Einleitung
Als ich 1978 meine Praxis für Gefäßkrankheiten in Zürich eröffnete war gerade die
Basle Study III über Peripheral Venous Disorders erschienen. Sie war die erste epidemiologische
Untersuchung zur Prävalenz und soziomedizinischen Bedeutung der Venenerkrankungen.
Sie schloss 4529 Angestellte der chemischen Industrie in Basel ein und wurde durch
die Abteilung für Angiologie im Departement Medizin des Universitätsspitals Basel
unter Leitung von LK Widmer durchgeführt. Die Schlussfolgerungen bezüglich der Venenbeschwerden
wurden wie folgt zusammengefasst: „Empfindungen von Spannen, Schwere und Schwellung
(…) sind weit verbreitet in der erwachsenen Bevölkerung. Die betroffenen Menschen
sind durch sie offensichtlich belastet. (…) Dies wird unterstützt durch die Tatsache,
dass die Fragebogenantworten gut reproduzierbar waren und viele Personen Massnahmen
zur Behandlung durchführten. Die Klärung der Ätiologie ist schwierig. Die Beschwerden
waren tatsächlich konzentriert auf Personen mit Varizen und/oder chronisch venöser
Insuffizienz, aber sie kamen auch bei fast der Hälfte der Menschen ohne Venenerkrankung
vor. Bevor irgendeine Behandlung durchgeführt wird, müssen unbedingt nicht venöse
Faktoren (...) und nicht zuletzt psycho-somatische Probleme berücksichtig werden.
Oft erlaubte auch eine eingehende Untersuchung und psychosomatisch orientierte Konversation
keine ätiologische Diagnose und keine kausale Behandlung. (…) Es ist zu hoffen, dass
zukünftige weitere Untersuchungen hilfreich sein werden“.
Meine erste Erfahrung mit Menschen mit venösen Symptomen ohne nachweisbare Erkrankung
der Venen überzeugte mich von der Bedeutung dieser Störung, zumal die Beschwerdeschilderung
einheitlich und glaubhaft war, und fast alle Patienten deutliche Symptome einer Depression
aufwiesen. Ich entschied mich, die Venenbeschwerden als Erkrankung sui generis zu
betrachten, den Begriff Venensymptome (VS) beizubehalten und eigene wissenschaftliche
Untersuchungen zu beginnen. Ich traf in Stefan Kuny, Oberarzt an der Psychiatrischen
Universitätsklinik Zürich, einen begeisterten Kollegen. Er sagte, er hätte im ganzen
Burghölzli, dem Ort der Psychiatrischen Universitätsklinik, niemanden getroffen, welcher
je von Beinbeschwerden etwas gehört hätte. So untersuchte er persönlich, in meiner
Praxis, konsekutive Patientinnen mit C0s in der Form eines semi-strukturierten Interviews
und der Vorlage verschiedener psychiatrischer Fragebogen. Die Psychometrie ergab das
Vorliegen einer Depression bei 84 % der Patientinnen, bei der Hälfte eine schwerwiegende.
Die psychologische Beurteilung zeigte auf der syndromalen Ebene Befunde von Hypochondrie,
Ängstlichkeit, Störung der Vitalgefühle, innerlicher Unruhe, Konzentrationsstörungen,
Insuffizienzgefühlen und Depressivität. Die Nachuntersuchung 3 Jahre später zeigte
die Persistenz dieses Syndroms. Vergleichsuntersuchungen bei Patientinnen mit einer
primären Varikose und bei Patientinnen mit einem Ulcus cruris venosum zeigten kein
solches Syndrom. Eine fachärztliche psychoanalytische Exploration weiterer Patientinnen
mit C0s offenbarte eine Assoziation der Symptome mit lokomotorisch bedingten Behinderungen
und eine Unfähigkeit mancher Frauen, ihre Beine libidinös zu besetzen.
Im Jahr 1994 wurde die CEAP-Klassifikation der Venenerkrankungen publiziert. Die Venenbeschwerden
ohne Venenerkrankung wurden an den Beginn der Diagnoseliste gesetzt und als C0s bezeichnet.
C0 bedeutet, eine Venenerkrankung ist objektiv nicht nachweisbar, das bedeutet, typische
Venensymptome werden angegeben. Die Ergebnisse unserer Forschung bis zu diesem Zeitpunkt
sprachen für die Betrachtung der C0s als eine eigenständige nosologische Einheit.
Weitere klinische Studien schienen aber notwendig und die diagnostischen Möglichkeiten
eines Belastungsversuchs sollten abgeklärt werden. Bei allen diesen Arbeiten war Felix
Amsler, Psychologe, Statistiker und lieber Freund, der wichtigste Berater und Mitarbeiter.
