Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88(10): 640-643
DOI: 10.1055/a-1130-7769
Editorial

Verschwörungstheorien: Ein Fall für die Psychiatrie?

Conspiracy theories: A case for psychiatry?
Joachim Klosterkötter

Verschwörungstheorien sind gegenwärtig in Zeiten der weltweiten Bedrohung durch die Corona-Pandemie wieder einmal hochaktuell. Kaum ein Tag vergeht, an dem sie nicht irgendwo in den nationalen und internationalen Medien aufgetaucht und auf für sie typische Weise kontrovers diskutiert worden wären. Auf der einen Seite wirken die angebotenen Erklärungen vor allem gesellschaftsbelastender Großereignisse wie jetzt der Virusverbreitung oder kürzlich noch der Migrationsströme durch bewusst im Verborgenen gehaltene, planvoll organisierte verschwörerische Machenschaften einer kleinen Gruppe von mächtigen Drahtziehern immer wieder neu faszinierend. Andererseits werden sie aber wegen ihrer Verstöße gegen die modernen Regeln wissenschaftlicher Evidenz-Basierung spätestens seit dem 2. Weltkrieg auch immer wieder als unfreiwillige oder auch ideologisch herbeigeführte und populistisch genutzte Rückgriffe auf vorrational mythologische Denkmuster kritisiert [1]. Auch die Vermutung, dass in der Entwicklung und Aneignung einer solchen von böswilligen Herrschaftsabsichten überzeugten Weltsicht ein paranoider Denkstil oder gar ein vollends krankhafter Erklärungswahn zum Ausdruck gelangen könnte, kommt wieder mit ins Spiel. Träfe sie tatsächlich zu, müsste man den Protagonisten von Verschwörungstheorien und ihrer Anhängerschaft in der Bevölkerung statt eines Wettstreits der Argumente wohl eher eine fachkundige Behandlung anbieten. Sie wären dann ja, in aller Kürze gesagt, wirklich ein Fall für die Psychiatrie.

Es ist also durchaus an der Zeit, dieses bislang überwiegend von Philosophen, Historikern, Politologen und am Rande auch Psychologen bearbeitete Problemfeld einmal aus psychiatrischem Blickwinkel zu betrachten. Dabei interessieren dann natürlich auch weiterhin alle die verschiedenen inhaltlichen Ausgestaltungen der Verschwörungstheorien, die man inzwischen kulturwissenschaftlich ermittelt und detailliert festgehalten hat. Denn sie können ja doch schon einmal so weit von den eingespielten Überzeugungen der Angehörigen des jeweiligen Kulturkreises abweichen, in dem sie aus Anlass von Naturkatastrophen, Kriegen, Terror-Anschlägen und vielen anderen gesellschaftlichen Belastungen entwickelt worden sind, dass man sie tatsächlich nur noch als ver-rückt oder eben wahnhaft beurteilen kann. Mehr noch kommt es jedoch bei der psychiatrischen Betrachtung auf die besondere Art und Weise an, in der die Vertreter und Anhänger solcher Theorien alle diese mehr oder weniger bizarren Inhalte immer wieder gleichförmig erleben. Und eben diese sehr spezielle Erlebnisstruktur muss beim heutigen Entwicklungsstand auch gar nicht mehr eigens für psychopathologische Analysen aufgedeckt werden. Sie lässt sich vielmehr schon klar genug aus den Grundannahmen ersehen, die man bei den bisherigen kulturwissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem Thema weitgehend übereinstimmend als konstitutive definitorische Merkmale für Verschwörungstheorien herausgestellt hat.

