Was macht die Pandemie mit unserer Seele?
Diese Frage wird unter dem Eindruck der gravierenden gesamtgesellschaftlichen Krisensituation,
die Covid-19 weltweit hervorgerufen hat, inzwischen natürlich immer wieder gestellt.
Was bedeutet es für die seelische Gesundheit, wenn der „Hoffnungspegel“ der Bevölkerung
nach den jüngsten demoskopischen Erhebungen in Deutschland soweit abgesunken ist wie
seit dem katastrophalen Ende des 2. Weltkriegs nicht? Muss nicht allein schon die
tägliche Konfrontation mit der ubiquitären Ansteckungsgefahr und den möglichen Erkrankungs-
oder sogar Todesfolgen Angst und Schrecken verbreiten? Werden die drastischen Einschränkungen
des sozialen Lebens nicht, je länger sie andauern, immer mehr auf die Stimmung drücken
und über Wut und Frust schließlich zu Depressionen führen? Drohen nicht insgesamt
dieselben Belastungsreaktionen und seelischen Traumatisierungen, wie wir sie von lebensgefährlichen
Großereignissen wie Kriegen oder Naturkatastrophen kennen?
Um diese Fragen zutreffend beantworten zu können, macht es sehr viel Sinn, die gegenwärtige
virale Pandemie auch einmal aus dem Blickwinkel der modernen Stressforschung [1] zu betrachten. So gesehen stellt sie dann nämlich in der Tat gar nichts anderes
als einen groß angelegten, der Menschheit von außen aufgezwungenen Stress-Test dar,
dem wir alle einzeln und gemeinsam gleichermaßen unterworfen sind.
Wie man reagiert, hängt weniger von den objektiven Gegebenheiten der Gefährdung und
Einschränkung im jeweiligen eigenen Lebensbereich, als vielmehr von deren subjektiver
Bewertung ab. Wer beispielsweise seine täglichen Belastungen durch die virale Krise
mehr als Herausforderung erlebt, die er unter eigener „internaler“ Kontrolle halten
und selber meistern kann, wird weniger mit Ängsten oder depressiven Verstimmungen
reagieren. Wenn ich mich dagegen etwa Quarantäne-Maßnahmen wie einem von außen aufgezwungenen
„externalen” Schicksal ausgeliefert fühle, erhöht sich mein Risiko, auf diese Belastungen
immer mehr mit „toxischem“, bei langfristiger oder hochfrequenter Exposition auch
tatsächlich krankmachendem Stress zu reagieren [2].
„The Lancet“ hat kürzlich eine Studie zu den Auswirkungen häuslicher Quarantäne auf
die Psyche veröffentlicht, in die Erfahrungen von insgesamt 20.000 Betroffenen eingeflossen
sind. Die Ergebnisse bestätigen noch einmal eindrucksvoll, wie sehr es tatsächlich
auf die eigene kognitive Bewertung der Stress-induzierenden Maßnahmen ankommt. Je
mehr ich über den Sinn der Quarantäne aufgeklärt bin, mir dementsprechend auch selbst
ihre Zielsetzung zu eigen machen und die Maßnahme gewissermaßen als „altruistisch“
motivierte Selbstisolierung verstehen kann, umso eher bleibe ich von den in der Studie
nachgewiesenen posttraumatischen Stresssymptomen verschont [3].
Gut, schnell, aktuell und vor allem richtig informiert zu sein und dies genauso auch
über die ganze Krisenentwicklung hinweg zu bleiben, ist also von ausschlaggebender
Bedeutung. Deshalb kommt ja dem viel beschworenen Krisenmanagement auf allen politischen
Ebenen und auf allen gesellschaftlichen Feldern tatsächlich auch ein so hohes Maß
an Verantwortung für die Akzeptanz der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Belastungen
zu. Optimale Information und Überzeugungsarbeit im medial vermittelten Zusammenspiel
von Experten und Politik können und sollen Einstellungen befördern, aus denen heraus
man sich auch schwerwiegende Einschränkungen zu eigenen Gestaltungsaufgaben macht.