In dem folgenden Bericht sollen die wichtigsten Ergebnisse unserer 30-jährigen Forschung
aufgezeigt und Erklärungsstränge dargestellt werden.
Patientinnen mit C0 s
Das Zusammentragen der Befunde von insgesamt 7 publizierten Studien erlaubte eine
kohärente Charakterisierung der Patienten. Im Vergleich der Patienten in den Gruppen
C2 bis C4 mit den C0s-Patienten waren Frauen viel häufiger betroffen als Männer. Sie
waren jünger und schlanker, hatten einen niedrigeren Puls und Blutdruck, eine bessere
Ausbildung genossen, bekleideten bessere Arbeitsstellen, setzten sich in ihrer Tätigkeit
besonders ein und befürchteten gleichzeitig die Anstellung zu verlieren. Hauptbeschwerden
waren in allen Patientengruppen diffuse Schmerzen und Gefühle von Schwere und Spannung
in den Beinen. Weniger häufig angegebene Symptome betrafen umschriebene Beinschmerzen,
Kribbeln, Krämpfe und Juckreiz. Psychische Phänomene entsprachen vollumfänglich denjenigen,
welche schon Stefan Kuny gefunden hatte, ergänzt von innerer Unruhe und Gefühlen,
davon laufen zu müssen, emotionaler Belastung wegen unerledigter Dinge und besonderem
Interesse an der Meinung anderer.
VS bei Patienten mit unterschiedlich ausgeprägter Erkrankung der Beinvenen
VS bei Patienten mit unterschiedlich ausgeprägter Erkrankung der Beinvenen
In einer prospektiven klinischen Studie wurden Patienten regulärer Sprechstunden von
Venenzentren (Wunstorf, E. Mendoza; Jena, C. Zollmann) in 4 Gruppen eingeteilt: Patienten
mit C0 s, Patienten mit C2 p (Varikose), mit C2 und C3 (Varikose mit Ödem) und mit
C4 (Hautveränderungen bei chronisch-venöser Insuffizienz). Alle Patienten wurden phlebologisch
und mittels Ultraschalls untersucht, füllten Fragebogen aus und führten 2 Stehversuche
durch, einen ohne und einen mit Kompressionstrümpfen. Eine Nachbefragung fand nach
1 Woche statt.
Es fanden sich bei der Eingangsuntersuchung die erwarteten klinischen Unterschiede
zwischen den Schweregraden der Venenerkrankung, aber nur diskrete Unterschiede bezüglich
Art und Ausmaß der Venenbeschwerden. Die Analyse der Beschwerden wurde mit dem Psychic
versus Somatic Venous Disease Questionnaire durchgeführt, welcher in der Bonner Venenstudie
II zur Anwendung kam ([Tab. 1 ]). Es zeigten sich die gleichen unerwarteten Befunde: Der Score der psychischen Komponente
der VS war bei den C0s-Menschen am stärksten ausgeprägt und nahm mit der Schwere der
objektiven Venenerkrankung ab. Die somatische Komponente zeigte keine einheitliche
Abhängigkeit mit der Schwere der Venenerkrankung.
Tab. 1
Personendaten und längerfristig empfundene Venensymptome bei Patienten und Teilnehmern
der epidemiologischen Bonner Venenstudie II. Die Daten von Patienten von 2 Venenkliniken
(Abschnitt A) wurden verglichen mit den Daten der BVS-Teilnehmer, welche VS beklagten
(Abschnitt B), und den Daten der BVS-Teilnehmer, welche keine VS verspürten (Abschnitt
C). Die psychische (PC) und die somatische (SC) Komponente der VS wurden mit dem Psychic
versus Somatic Venous Disease Questionnaire ermittelt (Score 0–3). Die Diagnosen wurden
mittels der CEAP-Klassifikation gruppiert.