Nichts geschieht durch Zufall“, „nichts ist, wie es scheint“ und „alles ist miteinander verbunden“. Durch diese drei Grundannahmen wird die „conspiracy theory of the society“ [1] beispielsweise heute in einem ihrer einflussreichsten Definitionsversuche aus der amerikanischen Politologie charakterisiert [2]. Man kann sich leicht vorstellen, zu welchen Bedeutungserlebnissen solche Annahmen bei einer Vielzahl von Wahrnehmungen geradezu zwangsläufig führen müssen. Attributionen wie „das kann ja kein Zufall sein“ oder „da steckt eine verborgene Absicht dahinter“ oder „das ist ein Zeichen für etwas Anderes, als es zu sein scheint“ werden dem jeweils Wahrgenommenen so unmittelbar zugeschrieben, dass sie mit ihm zu einer Erlebniseinheit verschmelzen. Schon eine schlichte Geste wie die berühmte „Raute“ der Bundeskanzlerin erscheint dann nicht mehr als einfache unwillkürliche Handbewegung, sondern nimmt direkt bei ihrer Wahrnehmung Zeichencharakter für etwas ganz Anderes, vielleicht die Zugehörigkeit zu einem Geheimbund oder eine andere bedrohliche Bewandtnis an. Alle großen aktenkundigen Versionen der Verschwörungstheorie, die heutigen genauso wie die früheren, leben von Bedeutungserlebnissen dieser Art, die einem eigentlich neutralen, für unterschiedliche Interpretationen offenen optischen, akustischen oder anderen Datenmaterial einen solchen Zeichencharakter verleihen. Das Andere, das er anzeigt, wird dabei immer sogleich als die „wahre Bedeutung“ erlebt und sofort auch im Sinne eines offenbarenden Hinweises auf im Verborgenen wirksame feindliche Machenschaften verstanden. Folgerichtig kann es in der Konsequenz solcher Wahrnehmungen dann auch nur noch um das eine große Ziel einer entschlüsselnden Konkretisierung dieser ihrer eigentlichen Bedeutung durch eine umfassende detektivische Aufklärungsarbeit gehen, die den Verschwörungshintergrund vollends durchschauen und ans Licht bringen will [3].

Wenn dies aber nun wirklich die zugrundliegende Erlebnisstruktur ist, die Verschwörungstheorien zu dem macht, was sie sind, dann kann es eigentlich gar keinen Zweifel mehr daran geben: Verschwörungstheorien stimmen jedenfalls in dieser Hinsicht sehr weitgehend mit wahnhaften Weltbildern überein. Nichts ist nämlich so bezeichnend für den „point of no return“, an dem Schizophreniekranke in ihre Wahnwelt übergehen, wie der „Ausschluss des Zufalls“ und der Zeichencharakter, den ihre Wahrnehmungen damit annehmen. Auch hieran, an diese sich oft schon mit der Vorstellung eines bevorstehenden weitreichenden Durchblicks verbindenden Wahnwahrnehmungen der Stufe 1 schließen sich typischerweise Bemühungen um eine weitere Konkretisierung der angezeigten „wahren Bedeutung“ an. Sie werden, wie dies die Übergangsreihen von der Wahnstimmung bis zu voll konkretisierten Wahnwahrnehmungen der Stufe 3 immer wieder zeigen, von den Betroffenen gleichfalls sehr oft als eine quasi detektivische Aufklärungsarbeit erlebt, mit der man eben hinter diese tatsächliche Bedeutung der Zeichen kommen will. Man könnte meinen, dass solche krankhaften Sinngebungsprozesse doch auf jeden Fall in ihrem Differenzierungs- und Systematisierungsgrad hinter dem enormen Erklärungsaufwand ambitionierter Verschwörungstheorien zurückbleiben müssten. Die von abnormen Bedeutungserlebnissen angestoßene Wahnarbeit kann aber durchaus auch eine Vielfalt von Wahnideen mobilisieren und zu hoch komplexen Wahnsystemen der Verschwörung zusammenfügen, so dass sich auch hieraus kein zwingendes Unterscheidungsmerkmal ergibt [4].

Wie steht es dann aber um die ausschlaggebenden Wahnkriterien der subjektiven Gewissheit, Unkorrigierbarkeit und Unmöglichkeit des Inhalts selbst? Lassen wenigstens sie, wenn schon die Grundannahmen übereinstimmen, eine klare Abgrenzung der Verschwörungstheorien von einem Erklärungswahn zu? Wer heute eine anspruchsvolle Theorie zur Erklärung von hochrelevanten gesellschaftlichen Vorgängen zur Geltung bringen will, leitet aus ihr Hypothesen ab, die man anhand des vorhandenen Datenmaterials überprüfen kann. Auf diese Weise wären auch noch die außergewöhnlichsten, etwa auf Chemtrails, Reptiloide oder Illuminaten rekurrierenden Verschwörungstheorien im Prinzip einer wissenschaftlichen Erhärtung oder Widerlegung zugänglich. Ihre Vertreter und gerade auch die bekanntesten und erfolgreichsten unter ihnen, die sich bei ihrer Argumentation einen wissenschaftlichen Anstrich geben, bleiben jedoch offenbar von Anfang an von der Richtigkeit ihrer konspirativen Erklärungen überzeugt. Abweichende Daten können ihnen dann allenfalls Anlass zur Entwicklung etwa von weiterführenden Superverschwörungstheorien, niemals aber zur Korrektur des einmal eingeschlagenen Erklärungsweges geben. Wie unwahrscheinlich oder gar unmöglich die jeweilige Datenlage die angenommene Verschwörung auch erscheinen lässt, man hält doch - jedenfalls nach den eigenen öffentlichkeitswirksamen Verlautbarungen - wie ein Wahnkranker in unkorrigierbarer subjektiver Gewissheit an dem Wahrheitsgehalt dieser Theorie und der Faktizität der von ihr behaupteten Vorgänge fest [3].

