Zeitschrift für Phytotherapie 2020; 41(03): 109
DOI: 10.1055/a-1126-9161
Editorial

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

wenn Sie erwartet haben, dass die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift für Phytotherapie mit neuesten Informationen zum Coronavirus Sars-CoV-2 beginnt, muss ich Sie enttäuschen.

Aber Hand aufs Herz – gibt es nicht noch andere wichtige Themenfelder, die an Aktualität und Wichtigkeit nicht minder interessant sind? Ich denke schon, und wenn Sie den Artikel von Hensel / Lechtenberg über Nahrungsergänzungsmittel gelesen haben, sind wir mittendrin in der gegenwärtig heiß diskutierten Thematik „Fake und Wahrheit“ – und damit eben doch in dem Spannungsfeld, das auch im Zusammenhang mit der Virus-Pandemie sichtbar wird. Was und wem kann ich glauben? Welche Informationen sind verlässlich und wo finde ich die? Die freiheitlich demokratische Grundordnung in unserer Gesellschaft lässt dem Einzelnen und Unternehmen einen breiten Spielraum zur Entfaltung, der auch Grauzonen des Erlaubten umfasst. Wie weit das ausgereizt werden darf, ist heute (leider) zu oft erst nach einem Gerichtsurteil erkennbar. Nahrungsergänzungsmittel sind eben keine Arzneimittel, kommen aber für den Laien, oft nicht erkennbar, im Gewand eines Phytotherapeutikums auf den Markt und belügen die Konsumenten, wenn nicht gar Schlimmeres nach der Einnahme passiert. Aber da sind wir bereits bei einem weiteren „hotspot“ der gesellschaftlichen Diskussion – warum boomt der Handel mit vermeintlich preiswerten Nahrungsergänzungsmitteln zulasten qualitativ hochwertiger zugelassener Arzneimittel? Dafür ist nicht allein die epidemisch grassierende „Geiz-ist-geil“-Mentalität verantwortlich, sondern auch der Stellenwert unserer Gesundheit als quasi neue Religion. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ist Gesundheit wirklich das allerwichtigste und ultimative Gut, dem man alles unterordnen muss? Fragt man einen Kranken, so wird er diese Frage wahrscheinlich mit Ja beantworten, aber in dieser Situation ist er voreingenommen. Unsere Gesellschaft muss sich dieser Frage stellen und eine Antwort finden, mit der alle leben können. Der Bundestagspräsident hat diese Frage auch gestellt und ist durch die mediale Öffentlichkeit zurückgepfiffen worden. In der gegenwärtigen Situation sind wir (medial) eben auch voreingenommen. Im konkreten Fall geht es um die Verhinderung von Tumorerkrankungen durch Brokkoli-Extrakte, die als Nahrungsergänzungsmittel beworben werden – ein Artikel, der die Mixtur aus Glaube, Hoffnung, Wahrheit und Lüge wissenschaftlich und unvoreingenommen analysiert – lesen Sie selbst!

Auch ein zweiter Beitrag von D. Stern in diesem Heft beleuchtet ein nicht minder aktuelles Themenfeld, das nur gerade etwas aus dem Fokus geraten ist, die Biodiversität. In diesem Zusammenhang wurde ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag (Nagoya-Protokoll) über einen gerechten Vorteilsausgleich bei Nutzung genetischer Ressourcen, wie Pflanzen zur Arzneimittelherstellung, abgeschlossen. Obwohl Vertragstexte und ihre Interpretation eher eine etwas trockene Angelegenheit sind, lesen Sie diesen Artikel (!), denn er ruft uns ins Bewusstsein, dass auch Arzneipflanzen eine begrenzte Ressource sind. Wir tragen Verantwortung dafür, dass ihre natürlichen Habitate erhalten bleiben (Klimaschutz!) und dass die Menschen, die sie sammeln, kultivieren und „erforscht“ haben, einen gerechten Anteil an dem Gewinn erhalten, der global erwirtschaftet wird. Das gilt insbesondere für Arzneipflanzen, die aus Entwicklungsländern stammen und die durch Raubbau manchmal fast ausgelöscht wurden. Da die indigene Bevölkerung über keine Patente der von ihr seit Jahrhunderten genutzten Arzneipflanzen verfügt, bedienen sich viele Akteure an dieser vermeintlich kostenfreien Ressource. Ist das gerecht? Auch hier ist ein gesellschaftlicher Konsens notwendig, der nur durch wahrhaftige Berichterstattung und Solidarität geschaffen werden kann. Und damit bin ich eigentlich wieder am Ausgangspunkt dieses kurzen Editorials – alle wichtigen Stichworte der bisher etwa 450 Wörter, wie Fake, Wahrheit, Markt, Gesundheit, Solidarität oder gesellschaftlicher Konsens sind immer aktuell und passen zu jeder Thematik, nicht nur zu Corona …

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre und natürlich auch Gesundheit

Matthias F. Melzig



Publication History

Article published online:
25 June 2020

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Stuttgart · New York