C0 s
C2 p
C2 & C3
C4
p
A
n
32
30
35
35
Männer, n (%)
5 (16)
10 (33)
10 (29)
17 (57)
0,007
Frauen, n (%)
27 (84)
20 (67)
25 (71)
13 (43)
Alter, Mittel (SD)
49 (15)
56 (12)
60 (12)
62 (8)
< 0,001
PC, mean (SD)
0,90 (0,39)
0,95 (0,51)
0,75 (0,48)
0,76 (0,4)
0,208
SC, mean (SD)
1,36 (0,69)
1,10 (0,54)
1,19 (0,73)
1,19 (0,73)
0,488
B
n
541
231
190
53
Männer, n (%)
189 (35)
88 (38)
71 (37)
25 (47)
0,328
Frauen, n (%)
352 (65)
143 (62)
119 (63)
28 (53)
Alter, Mittel (SD)
54 (13)
58 (13)
63 (13)
68 (12)
< 0,001
PC, mean (SD)
0,83 (0,54)
0,73 (0,57)
0,74 (0,59)
0,58 (0,55)
0,004
SC, mean (SD)
0,62 (0,68)
0,67 (0,69)
0,90 (0,71)
0,81 (0,71)
< 0,001
C
n
610
184
64
15
Männer, n (%)
320 (52)
78 (48)
34 (53)
10 (67)
0,448
Frauen, n (%)
290 (48)
86 (52)
30 (47)
5 (33)
Alter, Mittel (SD)
49 (14)
55 (13)
60 (14)
66 (12)
< 0,001
PC, mean (SD)
0,77 (0,53)
0,63 (0,52)
0,69 (0,46)
0,25 (0,26)
< 0,001
SC, mean (SD)
0,06 (0,23)
0,09 (0,31)
0,10 (0,28)
0,03 (0,13)
0,268
Bei der Nachuntersuchung waren die Beschwerden in allen Gruppen auf das gleiche niedrige
Niveau reduziert. Dies wurde auf die nach der Konsultation sehr hohe Compliance mit
der Kompressionstherapie zurückgeführt ([Abb. 1 ]).
Abb. 1 Schmerzscore in der Woche vor und in der Woche nach der Konsultation. Eingeschlossen
wurden Patienten, welche in der Woche vor der Konsultation keine MKS und in der Woche
danach regelmässig MKS getragen haben (n = 67).
VS im orthostatischen Stresstest
VS im orthostatischen Stresstest
Der Belastungsversuch mit ruhigem Stehen über 10 Minuten bestätigte bei gesunden Freiwilligen
das Auftreten einer Volumenvermehrung der Beine im Stehen, mit einer ersten schnellen
Phase von etwa 2 Minuten Dauer und einer darauf folgenden langsameren Phase. Die Füllung
der Vena poplitea und der Vena femoralis war in der Duplex-Sonografie nach 15 bis
30 Sekunden abgeschlossen und die Venenklappen verhinderten den Rückfluss. Erstmals
konnten wir zeigen, dass im Stehen gleichzeitig linear zunehmende Beschwerden auftreten.
Die Art der Beschwerden entsprach den typischen Venensymptomen; Kribbeln wurde allerdings
stärker empfunden als die klassischen Symptome. Der Stresstest ergab keinen Unterschied
zwischen den Diagnosegruppen, weder bezüglich der Zunahme der Beinvolumina noch deren
Reduktion durch die Kompression noch bezüglich des Auftretens von Beschwerden, und
keinen statistischen Zusammenhang zwischen den Phänomenen ([Abb. 2 ]).
Abb. 2 Orthostatischer Stresstest. Beschwerden (NRS) nach 10 Minuten ruhigem Stehen ohne
und mit Kompression der Unterschenkel.
Bedeutung der Ergebnisse
Die Gesamtheit der Befunde zeigt, dass die Venenbeschwerden kein diagnostisches Merkmal
für eine Erkrankung der Venen darstellen. Vielmehr dienen sie der Beschreibung von
Zuständen der Beine, welche jeden Menschen betreffen können, mit oder ohne objektivem
Venenproblem. In der Normalbevölkerung gaben 53 % der befragten und untersuchten Menschen
an, solche Beschwerden zu kennen und sich dadurch beeinträchtigt zu fühlen. Die Symptome
charakterisieren ein ubiquitäres physiologisches Phänomen, welches von Menschen mit
einem bestimmten Persönlichkeitsprofil besonders wahrgenommen wird. Das Auftreten
der typischen Beschwerden hängt mit der normalen Funktion der Beinvenen zusammen,
einer Funktion, welche einzig dem Menschen eigen ist, mit seinem aufrechten Gang und
seiner besonderen Weise, sitzend zu arbeiten und zu ruhen. Die Venen der Beine bilden
das dynamische Reservoir für Blut, welches im ruhigen Stehen oder Sitzen in der Zirkulation
nicht gebraucht wird. Bei Bedarf wird das Blut durch Kontraktion der Muskeln, welche
die darin befindlichen Venen in einer von unten nach oben verlaufenden Bewegung komprimieren,
dem Kreislauf wieder zugeführt. Das Blut in den Beinen wird in der Zeit des sich nicht
bewegenden Körpers nicht ersetzt. Die arterielle Zufuhr ist gedrosselt und die Gewebe
der Beine werden weniger versorgt (u. a. mit Sauerstoff und Zucker) und vermindert
entsorgt (u. a. von CO2 und Milchsäure). Es entsteht zunehmend ein Ungleichgewicht des Stoffwechsels, eine
Störung der Homöostase. Diese Situation wird dadurch behoben, dass der Mensch seine
Beine wieder bewegt. Diese Reaktion erfolgt automatisch, situationsgerecht und unbemerkt.