Bei so viel Übereinstimmung wundert es nicht, dass man bei der bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Verschwörungstheorien auch ähnliche funktionale Überlegungen wie in der Wahnforschung angestellt hat. Wenn im Sinne der zentralen Grundannahme „nichts durch Zufall geschieht“, bietet es sich an, in diesem Ausschluss des Zufalls auch die ausschlaggebende, letztlich evolutionsbiologisch fundierte Leistung von Verschwörungstheorien zu sehen. Nicht von ungefähr nehmen sie ja eben immer wieder auf alle die unvorhergesehenen bedrohlichen Großereignisse Bezug, auf die man sonst leicht mit Chaosgefühlen, Panik und existenzieller Angst reagiert. Wenn eine Verschwörung dahintersteckt, verleiht dieser Gedanke auch noch so großen Katastrophen einen Sinn, der die eigene Handlungsfähigkeit und die in ihr gelegenen Möglichkeiten zur Gegenwehr betont. Der Preis für diese Art der Überwindung von Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und eigenen Ohnmacht ist allerdings hoch. Denn nur, wer sich auch für andere Erklärungsmöglichkeiten als die der absichtsvollen planerischen Gemachtheit offenhält, kann ja überhaupt sachlich adäquat und erfolgversprechend mit solchen gesellschaftlichen Herausforderungen umgehen. Wie entlastend und anregend also die intentionalistische Weltsicht zunächst auch wirken mag, so sehr schränkt sie den Spielraum für rationale Krisenbewältigung auch wieder ein.

Spätestens an dieser Stelle taucht dann natürlich die Frage auf, warum dieser klar objektivierbare analytische Nachteil nicht trotz der subjektiven Entlastungsvorteile längst zur endgültigen Desaktualisierung von Verschwörungstheorien geführt hat. Die Antwort, die sich hierauf in den bisherigen kulturwissenschaftlichen und psychologischen Beiträgen findet, läuft aufs Ganze gesehen auf dieselben regressionstheoretischen Vorstellungen hinaus, die man auch in den funktionalen Erläuterungsversuchen des schizophrenen Erlebniswandels findet. Wenn es ernst wird und Gefahren drohen, springt danach bei Menschen, die sich solchen gesellschaftlichen Krisensituationen nicht gewachsen fühlen, gewissermaßen kompensatorisch ein quasi religiöses Erklärungsmuster wieder an, das eigentlich früheren kulturellen Entwicklungsstufen angehört [1],[3],[4]. So können im Geheimen wirkende Personen oder Gruppen, heute etwa die Großkapitalisten Bill Gates und George Soros oder auch weiterhin noch die berühmt-berüchtigten Weisen von Zion, dieselbe weltweite Gestaltungsmacht wie früher der mittelalterliche Christengott oder die antiken Götter zugeschrieben bekommen. Auch frühe entwicklungsgeschichtliche Prägungen des menschlichen Gehirns scheinen beim Erhalt dieser nach wie vor gegebenen Reaktivierungsbereitschaft intentionalistischer Weltbilder eine Rolle zu spielen. Selbst gesunde, gut ausgebildete Erwachsene stellen im Wahrnehmungsexperiment lieber zusammenhängende Muster her, als Unordnung oder Zufall zuzulassen und bevorzugen intentionalistische Interpretationen, wo es nur eben geht [5]. Im schizophrenen Erlebniswandel betrifft der Eindruck der intentionalen Gemachtheit durch feindliche Mächte nicht nur die äußere Wahrnehmungswelt, sondern auch die eigenen Gedanken, Handlungen und Leibgefühle. Deshalb hat man sich in der Wahnforschung auch die entwicklungspsychologische Vorstellung einer kompensatorischen Reaktivierung des „Finalismus“ und des „Artefizialismus“ kindlicher Weltbilder noch vor dem Erwerb der Zufallskategorie zunutze gemacht [4]. Jedenfalls scheint das menschliche Gehirn auch aus aktueller neurowissenschaftlicher Sicht das in kortikalen Regionen repräsentierte normalpsychologische „world model“ moderner Erwachsener unter dem sonst nicht beherrschbaren Druck stark abweichender und hochgradig irritierender Informationen in dieser regressiven Richtung verändern zu können [6]. Darin wäre dann der biologische Hintergrund für die dysfunktionale Anpassungsleistung zu sehen, die man offenbar sehr ähnlich auch bei der Entwicklung oder Aneignung einer Verschwörungstheorie vollzieht.

