehen, die Teilnahme war
jedoch an bestimmte Vorgaben geknüpft: stabiles Gewicht, regelmäßiges Essen und Trinken,
Fortsetzen der Psychotherapie. Die wöchentlichen Vorstellungen waren von Streitigkeiten
mit uns und seinen Eltern geprägt.
Um, auch im Sinne des Sportlers, eine Entscheidung bezüglich des Trainingslagers zu
treffen, haben wir Mitte April bei uns die Laborwerte bestimmt. Dabei ergab sich ein
verändertes Bild der Situation ([
Tab. 1
]).
Der Befund zeigte eine deutliche Hyponatriämie. Dies war eine Situation, die für uns
die Entscheidung gegen die Teilnahme am Trainingslager leichter machte, denn der junge
Athlet hatte ein Problem mit seinen Elektrolyten – ein Hinweis, dass er beim regelmäßigen
Wiegen manipulierte.
Durch Verdünnung und/oder falsches Trinken kann es bei Sportlern zu einer Hyponatriämie
kommen, insbesondere wenn hohe Außentemperaturen herrschen und der Sportler sehr schwitzt.
3 % der ungeklärten Todesfälle beim Marathon sind auf eine Erniedrigung des Natriums
zurückzuführen ([
Abb. 2a
]) [3]. Beim Trinken ist daher auf eine ausreichende Zufuhr von Natrium zu achten ([
Abb. 2b
]). Dies kann auch durch leichtes Salzen der Getränke erreicht werden.
Abb. 2 Hyponatriämie kann gefährliche Auswirkungen haben. a 3 % der ungeklärten Todesfälle beim Marathon sind auf eine Erniedrigung des Natriums
zurückzuführen (HCM = hypertrophe Kardiomyopathie, PHCM = mögliche hypertrophe Kardiomyopathie,
+ = zusätzliche Diagnosen wie z. B. Arteriosklerose der Herzkranzgefäße, Myokarditis
etc.) (Quelle: Kim et al. 2012; grafische Umsetzung: Thieme Gruppe). b Wird der Flüssigkeitsverlust durch Schwitzen nicht mit natriumhaltigen Getränken
ausgeglichen, kommt es u. U. zu eine Hyponatriämie. (Quelle: C. Kopp; grafische Umsetzung:
Thieme Gruppe)
Auf intensives Nachfragen bestätigte er eine exzessive Wasseraufnahme vor dem Wiegen,
was die Hyponatriämie erklärte. Andere Ursachen wurden ausgeschlossen. An diesem Tag
eskalierte die Situation, und der Sportler verließ, zunächst mit seiner Mutter, unsere
Ambulanz.
Weiterer Verlauf
Wir haben bis Juli 2017 nichts mehr von dem Sportler gehört. Anfang Juli nahm er selbst
Kontakt zu uns auf, weil er in beiden Kniegelenken bei und nach der Belastung Schmerzen
hatte. Wir stellten ihn in unserer orthopädischen Ambulanz vor, wo eine MRT-Untersuchung
veranlasst wurde. Hier zeigte sich eine Ermüdungsfraktur der linken Tibia und eine
beginnende Ermüdungsfraktur der rechten Tibia ([
Abb. 3
]).
Abb. 3 Ermüdungsfraktur des linken proximalen Tibiaschaftes, beginnende Ermüdungsfraktur
des rechten proximalen Tibiaschaftes (Quelle: C. Kopp)
Somit war eine Trainingspause zwangsweise gegeben. Der Sportler hat in dieser Zeit
seine Psychotherapie weitergeführt und im Verlauf auch an Gewicht zugelegt. Dabei
ergab sich als erfreuliche Nebenerscheinung, dass er endlich auch etwas gewachsen
ist.
Dieser Fall zeigt deutlich das Vorliegen eines RED-S-Syndroms (siehe hierzu [
Abb. 1
], S. 61 Einführungsartikel) mit allen potenziellen Begleiterkrankungen. Auch zeigt
dieser Fall, dass nicht nur Frauen und Mädchen von diesem Symptomenkomplex betroffen
sein können.
Fazit
In der Sportbetreuung sollte immer, speziell bei körperbetonten Sportarten, an das
Vorliegen eines RED-S-Syndroms gedacht werden. Wichtig ist dabei, bereits in der Anamnese
auf typische Hinweise zu achten. Hierzu gehören Trainingsumfänge, Infektanfälligkeiten,
Angaben zur Regelblutung, Ermüdungsfrakturen sowie das Erheben von Ernährungsgewohnheiten[1]. Sollte sich der Verdacht bestätigen, ist es wichtig, im Team weiterzuarbeiten.
In dieses Team gehören der Sportler, das Umfeld, der Trainer, der Manager, Ärzte wie
Gynäkologe, Psychotherapeut/Psychiater und Ernährungsberater[4]. Man sollte sich nicht scheuen, auch mal gemeinsam ein Sportverbot auszusprechen.
Das wichtigste Tool zur Gesundung ist das Abbauen des Energiedefizites. Das wird oft
nur durch zeitweilige Sportreduktion erreicht [4]. In dieser Phase sollte der Sportler nicht allein gelassen werden, sondern er bedarf
einer guten und intensiven Betreuung. Sind die Symptome gravierend, muss auch eine
stationäre Therapie erwogen werden.
Im Alltag ist es wichtig, dass der Sportler nicht durch unkluge Bemerkungen wie z.
B. „Ein Kilo weniger macht dich eine Sekunde schneller“ in ein verändertes, gar pathologisches
Essverhalten gedrängt wird. Sollte ein kritisches Verhältnis von Größe, Gewicht und
Körperfett unterschritten werden, ist in der Regel auch mit einem Leistungseinbruch
zu rechnen[5]. Das muss den Betroffenen auch ehrlich kommuniziert werden. Sich an die „Back to
Sports“-Regeln des IOC zu halten, macht den Umgang mit betroffenen Athleten etwas
einfacher, da viele ein Regelwerk von oberster Stelle eher anerkennen und man hiermit
auch Perspektiven aufzeigen kann.
Nicht jeder Athlet mit einem Energiedefizit leidet zugleich an einer Essstörung; dies
muss frühzeitig abgeklärt werden.
-
Untergewicht bei Sportlern ist nicht physiologisch.
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Eine primäre oder sekundäre Amenorrhoe muss gynäkologisch abgeklärt und ggf. therapiert
werden; sie ist bei Leistungssportlerinnen nicht normal.
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Ermüdungsfrakturen müssen hellhörig machen, hier sollte eine Osteopenie ausgeschlossen
werden[2].
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Häufige Infekte sind ein weiterer Hinweis und müssen ebenfalls abgeklärt werden.
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Bei Verdacht auf Vorliegen eines RED-S-Syndroms sollte multidisziplinär behandelt
werden (Sportmedizin, Psychosomatik, betreuender Arzt, Gynäkologe, Endokrinologe).
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An erster Stelle der Behandlung steht der Ausgleich des Energiedefizites, um bleibende
Schäden abzuwenden.