Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88(03): 210-219
DOI: 10.1055/a-1118-6276
Verbandsmitteilungen

Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft Nr. 38 (2020)

Rainer-M.E Jacobi

100 Jahre Wolfgang Jacob

18. September 1919 – 6. April 1994

Hier soll eines philosophischen Arztes gedacht werden, der zwar ein reichliches halbes Jahr vor Gründung unserer Gesellschaft verstarb, aber dennoch als eine der wirkmächtigsten Gründerfiguren betrachtet werden darf. Deutlich wird dies an der maßgeblichen Mitwirkung an all jenen kleineren und größeren Veranstaltungen, die zur Vorgeschichte der Gründung gehören.[ 1 ] Den Auftakt hierfür gab das Colloquium „Gestaltkreis versus Systemtheorie“ am 6. und 7. Dezember 1991 im ehemaligen Kloster Hude bei Oldenburg. Dorthin lud der Kulturphilosoph Rudolf Prinz zur Lippe Mitarbeiter am Editionsvorhaben der „Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers“ und weitere Kenner und Interessenten des Weizsäckerschen Werkes ein, um gemeinsam mit dem chilenischen Neurobiologen und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturana den Stellenwert des Gestaltkreises angesichts neuerer wissenschaftstheoretischer Konzepte zu diskutieren. So wurden die von Prinz zur Lippe im Jahr zuvor begründeten „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ zum Ort eines intensiven Nachdenkens über Wert und Nutzen der Begriffe und Konzepte Viktor von Weizsäckers. Als Vorbild diente jenes berühmte Gespräch, das Alfred Prinz Auersperg 1966 in Grünwald mit Ludwig von Bertalanffy führte.[ 2 ]

Im Zentrum stand ein Grundsatzreferat des Heidelberger Sozialpathologen Wolfgang Jacob, mit dem er die aktuellen Überlegungen von Humberto Maturana und Francisco J. Varela kritisch kommentierte, um dann einen Überblick zur Lehre vom Gestaltkreis zu geben. Dieser begann nicht mit dem allzu häufig zitierten ersten Satz des Vorwortes, sondern mit dem ersten Satz der Einführung: „Wir betrachten hier die Bewegung lebender Wesen, nicht die Bewegung beliebiger oder nur gedachter Körper im raumzeitlichen Systeme.“[ 3 ] Und damit geriet dieses Referat auch ins Zentrum des Jacobschen Denkens jener Jahre. Kennzeichnend hierfür sind der im Herbst 1989 anlässlich eines Symposiums zum 90. Geburtstag des Prinzen Auersperg vorausgegangene Vortrag zum „Phänomen des Personalen in Goethes Biologie“[ 4 ] und zwei weitere Vorträge des Jahres 1992. Hier handelte es sich bereits um Veranstaltungen, die in der Tradition der Huder Gespräche standen und das Denken Weizsäckers in unterschiedlichsten wissenschaftlichen und kulturellen Kontexten erprobten.[ 5 ] Jacobs Beiträge galten der Frage nach „Kunst als Therapie“ und dem Verhältnis von „Gestaltkreis und Komplementarität“ – womit der Horizont der Jacobschen Bemühungen zum Vorschein kommt: Weizsäckers Lehre vom Gestaltkreis einerseits ideengeschichtlich mit Goethes Naturphilosophie zu verbinden und sie andererseits hin zu zeitgenössischen Ansätzen, wie Kunsttherapie oder Komplementarität zu öffnen.

Genau dieser Horizont war es dann, der den Rahmen abgab für ein Colloquium, das auf Einladung der „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ vom 22. bis 24. Oktober 1993 unter dem Titel „Zur (Nicht-) Aktualität des Denkens Viktor von Weizsäckers“ im Haus des Berliner Neurologen Dieter Janz stattfand. Neben Prinz zur Lippe und Wolfgang Jacob waren es u. a. der Heidelberger Philosoph Reiner Wiehl, der Hamburger Wissenschaftspolitiker Walter Schindler und der Göttinger Biochemiker Friedrich Cramer, die in Vorträgen und intensiven Diskussionen ausgewählte Denkformen und Begriffe des Weizsäckerschen Werks mit Rücksicht auf die aktuelle Situation in den Wissenschaften und der Medizin kritisch zu reflektieren suchten.[ 6 ] Im Ergebnis dieser Gespräche kam es zur allseits geteilten Überzeugung, dass es gerade mit Blick auf das Selbstverständnis moderner Medizin von Nutzen sei, eine Viktor von Weizsäcker Gesellschaft zu begründen. Dies geschah dann wiederum in Verbindung mit den „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ am 11. Dezember 1994 in Hannover.

Auch wenn Wolfgang Jacob dieses verborgene Ziel seiner lebenslangen Bemühungen nicht mehr erleben konnte, gab er der neugegründeten Gesellschaft gleichwohl sein Vermächtnis mit auf den Weg. Zu seinem Gedenken versammelten sich letztmalig die von ihm begründeten „Brannenburger Seminare“, um gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für Kunst, Gestaltung und Therapie am 7. Januar 1995 im Kreise enger Weggefährten seinen großartigen Beitrag zur Rezeption des Weizsäckerschen Werkes zu würdigen.[ 7 ] Das seinerzeitige Geleitwort des theologischen Freundes Dietrich Ritschl sei hier erstmals veröffentlicht. Im weiteren Fortgang folgen Erinnerungen des Bonner Medizinhistorikers Heinz Schott, des Mainzer Philosophen Stephan Grätzel und des Kleeberger Arztes Karl Benedikt von Moreau.


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Publication History

Article published online:
31 March 2020

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