Wem es gelingt, diese innere Haltung einzunehmen und auch unter zunehmender Belastung
weiter beizubehalten, der wird wie von selbst auch zu allen weiteren aktiven Anpassungsleistungen
tendieren, die für die Erhaltung seelischer Gesundheit empfehlenswert sind. Vor allem
Aktivitäten wie den Alltag positiv umzugestalten, sich weiter auszutauschen und einander
zu helfen, gehören zu diesen stressvermindernden Selbstregulationen mit hinzu [4].
Allerdings werden erst längerfristige kontinuierliche Erkundungen des Schutzverhaltens
der Bevölkerung vor SARS-CoV-2, wie sie in Deutschland etwa das sogenannte COSMO-Konsortium
betreibt, Auskunft über das Gelingen oder Scheitern der Stressbewältigung geben können
[5]. Je länger die Krise andauert, umso mehr kommen ja zu der gesundheitlichen Gefährdung
auch noch Belastungen durch häusliche Überforderung, Gewaltausbrüche, Vereinsamung
oder drohende wirtschaftliche Notlagen hinzu. Wer hierauf schließlich mehr und mehr
mit Gefühlen des Ausgeliefertseins reagiert, gerät leicht in eine abgeschlossene Welt
von sich steigernden Sorgen hinein, in der dann in der Tat auch ein erhöhtes Risiko
für die Entwicklung von Angsterkrankungen, depressiven Störungen und Suizidalität
besteht.
Die Herstellung und fortgesetzte Förderung einer eigenverantwortlichen Umgangsmöglichkeit
mit der Krise in der jeweils ganz konkreten Lebenswelt aller mehr oder weniger Stress-empfindlichen
und resilienten Bevölkerungsgruppen ist also sicher das Wichtigste. Man tut aber gut
daran, sie schon vorsorglich auch durch die Schaffung von Beratungs-, Betreuungs-
und Hilfsangeboten für aus eigener Kraft nicht mehr zu bewältigende Stress-Situationen
zu ergänzen. In diesen, so auch in der 3. Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina zur
Corona-Virus-Pandemie [6] geforderten Anlaufstellen kommt es dann aber letztlich auch
sehr stark auf präsenten oder zumindest abrufbaren psychiatrischen Sachverstand an.
Denn es geht ja nicht nur um die Beherrschung der jeweiligen Notsituationen, sondern
vor allem auch um die beiden zentralen Aufgaben präventiver Psychiatrie: Risiken für
psychische Neu- oder Wiedererkrankungen früh zu erkennen und die drohenden Angsterkrankungen,
Depressionen und anderen psychischen Störungen durch geeignete Risiko-adaptierte Maßnahmen
wie Familienberatung, Stressbewältigung und Resilienz-Aufbau rechtzeitig zu verhindern.
Kommen wir also auf die Ausgangsfrage, was die Pandemie mit unserer Seele macht, zurück.
Sie setzt sie zweifellos wie ein massiver Stress-Test unter einen außerordentlich
hohen Belastungsdruck und mindert dementsprechend weitgehend auch unser psychisches
Wohlbefinden. Zu einer Zunahme psychischer Neu- oder Wiedererkrankungen muss es jedoch
auch unter diesen dramatischen Umständen nicht zwingend kommen. Aufklärung und informiertes
Verständnis können selbstregulative Kräfte aktivieren und auch stressempfindliche
Menschen zu ganz ungewöhnlichen Anpassungsleistungen anregen. Außerdem hat sich das
psychiatrische und psychotherapeutische Angebot zur Früherkennung von krankmachendem
Stress und zum Abfangen stressassoziierter Erkrankungen in den letzten 20 Jahren in
Deutschland deutlich verbessert.