Sie wird durch das Gehirn kontrolliert, wobei die aktuelle Umgebung, die emotionale
Situation, die bestmögliche Gegenreaktion und vieles mehr mit früheren Erfahrungen
abgeglichen wird. So werden Karten und Bilder produziert und im Gedächtnis als Gefühle
gespeichert.
Gefühle
Gefühle sind der höchste Ausdruck der homöostatischen Kontrolle aller Gewebe und dienen
primär der Verhinderung von Schäden und Gefahren und führen im Erfolgsfall zu Erleichterung
und Befriedigung. In der Summe und gepaart mit Affekten bestimmen sie unser Selbst.
Die Erfüllung des biologischen Homöostasegebots garantiert, in Kombination mit Vernunft,
die Qualität unseres Lebens.
VS sind Gefühle der Unzufriedenheit, ausgelöst durch die Störung der Homöostase in
den Beinen. Das Ausmaß dieser negativen Gefühle hängt von objektiven und subjektiven
Bedingungen ab. Sie sind besonders ausgeprägt, wenn die einfachste Gegenmaßnahme,
das Aufstehen und Umhergehen, nicht umgesetzt werden kann. Solche Gefühle können auch
aus der Erinnerung als Befürchtungen auftreten und von gesunden Menschen empfunden
werden ([Tab. 1 ]). Sich häufig wiederholende lokomotorische Behinderungen können durch nachvollziehbare
oder private Trigger auslöst werden. Die Gefühle von Schmerz und die Gefühle von Schwellung
hängen zusammen, wobei sie wechselseitig als Ursache oder Folge verstanden werden.
Daraus entstehen die psychischen Probleme, wie die Neigung zu Somatisierung, Ängstlichkeit,
Insuffizienzgefühle, die Meinung, unattraktive Beine zu haben, die Verminderung der
psychischen Lebensqualität und die Depression. Der gegenseitige Zusammenhang zwischen
den VS und den psychischen Problemen ist den meisten Patientinnen nicht bewusst und
auch den Ärzten nicht. Dabei ist der Leidensdruck der Patienten groß und sie sind
einer spezifischen, psychologisch orientierten Besprechung meistens zugeneigt.
Unsere Untersuchungen zeigen, dass die VS ein Syndrom, eine nosologische Einheit,
bilden und für eigentliche Venenerkrankungen weder Sensitivität noch Spezifität aufweisen.
In der Bevölkerung zeigen die VS und die Venenerkrankungen eine sehr hohe Prävalenz,
sodass sie auch häufig gleichzeitig vorkommen. Das Kausalitätsbedürfnis bringt die
beiden zusammen. Ihm zu folgen missachtet die wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse,
was grundsätzlich zu bedauern ist, beinhaltet aber auch das konkrete Risiko von ungeeigneter
Aufklärung und Versagen der Behandlung mit Frustration von Patienten und Therapeut,
Verstärkung der Symptome und mannigfaltigen weiteren Konsequenzen. Der Begriff Venenbeschwerden
ist traditionell, wird in allen Sprachregionen seit Jahrzehnten verwendet und ist
nicht einfach falsch. Allerdings sollten sich Arzt und Patient bewusst sein, dass
VS zur Beschreibung unterschiedlicher klinischer Probleme mit unterschiedlichem Stellenwert
verwendet werden und eine differenzierte Behandlung nahelegen. Vereinfachend wirkt
die Tatsache, dass die Prophylaxe und Therapie mit leichten Kompressionsstrümpfen
und eine situative Anwendung in den meisten Fällen hilfreich und ausreichend sind
([Abb. 1 ]).
Die Interpretation der VS als beinbezogene Gefühle, im Sinne von neuropsychologischen
Leistungen zur Sicherung der Homöostase und Steuerung der Triebe, ist vergleichbar
mit der Steuerung von Hunger, Durst und Verlangen nach Salz. Die Regulation der Homöostase
der Beine ist allerdings kompliziert, weil es sich um ein spezifisch den Menschen
betreffendes Problem handelt, welches nicht nur verschiedene Bereiche der Physiologie
betrifft, sondern auch eine wichtige psychische Dimension aufweist. Die Erklärung
der Natur der Venensymptome als durchaus bekannte Gefühle mit 2 Aspekten und nicht
unbedingt als Ausdruck von Krankheit wird die Erwartung der „Venenpatienten“ erfüllen.
Literatur beim Verfasser