Die weitreichende Übereinstimmung in der Erlebnisstruktur, im Wahrheitsanspruch und in der mutmaßlichen Entlastungsfunktion gibt zweifellos sehr zu denken. Muss man aber daraus nun auch die Schlussfolgerung ziehen, dass die Anhänger von Verschwörungstheorien tatsächlich psychiatrisch behandlungsbedürftig sind. Die Diagnosen, die für sie in Frage kämen, lassen sich leicht überschauen. Bis auf die paranoide und die schizotype Persönlichkeitsstörung sind sie nämlich in den heute gültigen Diagnosesystemen eigentlich sämtlich in der Gruppe des Schizophrenie-Spektrums und der anderen psychotischen Störungen zu finden und zeichnen sich dadurch aus, dass wahnhafte oder zumindest wahnähnliche Symptome mit zu den Kriterien gehören, die für ihre Anwendung erfüllt sein müssen [7]. In einer fiktiven diagnostischen Situation wäre demnach zunächst zu überprüfen, ob nur wahnähnliche seltsame Überzeugungen und magische Denkweisen wie beim Glauben an Hellseherei oder Telepathie vorliegen oder der behauptete Verschwörungstatbestand tatsächlich einem anhaltenden kulturell unangemessenen bizarren Wahnsystem entspricht. Im Fall bloßer Wahnähnlichkeit kämen vor allem die mit einem erhöhten Entwicklungsrisiko für Schizophrenie einhergehende schizotype Störung und daneben auch die paranoide Persönlichkeitsstörung als möglicherweise zutreffende Diagnosen in Betracht. Bei anscheinender Wahnhaftigkeit muss man erst immer noch ausschließen, dass die ausgestrahlte Gewissheit und Unerreichbarkeit durch Gegengründe nicht etwa ganz bewusst vorgetäuscht wird. Denn oft und vielleicht sogar meistens handelt es sich ja mehr um Verschwörungsideologien, mit denen man populistische Positionen im politischen Machtkampf bedienen will. Zudem kann es bei der Verbreitung von faszinierend-skurrilen Verschwörungsgeschichten heute in Zeiten, in denen die Echokammern und Filterblasen der sozialen Medien ungemeine Prominenz versprechen, auch ganz einfach nur um die Befriedigung besonders ausgeprägter Geltungsbedürfnisse gehen. Wenn mögliche Täuschungsmanöver etwa aus solchen Motiven dann jedoch sicher genug ausgeschlossen sind, bieten sich in erster Linie die wahnhaften und darüber hinaus auch die schizophrenen und anderen psychotischen Störungen für eine mögliche Diagnosestellung an.

Ein Blick in die Diagnosesysteme zeigt allerdings auch sofort, dass für alle diese Störungskategorien – mit nur einer Ausnahme – auch andere psychopathologische Auffälligkeiten als nur wahnähnliche oder wahnhafte Symptome gegeben sein müssten. Ob dies bei der Anhängerschaft von Verschwörungstheorien nicht vielleicht tatsächlich auch der Fall sein könnte, lässt sich beim heutigen Wissensstand aber überhaupt noch nicht beantworten. Während man seit den 1960er Jahren vor allem in den USA mehr davon ausging, dass es sich bei dem dazu gehörenden Bevölkerungsteil um eine Minderheit handeln würde, in der autoritäre Charaktere mit einem paranoiden Denk- und Verhaltensstil deutlich stärker als in der Gesamtbevölkerung vertreten wären, gilt der Glaube an Verschwörungstheorien heute in den damit befassten Kulturwissenschaften wohl eher als ein von psychischen Erkrankungen losgelöst zu betrachtendes Massenphänomen [3], [8]. Welche dieser beiden Einschätzungen allerdings die richtigere ist, ließe sich offenkundig nur durch zukünftige psychopathologische Vergleichsuntersuchungen an Bevölkerungsmitgliedern mit und ohne Neigung zu Verschwörungstheorien klären.

Bei der einen diagnostischen Ausnahme, die man auch dann schon auf wahnhaft an Verschwörungstheorien Gläubige anwenden könnte, wenn sonst keine weiteren Symptome wie etwa Halluzinationen oder formale Denkstörungen vorlägen, handelt es sich um die wahnhafte Störung [7]. Die jeweilige Verschwörungstheorie müsste dann einem Verfolgungswahn gleichgesetzt werden, der sich jedoch genauso wie auch alle anderen typischen inhaltlichen Ausgestaltungen dieser Störung im Sinne etwa eines Querulanten-, Größen-, Eifersuchts-, Liebes- oder körperbezogenen Wahns immer primär auf das betroffene Individuum und nicht auf gesellschaftliche Ereignisse bezieht. Jeder klinisch bekannte und relevante Wahn hat diese Bezugsrichtung und, wenn man auch die schizophrenen Gedanken-, Willens- und leiblichen Beeinflussungserlebnisse wie in der amerikanischen Psychiatrie als Wahnphänomene auffasst, trifft das noch umso mehr zu. Der schizophrene Erlebniswandel lässt auch am besten erkennen, wie diese eigenbezügliche Ausrichtung zustande kommt. Die stark von der Erwartung abweichenden und deshalb auch hochgradig irritierenden Informationen, die ihn im klinischen Hochrisikostadium vor dem Psychose-Ausbruch in Gang bringen, gehen nämlich aus basalen Störungen der eigenen Wahrnehmungs- und Denkvorgänge hervor [9]. Folgerichtig werden auch die nachfolgenden, sich Schritt für Schritt konkretisierenden Eindrücke der intentionalen Gemachtheit immer eigenbezüglich im Sinne von feindseligen Inszenierungen für, gefahrvollen Kampagnen gegen und schädigenden Eingriffen in die eigene Person erlebt. Wenn es dabei dann am Ende um die Beantwortung der Frage geht, welche Manipulationstechniken eigentlich benutzt werden und wer denn dahintersteckt, dann bieten sich offenbar auch immer wieder die gerade aktuellen Verschwörungstheorien als leicht zugängliche Lieferanten von passenden Erklärungen an.

Es macht also schon gewisse Schwierigkeiten, Verschwörungstheorien auch dann, wenn sie die Wahnkriterien zu erfüllen scheinen, einfach mit einem Verfolgungswahn im Rahmen wahnhafter oder schizophrener Störungen gleichzusetzen. Eher muss man sich ihr Verhältnis zu den wahnbildenden Erkrankungen wohl so vorstellen, dass die Übereinstimmung in der Erlebnisstruktur, im Wahrheitsanspruch und in der Entlastungsfunktion Verschmelzungen ermöglicht, bei denen die jeweils aufgegriffene Verschwörungstheorie die abnormen Bedeutungserlebnisse abschließend konkretisiert. Das führt dann natürlich dazu, dass sich die jeweils angenommenen Machenschaften zeitgenössischer und historischer, irdischer und außerirdischer Drahtzieher im Erleben der Wahnkranken nicht mehr nur in der Virusverbreitung, im Immigranteneinstrom und den vielen anderen gesellschaftlichen Belastungen äußern, sondern sich ganz direkt im Sinne einer drohenden existenziellen Gefährdung auf die eigene Person beziehen. Wer sich so dramatisch unter Druck gesetzt sieht, fühlt sich in einem ganz anderen, viel direkteren, dringenderen und unabweisbareren persönlichen Sinne zur Gegenwehr herausgefordert. Offenbar lässt eben deshalb auch erst diese Verschmelzung mit der Erlebniswelt Wahnkranker die Verschwörungstheorien so richtig im martialischen Sinn gefährlich werden. Beispiele geben die unfassbar blutigen Gewalttaten des Anders Breivik in Oslo, des Timothy Mcveigh in Oklahoma City [3] oder gerade kürzlich auch des Attentäters von Hanau ab, die alle aktuelle Verschwörungstheorien aufgenommen und in ihr krankhaftes Wahnsystem eingebaut hatten. Man muss sich wohl eingestehen, dass es tatsächlich ein sehr unglückliches Verhältnis der Wechselwirkung zwischen Verschwörungstheorien und Wahnkrankheiten gibt. Weder von den Verschwörungstheorien allein, wie aversiv sie auch sein mögen, noch von den Wahnkrankheiten allein, wie bedrückend die Betroffenen ihre Inhalte auch erleben mögen, scheinen in der Regel solche Gefahren für die Gesellschaften auszugehen. Je mehr sich aber aktuell von solchen aversiven Verschwörungstheorien im Umlauf befindet und wie heute durch die sozialen Medien eine noch nie dagewesene Verbreitung erfährt, umso eher werden sie offenbar auch in krankhafte Wahnsysteme eingebaut und fordern die Betroffenen zu gewalttätigen Reaktionen heraus, die sonst überhaupt nicht von ihnen zu erwarten gewesen wären.

Die Antwort auf die Titelfrage kann deshalb nur lauten: „ja“ und „nein“. Nein deshalb, weil zwar mehr psychische Störungen bei den Verschwörungstheorie-Gläubigen als in der Allgemeinbevölkerung zu erwarten sind, man sie in ihrer Art und Häufigkeit aber heute noch nicht hinlänglich kennt. Wahrscheinlich wird es sich eher um Störungen oder auch nur Akzentuierungen der Persönlichkeitsentwicklung handeln als um schizophrene oder andere psychotische Erkrankungen, die zwingend psychiatrisch behandlungsbedürftig sind. Ja deshalb, weil die psychiatrische Perspektive auch ganz unabhängig von solchen Anwendungsmöglichkeiten doch einige Bedeutung für die Gefahreneinschätzung hat. Zum einen lässt die überraschend weitgehende Übereinstimmung mit schizophrenem Wahn besonders deutlich den regressiven und dysfunktionalen Charakter solcher Erklärungsmuster erkennen. Diesen „gesellschaftlichen Wahnsinn“ und seine mediale Verbreitung in Krisenzeiten unter Kontrolle zu bringen, ist eine sehr ernst zu nehmende Aufgabe heutiger Bildungs- und Informationspolitik. Zum zweiten lassen die Berührungspunkte mit dem schizophrenen Wahn auch durchsichtig werden, warum die Verbreitung aversiver Verschwörungstheorien die Bereitschaft Psychose-Kranker zu exzessiven Gewalttaten erhöht. Und diese Gefahr ernst zu nehmen und immer, wenn sie wie heute besonders droht, auch rechtzeitig abzuwenden, das ist dann in der Tat ein klarer Fall für die Früherkennungs- und Frühbehandlungsmöglichkeiten in der Psychiatrie.



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Article published online:
13 October 2020

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  • Literatur

  • 1 Popper K. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Band 2, übersetzt von Paul K. Feyerabend, Bern: Francke 2. Auflage; 1970: S.120
  • 2 Barkun M. The nature of conspiracy belief. In: A Culture of Conspiracy. Apocalyptic Visions in Contemporary America Berkeley: University of California Press 2. Auflage; 2013: S. 1-14
  • 3 Butter M. „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien.. Berlin: Edition Suhrkamp 3. Auflage; 2020: S21-56 , 57–101, 219f
  • 4 Klosterkötter J. Basissymptome und Endphänomene der Schizophrenie.. Eine empirische Untersuchung der psychopathologischen Übergangsreihen zwischen defizitären und produktiven Schizophreniesymptomen.. Berlin Heidelberg New York: Spinger; 1988. S 50-99
  • 5 Brotherton R. Suspicious Minds. Why We Believe Conspiracy Theories. New York: Bloomsbury; 2015. S. 159-179
  • 6 Howes OD, Nour MM. Dopamine and the aberrant salience hypothesis of schizophrenia. World Psychiatry 2016; 15: 3-4
  • 7 American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: (DSM-5) . Washington, DC: American Psychiatric Press; 5th. ed. 2013
  • 8 Hofstadter R. The paranoid style in American politics. In: The Paranoid Style in American Politics and other Essays.. Cambridge: Havard University Press; 1996. S. 3-40
  • 9 Klosterkötter J, Müller H. Prävention schizophrener und anderer psychotischer Störungen. In: Klosterkötter J. Maier W. (Hrsg.) Handbuch Präventive Psychiatrie. Forschung – Lehre – Versorgung.. Stuttgart: Schattauer; 2017. S. 227-283